E-Book, Deutsch, Band 8, 251 Seiten
Reihe: Lila Ziegler
Flebbe Am Boden
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-89425-710-1
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lila Zieglers achter Fall
E-Book, Deutsch, Band 8, 251 Seiten
Reihe: Lila Ziegler
ISBN: 978-3-89425-710-1
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lila Zieglers persönlichster Fall
Der Student Jonas steht in Verdacht, einem Freund beim ›Roofing‹ einen tödlichen Stoß versetzt zu haben. Bei dem zweifelhaften Trendsport geht es darum, sich beim Klettern in schwindelerregender Höhe filmen zu lassen. Privatdetektivin Lila Ziegler und ihren Partner Ben Danner geht der Fall unerwartet nahe.
Zugleich erklärt Lila ihrem Vater den Krieg: Sie stellt sich endlich ihren eigenen Problemen und zeigt ihn wegen häuslicher Gewalt an. Sie ahnt nicht, was sie damit auslöst …
Eine Geschichte, die die Leser sprachlos zurücklässt!
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Meine Hände zitterten. Es gelang mir nicht, sie ruhig zu halten. Genauso wenig schaffte ich es, meinen Blick von der Frau an der Flurwand gegenüber zu lösen. Sie hatte ein blaues Auge und ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Eine Plakatwerbung gegen häusliche Gewalt. Mir wurde übel davon. Ich schlage dich tot, das ist ein Versprechen. Ich hörte die Stimme in meinem Kopf, als stünde er neben mir. Ein orangefarbenes Buch tauchte in meinen Erinnerungen auf. Ich nehme ein paar lose Zettel und werfe sie auf das Buch, damit die Signalfarbe meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich lenkt. Das Gesicht der Plakatfrau kippte zur Seite und drehte sich kopfüber. Ich stützte die Stirn in die Hände. War nur eine Frage der Zeit, bis ich kotzen musste. Ohne Vorwarnung kracht die Hand auf meinen Kopf, mein Gesicht schlägt auf das Matheheft. »Du warst seit zwei Wochen nicht beim Religionsunterricht, Liliana?« An den Haaren reißt er mich hoch. Eine Sekunde lang bin ich sicher, skalpiert zu werden. Ich presste die Handballen gegen meine Schläfen und krallte meine Fingernägel so fest in meine Kopfhaut, dass sie bläuliche, mondsichelförmige Abdrücke verursachten. Aber die Erinnerungen ließen sich nicht mehr stoppen. Sie stürzten auf mich ein, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über mir ausgekippt. Was zum Teufel tat ich hier eigentlich? Mein Name ist Lila, ich bin zwanzig Jahre alt und ich habe den Verstand verloren. Ich musste hier raus! Den Griff auf meinem Oberschenkel spürte ich, weil er unangenehm wurde. Ich hob den Kopf und warf einen Blick auf Danners Hand, die mein Bein zusammendrückte. Weil mein Freund ein ärmelloses schwarzes Shirt trug, war nicht zu übersehen, dass er seine Ober- und Unterarme regelmäßig mithilfe nicht zu kleiner Hanteln aufpumpte. Genauso offensichtlich war er eine Ecke älter als ich und mit Glatze und Dreitagebart versprühte er mal wieder Türstehercharme. Beim lustigen Beruferaten konnte man leicht annehmen, dass er für zweifelhafte Inkassounternehmen als Geldeintreiber unterwegs war. Hier auf dem kahlen Flur des Polizeipräsidiums gingen wohl die meisten Leute, die Danner und mich in der Abteilung für Gewaltprävention und Opferschutz warten sahen, davon aus, dass er die Ursache für mein leichenbleiches Gesicht war. Danner schob seine kräftigen Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln zwischen meine. Seine warme Haut ließ meine kaltschweißige Handinnenfläche kribbeln. »Frau Ziegler?