E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Flessner Frankengold
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86913-797-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-86913-797-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2 Body Talks. 100 Jahre BH Eine Stunde hatte ihm sein Vater gewährt. Eine Stunde, um sich die neue Sonderausstellung im Museum für Kommunikation anzusehen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Nicht bei den BHs, sondern bei der Zeitvorgabe. Eine Stunde. Hin- und Rückfahrt inklusive. Dennoch hatte Johannes Gundermann nicht lange überlegt, sondern war in die Lessingstraße gefahren. Es war ja kein böser Wille, sein Vater spürte längst seine Jahre, litt unter Arthritis. Es kostete ihn viel Kraft, hinter dem Tresen zu stehen. Gundermann fand einen Parkplatz, bezahlte den Eintritt und ging die Treppe hinauf den BHs entgegen. Aber nicht wegen der BHs, sondern um der Stunde willen, die er der elterlichen Apotheke entfliehen konnte. Zwar war er auch dort mit dem Ausstellungsthema konfrontiert (erst am Vormittag hatte er eine Milchpumpe verkauft), aber hier hatte es nichts mit dem Geschäft zu tun. Außerdem hatte er noch nie eine Sonderausstellung verpasst. Nicht, dass Gundermann die Apotheke hasste. Sie hatte sich nur nicht als die Arbeitswelt erwiesen, die er sich erhofft hatte. Sie war die Welt seiner Kindheit, die Welt seiner Eltern, die Welt seiner Vorfahren, von denen einer, Ägidius Immanuel Gundermann, dessen Herkunftsspuren nicht mehr zu ermitteln waren, die Apotheke anno 1778 gegründet hatte. Und nicht nur das, er hatte damit auch, ohne es zu ahnen, der Familie Gundermann eine Last auferlegt, die von Generation zu Generation angewachsen und nun an Johannes weitergereicht worden war. Er konnte sich noch bestens an jenen Tag erinnern, an dem er aus der Schule mit der Frage des Berufswunsches nach Hause gekommen war. Dort hatte er von seinen Eltern erfahren, dass sie diese im Unterricht ausgiebig diskutierte Frage längst für ihn beantwortet hatten. Zweifel an dieser Selbstverständlichkeit, eines Tages die traditionsbeladene Apotheke zu übernehmen, waren ihm erst kurz vor dem Abitur gekommen. Mehrmals hatte er daraufhin die Idee in den elterlichen Wohnraum gestellt, eventuell Geschichte studieren zu wollen. Alles hätten seine Eltern damals akzeptiert. Oder fast alles. Aber auf keinen Fall ein anderes Studium als Pharmazie. Dabei war es dann geblieben. Irgendwie hatte ihm der Wille zum Widerstand gefehlt, nicht aber der erforderliche Notendurchschnitt. Noch dazu war er ein ausgezeichneter Mnemotechniker, ein echtes Naturtalent. Mühelos und fast nebenbei konnte er Zahlenkolonnen, Gedichte oder Vokabeln auswendig lernen. Das Studium war also keine wirkliche Herausforderung gewesen, die Semester waren vorbeigeflogen, ohne ihn zu bedrängen. Hätten sie es getan, hätte es vielleicht doch noch zum Widerstand gereicht. Bedrängt fühlte er sich erst später, als er sich Tag für Tag hinter dem Tresen wiederfand, um im weißen Kittel, auf den sein Vater bestand, Hämorrhoidensalbe und Betablocker zu verkaufen. Es war die Gleichförmigkeit, die Ununterscheidbarkeit dieser Tage, die ihm mit den Jahren zu schaffen machte. In seiner Erinnerung verklebte die Zeit hinterm Tresen mehr und mehr zu einem grauen Brei, in dem er zu versinken drohte. Nein, die Apotheke in der Libaviusstraße war nicht seine Welt, sondern die seiner Eltern. Sie war lediglich sein Arbeitsplatz. Mit gleichgültiger Miene schlenderte Gundermann an den Körbchen, Trägern und Spitzen vorbei, doch die erhoffte Ablenkung stellte sich nicht ein, der Verkaufstresen hielt sich in seinem Kopf. Vielleicht lag es an der dumpfen Sommerhitze, die immer unerträglicher wurde. Um den Schalter doch noch umzulegen, konzentrierte er sich minutenlang auf einen hellblauen Bügel-BH älterer Machart mit Körbchengröße L. Ohne Erfolg. Auch ein trägerloser, roter Bandeau-BH zeigte keine Wirkung. Gundermann zog nur die Blicke anderer Besucher auf sich, die ihm sogar folgten, als er der Sonderausstellung den Rücken kehrte. Unschlüssig setzte er seine kleine Flucht fort und überließ den vertrauten Räumen des Museums die Wegfindung. Die Exponate waren ohnehin alte Bekannte, denen er schon viele Besuche abgestattet hatte. Vor einem Klappenschrank legte er eine Pause ein, bevor er sich den Telefonapparaten zuwandte, von denen einige, was ihr Alter betraf, bequem mit dem Bügel-BH konkurrieren konnten. Durch die Entwicklung der Mobiltelefonie wirkten die klobigen Apparate mit ihren knochenförmigen Hörern und schwergängigen Wählscheiben noch antiquierter, als sie es ohnehin schon waren. An das graue Wählscheibentelefon von der Bundespost, das seinen Vater früher so oft aus dem Schlaf geholt hatte, konnte er sich noch gut erinnern. Ebenso an sein erstes