Fischer | Richard Wagner und seine Wirkung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Fischer Richard Wagner und seine Wirkung


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-552-07213-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-552-07213-8
Verlag: Zsolnay, Paul
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Richard Wagner kommt nicht zur Ruhe. Noch immer ist nicht klar, welche Rolle seine Nachkommen auf dem Hügel in Bayreuth spielen sollen, noch immer ist man sich in Israel uneinig über die Frage, ob seine Musik dort aufgeführt werden darf oder nicht. Richard Wagners Wirkung: Darunter fällt etwa die Frage, wie man seinem Anspruch auf Erneuerung der Oper in der Gegenwart gerecht wird, darunter fällt aber auch die Frage, wie man die Begeisterung für Wagners Werk mit dessen Antisemitismus in Einklang bringt. Zum 200. Geburtstag am 22. Mai 2013 legt der Wagner-Kenner Jens Malte Fischer einen Band vor, der Wagners Wirkung auf unterschiedlichen Ebenen bis heute nachverfolgt.
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Wagners Wirkung bedenkend   Während diese Zeilen geschrieben werden, ist gerade wieder einmal der periodisch aufflammende Streit um die Musik Wagners in Israel zu einem sehr vorläufigen Ende gekommen. Der Streit schwelt nicht etwa erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern bereits seit dem 12.11.1938, also drei Tage nach dem in Deutschland stattfindenden Pogrom vom 9. November 1938, der sogenannten »Reichskristallnacht«, als das Palestine Symphony Orchestra, das unter der Leitung Arturo Toscaninis ein Konzert mit dem Meistersinger-Vorspiel angesetzt hatte, dies wieder absetzte und durch Webers Oberon-Ouvertüre ersetzte, ausdrücklich als Reaktion auf den deutschen Pogrom. Ganz radikal war diese Maßnahme jedoch nicht, denn noch im Februar 1939 spielte das gleiche Orchester bei einem Gastspiel in Kairo und Alexandria Orchesterstücke Wagners. Nach dem Ende des Krieges wurden Richard Strauss und Franz Lehár in den Boykott miteinbezogen, dann auch Carl Orff, Strauss wegen seiner willfährigen und opportunistischen Haltung im »Dritten Reich«, Carl Orff aus den gleichen Gründen, wie auch Lehár, letzterer auch wegen der unbezweifelbaren Tatsache, daß Hitler neben Werken Wagners vor allem die Lustige Witwe schätzte. Im April 1953 setzte der große Geiger Jascha Heifetz es durch, daß er in Israel die frühe Violinsonate von Richard Strauss spielen konnte, wurde aber deswegen körperlich attackiert. Als erster Dirigent hat dann Zubin Mehta, Ehrendirigent des Israel Philharmonic Orchestra (Nachfolger des Palestine Symphony Orchestra), mehrfach versucht, zunächst Strauss und dann auch Wagner auf die Programme zu setzen. Schließlich gelang ihm dies auch im Oktober 1981 mit Vorspiel und Liebestod aus Tristan und Isolde – wenn immer wieder behauptet wird, der Boykott sei nie durchbrochen worden, so stimmt das seit diesem Datum nicht mehr. Allerdings wurde dieses als Zugabe gespielte Orchesterstück von heftigen Protesten begleitet. Mehta hatte den Vor- und Nachteil zugleich, kein Jude und kein Staatsbürger Israels zu sein; Daniel Barenboim ist beides, war aber dennoch oder deswegen immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt, wenn er (zuerst 1991) Wagner aufs Programm setzte oder als Zugabe ankündigte, mit dem Hinweis, jeder, der das nicht hören wolle, könne den Saal ja verlassen. Und gerade jetzt ist ein neuer Versuch des 2010 vom Rechtsanwalt Jonathan Livny gegründeten ersten israelischen Wagner-Verbandes gescheitert, in Tel Aviv ein Konzert durchzuführen, das (dies wäre eine Neuerung gewesen) ausschließlich Werken Wagners gewidmet sein sollte. Der Boykott von