« Eine Beamtin hatte den Kopf aus einer Bürotür gesteckt. Ich starrte unsere ineinander verschränkten Hände an. Zwischen Danners Fingern wirkten meine eigenen dünner und weißer, als sie tatsächlich waren, fand ich. Danner drückte erneut zu: »Na los.« Lieber zog ich mich splitternackt aus und ließ das Video vor dem Sonntagabendtatort senden. »Kommen Sie rein, Frau Ziegler.« Die Polizeibeamtin deutete einladend auf die offen stehende Bürotür. Halt den Mund oder ich breche dir das Genick. Versprochen. Halt endlich die Fresse! Ich lasse mir nicht drohen! Von niemandem, kapiert? Ich straffte die Schultern und erhob mich. 2. Ich will meinen Vater anzeigen. Seit ich diesen Satz gesagt hatte, hörte mein Gehirn nicht auf, die Worte in einer Endlosschleife zu wiederholen, wie eine Schallplatte, die an dieser Stelle einen tiefen Kratzer abbekommen hatte. Ich will meinen Vater anzeigen. Das Karussell meiner Gedanken war mir außer Kontrolle geraten, die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand nicht mehr. Die altmodischen Tische und Stühle um mich herum, die rot karierten Decken, die Topfpflanzen und der polierte Tresen traten in den Hintergrund und verschwammen. Als würde morgens um sieben ein Raumschiff über Bochum-Stahlhausen schweben und mich aus Molles gemütlich-schmuddeliger Kneipe herausbeamen. Der Krieg war erklärt. Es war höchste Zeit gewesen. Seit Danner mir ins Gesicht gesagt hatte, dass ich ein Opfer häuslicher Gewalt war, hatte das Wissen, dass ich meinen Vater ungestraft davonkommen ließ, an meinem Ego genagt. Nun würde mein Vater in seiner Wut vermutlich ganz Bochum in Schutt und Asche legen. Die Polizistin hatte ihren fahrbaren Drehstuhl um den Schreibtisch herumgerollt und mich erwartungsvoll angesehen. Ich hatte die langen Ärmel meines dünnen, dunklen Shirts über meine Hände gezupft. Ich erinnere mich an einen Schädelbasisbruch mit sechs, drei Rippenbrüche mit zehn, den rechten Arm mit zwölf, zwei Rippen mit dreizehn, den Kiefer mit fünfzehn. Ich hatte bemerkt, dass Danner mich anstarrte, und innegehalten. Klar hatte er in dem Dreivierteljahr, in dem wir mittlerweile miteinander schliefen, geschnallt, dass meinem Vater oft die Hand ausgerutscht war. Ins Detail zu gehen, hatte ich jedoch vermieden. Weil ich nämlich auf keinen Fall wollte, dass Danner mich auf genau diese Weise ansah. Wie einen Welpen, dem nach der Rettung aus dem Tierlabor ein Bein fehlte. Vor zwei Jahren musste der Kiefer noch mal nachgeschraubt werden, hatte ich dann doch weiter berichtet. Außerdem … Ich hatte Luft geholt. … außerdem habe ich das Gefühl, dass ich mich an einiges gar nicht erinnern kann. Das war die Untertreibung des Tages gewesen. Die Lücken fraßen sich durch mein Gedächtnis wie schwarze Löcher durchs Universum. Sie hatten keinen Anfang und kein Ende, und wenn ich mich zu dicht an ihren Rand wagte, würden sie mich einsaugen und verschlucken. Dass ich meinem eigenen Erinnerungsvermögen nicht vertrauen konnte, beunruhigte mich am meisten. Einige Dinge aus meiner Vergangenheit hatten sich eingebrannt, als hätte jemand glühende Zigarettenstummel in den Windungen meines Gehirns ausgedrückt. Zum Beispiel die Worte, die der Arzt hinter der angelehnten Tür zu meiner Mutter gesagt hatte, als ich mit sechs mit dem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Entdecken wir beim Röntgen etwas