Handy, ein brikettgroßes, brikettfarbenes, brikettschweres Modell von Siemens, dessen Antenne ihm gleich am ersten Tag abgebrochen war. Das war doch noch gar nicht so lange her? Der graue Brei stellte wieder einmal seine Macht unter Beweis. Während Gundermann die Jahre zählte, erreichte er das Koaxialkabel. Ein kleines Stück nur, aber ein wirklich altes. Aus den 1930er-Jahren. Er ließ das Vermessen der Zeit ruhen, sah bewusst hin und stand vor einer leeren Vitrine. Das etwa dreißig Zentimeter lange und armdicke Kabelstück war nicht an seinem Platz. Ein sauber herausgeschnittenes Loch in der Scheibe ließ nur einen Schluss zu. Nicht ein Mitarbeiter des Museums hatte das Kabelstück entfernt, sondern jemand, der einen Glasschneider hatte einsetzen müssen, um sich Zugang zu verschaffen. Gundermann ging in die Knie, um das kreisrunde, fußballgroße Loch näher zu betrachten. Es war so perfekt, dass er es kaum für möglich gehalten hätte. So etwas gab es sonst nur in Krimis. Nicht ein Splitter lag auf dem Boden oder in der Vitrine. Vom ausgeschnittenen Glasstück fehlte jede Spur. Ebenso vorsichtig wie fasziniert berührte er mit den Fingern die Schnittkante, tastete sich langsam durch die Rundung. »He, Sie? Was machen Sie da?« Gundermann fuhr zusammen. Erst nachdem er sich erhoben hatte, spürte er seinen rechten Zeigefinger, der einen etwa einen Zentimeter langen Schnitt aufwies. Bluttropfen schlugen lautlos auf den Boden auf. Ein heftiger Schmerz breitete sich aus. »Auch das noch!«, schimpfte Gundermann. »Was Sie hier machen?« Der Mann, ein ihm unbekannter Mitarbeiter des Museums, etwa Ende vierzig, fast kahl, fixierte abwechselnd die leere Vitrine und Gundermann. »Ich versuche, die Blutung zu stillen«, antwortete der Apotheker und presste ein Papiertaschentuch auf den Schnitt. »Das sehen Sie doch!« »Das habe ich Sie nicht gefragt!« »Wenn Sie das Loch meinen, das habe ich gerade entdeckt. Und wie Sie sehen, hat jemand das Kabelstück entwendet«, lenkte Gundermann ein, der wiederum abwechselnd den Mann und seinen Zeigefinger fixierte. Ein schmales Namensschild wies ihn als P. Singer aus. »Das sehe ich selbst! Geben Sie es her! Sofort!« »Ich? Wieso …?« »Ja, Sie. Oder sehen Sie hier noch jemanden, den ich in flagranti erwischt habe? Falls Sie wissen, was das heißt? Also her damit!« »Moment mal!« Gundermann wurde sich erst jetzt seiner Lage bewusst, während sein Zeigefinger pochte. »Ich habe das Kabel nicht entwendet! Ich habe den Diebstahl entdeckt! Abgesehen von der Tatsache, dass man so ein Kabelstück nicht einfach in die Hosentasche stecken kann.« »Dann haben Sie es einem Komplizen übergeben«, konterte der Wärter unnachgiebig, der einen halben Kopf kleiner war als Gundermann und ihn mit biestiger Miene anstarrte. »Und was sollte der damit machen?« »Was weiß ich? Bei E-Bay versteigern. Sie kommen jetzt mit. Die Museumsleitung wird sich um alles Weitere kümmern. Eine Anzeige ist Ihnen jedenfalls sicher.« Der Wärter wollte gerade seine Hand auf Gundermanns Arm legen, als ein weiterer Mitarbeiter des Museums erschien, offenbar von der lauten Stimme seines Kollegen angelockt. Es war ein Mann in Gundermanns Alter, also etwa vierzig, der mit fragendem Blick auf ihn zueilte. »Was ist hier denn los …? Johannes …? Hast du dich verletzt?« »Ja, hab ich, Rainer! Noch dazu will mich dein Kollege verhaften und einsperren lassen.« Der Neuzugang reichte Gundermann zur Begrüßung die linke Hand und betrachtete kurz den Finger der rechten. »Sieht schlimm aus. Wie ist denn das passiert?« »Dieser Mann hat ein Ausstellungsstück gestohlen«, meldete sich der kleine Wärter mit lauter Stimme zu Wort. »Das Kabelstück. Dazu hat er ein Loch in das Glas geschnitten. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt.« »Haben Sie nicht!«, wehrte sich Gundermann. Rainer inspizierte kurz das Loch und schüttelte den Kopf. »Paul. Das ist Johannes Gundermann, der beste Apotheker Nürnbergs und immer wieder gern gesehener Besucher unseres Museums. Er sammelt Briefmarken und Münzen, befasst sich mit Regionalgeschichte und trinkt ab und zu mit mir ein Glas Wein. Aber eines macht er garantiert nicht, nämlich stehlen.« Singer kniff die Augen zusammen und widersprach seinem Kollegen wortlos. »Und wenn du ihn hier noch länger verdächtigst, ist der wahre Dieb inzwischen auf dem Weg nach Brasilien! Informier bitte die Chefin! Ich kümmere mich um Johannes.« Der Mann rührte sich nicht. »Jetzt geh schon! Ich verbürge mich für ihn!«, half Rainer nach. Langsam und sichtlich gekränkt drehte Singer sich um und schlich den Gang hinauf. »Um die Ecke ist ein Verbandskasten«, sagte Rainer. »Bin gleich zurück.« Nachdem Gundermanns Finger versorgt worden war, wischten sie noch schnell mit einer Mullbinde das Blut vom Boden. Einer Besucherin entfuhr ein Schrei, als sie unvermittelt in die Szene...