Strauss, Lehár und Orff ist quasi stillschweigend seit etwa zwanzig Jahren aufgehoben, der gegen Wagner gilt nach wie vor; die aktuelle Auseinandersetzung hat gezeigt, wie virulent die Angelegenheit, die dann immer auch international heftig diskutiert wird, nach wie vor ist. Es fällt leicht, auf die Inkongruenzen der Sache hinzuweisen. Das Argument, solange Opfer der Shoah noch lebten, dürfe man Wagner nicht spielen, ist doch recht verquer. Sollen die zuständigen Stellen Buch darüber führen, wann der letzte Shoahüberlebende das Zeitliche segnet, und dann anregen, eine Wagner-Festwoche zu veranstalten? Wenn das Argument standhält, dann ist es mit diesem Datum nicht obsolet geworden, sondern müßte von den Kindern der Überlebenden übernommen werden. Jedoch ist klar: Niemand wird in Israel gezwungen, Wagner zu hören. Wer ein Werk des Komponisten auf dem Programm findet, muß das Konzert nicht besuchen, wer erst im Konzert hört, daß es als Zugabe gespielt wird, kann, siehe Barenboim, den Saal verlassen. Aber darum geht es den Protestierenden nicht: Sie bleiben im Saal und protestieren so laut, daß eine Aufführung Wagners schwierig wird. Von einer gewissen Unlogik zeugt auch, daß Werke Wagners in Israel über private TV-Kanäle in Opernaufführungen gesehen werden können, daß DVDs und CDs mit Wagners Musik gekauft werden können. Ebenso kann das Argument nicht ausgehebelt werden, daß in Israel Autos der Marken VW, Mercedes-Benz und BMW sich erheblicher Beliebtheit erfreuen, alles Autohersteller, die auf enge Weise mit dem »Dritten Reich« verbunden waren, von ihm (beziehungsweise von Zwangsarbeitern) profitiert haben. Selten wird darauf hingewiesen, daß die Marke Ford ebenfalls tabu sein müßte, denn von Henry Ford stammt ein berüchtigtes antisemitisches Pamphlet The International Jew, immerhin in vier Bänden (basierend auf einer Reihe von Zeitungsartikeln) in den zwanziger Jahren publiziert, und wenn auch die Texte wohl nicht von ihm persönlich verfaßt wurden, erschienen sie unter seinem Namen, ganz davon abgesehen, daß auch Ford vor dem Krieg für das »Dritte Reich« LKWs und Kettenfahrzeuge produzierte, was Henry Ford mit einem NS-Orden vergolten wurde. Es gibt also genug Anlaß für einen israelischen Staatsbürger, sich auch beim Autokauf vorzusehen. Aber das alles entlastet Richard Wagner nicht und auch nicht die Tatsache, daß seine Musik in den Lagern eher selten gespielt wurde, daß Beethoven und Bruckner im »Dritten Reich« bei offiziellen Anlässen und im Rundfunk viel häufiger ertönten als Wagner und daß der einzige wirkliche fanatische Wagnerianer in der Führungsclique der Nazis Adolf Hitler war, während andere ein nur laues Verhältnis zu Wagner hatten, manchmal sogar eher ein ablehnendes (wie Alfred Rosenberg). Es ist wahrlich zu verstehen, wenn Juden in aller Welt, speziell israelische Staatsbürger, die Musik Wagners nicht hören wollen (bis weit ins 20. Jahrhundert gehörte das jüdische Bildungsbürgertum in Mitteleuropa zu den begeistertsten Anhängern Wagners). Ein Boykott, eine Tabuisierung ist jedoch nicht der richtige Weg, sich damit auseinanderzusetzen, ist vor allem bei einem Welt-Komponisten dieser Berühmtheit ridikül. Man sollte Wagner spielen, aufführen, ansehen, hören, wenn man denn will, sich aber dabei bewußt bleiben, welcher Ideologie dieser große Komponist Wort und Stimme geliehen hat. Wagner war ein in der Wolle gefärbter Antisemit, das wird heute nicht mehr bestritten. Strittig ist nach wie vor, erstens, wie gewichtig der Wagnersche Antisemitismus war, und zweitens, ob Spuren davon im musikdramatischen Werk selbst zu finden sind. Die erstere Frage beantworten inzwischen die meisten seriösen Experten mit der Erkenntnis, daß der