Auffälliges, müssen wir ein CT vom Schädel Ihrer Tochter machen, Frau Simanowski-Ziegler. Wir haben ihr vorsichtshalber schon mal etwas zur Beruhigung gegeben, denn die Injektion von Kontrastmittel ist bei so kleinen Kindern erfahrungsgemäß schwierig. Im schlimmsten Fall müssen wir rasch eine Notoperation veranlassen. Bei einer starken Blutung oder Schwellung des Gehirns wird ein Stück Schädeldecke entfernt, um der betroffenen Region Platz zu verschaffen. Andererseits konnte ich nicht ansatzweise schätzen, wie oft mein Vater zugeschlagen hatte. Einmal pro Woche? Einmal im Monat? Täglich? Die Gedankenfetzen verengten sich auf aufeinandergepressten Kiefern und einer geballten Faust. Keine Ahnung, wie oft ich im Krankenhaus gewesen war. Die Knochenbrüche konnte ich einigermaßen aufzählen. Die Gehirnerschütterungen? Keine Chance. Und dann gab es noch Bilder, die ich überhaupt nicht zuordnen konnte. Meine Mutter liegt auf dem Bauch. Bewegungslos. Auf den hellen Fliesen der Küche. Ihr blondes Haar verdeckt ihr Gesicht. Ich wage nicht, sie zu berühren. Ob mein Vater meine Mutter ebenfalls geschlagen hatte? Erinnern konnte ich mich nicht daran. Vielleicht war sie auch besoffen umgekippt. Oder hatte ich die Szene am Ende bloß geträumt? Wie konnte es sein, dass ich das nicht wusste? Das kann vorkommen bei Opfern häuslicher Gewalt, hatte die Polizistin mich beruhigt. Na klasse. Seit ich in Bochum war, kam mir mein altes Leben weit weg vor. Wie ein verblassender Albtraum an diesem sonnigen Julimorgen. Doch die Narbe an meinem Kinn warnte mich davor, die Wut meines Vaters zu unterschätzen. Die Polizistin hatte von ihrem Protokoll aufgesehen. Wie heißt Ihr Vater? »Lila? Alles okay?« Molles gutmütige, brummige Stimme holte mich zurück an den Tisch an der Theke in der Kneipe in Bochum-Stahlhausen. »Sorry.« Ich konzentrierte mich auf die Wollfransen der alten Tischdecke zwischen meinen Fingern, den Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee, die kalten Fliesen unter meinen nackten Füßen. Ich zwang mich zurück in unsere Kneipe und drängelte die Polizistin aus meinem Kopf. »War in Gedanken.« »Du hast alles richtig gemacht, Schätzchen.« Molle strich mir durch die blonden Haarfransen, während er seinen Bauch an mir vorbeiquetschte. Seine wuschelige, kleine Promenadenmischung Mücke wuselte hinter ihm her. Der Wirt stellte eine fleckige Kaffeekanne auf den Tisch. »War allerhöchste Zeit, den Mistkerl anzuzeigen.« Erst jetzt merkte ich, wie verkrampft mein Nacken war. Ich versuchte, locker zu lassen, wusste aber plötzlich nicht mehr, wie das ging. Ich zwang mich, den dicken Kneipenwirt anzusehen. Wie immer trug er eine schmuddelige Schürze, die Stoppeln an seinem Kinn waren zu einem grauen Bart gewachsen, er musste sich seit Wochen nicht mehr rasiert haben. Und weil der gleichfarbige Haarkranz um seine Glatze herum mittlerweile bis auf seine Schultern herunterfusselte, trug er neuerdings Zopf. Mit der halbmondförmigen Lesebrille auf der knubbeligen Nase erinnerte er an den Weihnachtsmann nach einer durchzechten Nacht. Normalerweise hatte Molle die gleiche Wirkung auf mich wie eine Tasse Entspannungstee. Heute nicht. Molle entging das nicht, er verfügte über verlässliche Antennen. »Schiss brauchst du nicht zu haben«, munterte er mich auf. »Immerhin pennt zwischen dir und der Wohnungstür ein Kriminalkommissar als Wachhund auf dem Sofa.« Möglicherweise war das einer der...