Wagnersche Antisemitismus über das um die Mitte des 19. Jahrhunderts »Übliche« deutlich hinausging und sich in den folgenden Jahrzehnten von Wagners Leben eher noch verschärfte. Die neuerdings immer wieder aufgewärmte These, daß Cosima Wagner die eigentliche Antisemitin war und den schwachen Gatten bei diesem Thema am Nasenring herumführte, kann in das Reich der Fabeln und Entlastungsstrategien verwiesen werden. Der Autor kann sich allerdings durchaus noch an Zeiten erinnern, in denen der Wagnersche Antisemitismus und seine tiefgreifende Wirkung heruntergespielt und deutlich verharmlost wurde, wenn er denn überhaupt ein Thema war. Seit Hartmut Zelinskys epochaler Dokumentation Richard Wagner – ein deutsches Thema ist das nicht mehr möglich.1 Der Autor selbst hat sich ausführlich mit Wagners in diesem Zusammenhang zentraler Schrift Das Judentum in der Musik beschäftigt.2 Aus guten Gründen spielt daher das Thema auch in diesem Buch eine wichtige Rolle. Der zweite Punkt ist der sehr viel heiklere. Mit der festen und unumstößlichen Ansicht, daß Spuren der zentralen ideologischen Besessenheit Wagners auch in seinen Werken aufzuspüren sind, befindet sich der Autor, wie er immer wieder merkt, in einer Minderheitsposition, aber keineswegs allein. Die Angelegenheit ist dermaßen kompliziert, daß die folgenden Bemerkungen notgedrungen fragmentarisch bleiben, ja unzulänglich wirken müssen. Die einzige ausführliche monographische Untersuchung dazu ist bisher die des amerikanischen Germanisten Marc A. Weiner.3 Weiners Buch wurde heftig kritisiert, dennoch ist der Autor der Meinung, daß Weiner weitgehend recht hat, auch wenn er in einigen Punkten zu Übertreibungen neigt, unnötige Zuspitzungen bevorzugt, auch über sein Ziel hinausschießt. Nicht zu bestreiten bleibt, daß er beträchtlichen Scharfsinn aufgewandt hat, um Licht in ein Gestrüpp von Halb- und Ganzwahrheiten, vor allem aber von Leugnungen und Verharmlosungen zu bringen. Das Problem ist, daß Wagner-Interpreten, Regisseure wie Dirigenten vor allem, Wissenschaftler, aber auch »simple« Wagner-Liebhaber es zwar aushalten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ihr Heros antisemitische Ansichten von einiger Radikalität geäußert hat. Sie wollen aber nicht anerkennen, daß diese seine Ansichten Spuren in seinem Bühnen- und kompositorischen Werk hinterlassen haben, weil sie dann ja vor der Alternative stünden, entweder ihrer Liebe zu diesem Werk abzusagen oder diese aufrechtzuerhalten in vollem Bewußtsein dieses Sachverhaltes (Marc A. Weiner gehört übrigens zu dieser letzteren Gruppe). Auch der Autor ist der Meinung, daß es diese Spuren gibt. Das Problem, diese Spuren heute kenntlich zu machen, auf sie hinzuweisen, besteht darin, daß der antisemitische Code der Zeit Richard Wagners heute in dieser Konsistenz nicht mehr zur Verfügung steht, jedenfalls nicht in zivilisierten Gesellschaften – dazu haben die Ereignisse des 20. Jahrhunderts geführt. Wagner selbst konnte noch damit rechnen, daß versteckte, augenzwinkernde Anspielungen musikalischer wie szenischer Art von seinen Zeitgenossen, Juden wie...


Fischer, Jens Malte
Jens Malte Fischer, 1943 geboren, studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Geschichte und war Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München. Bei Zsolnay sind erschienen:  Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siècle (2000); Gustav Mahler. Der fremde Vertraute (2003); Vom Wunderwerk der Oper (2007) und Richard Wagner und seine Wirkung (2013). 2020 erschien die Biografie Karl Kraus. Der Widersprecher, für die er mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde.



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