E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Fox Die furchtlose Mrs. Mandelbaum
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96121-845-5
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Aufstieg und Fall einer berühmt-berüchtigten Frau im New York der Gangs und Ganoven
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-96121-845-5
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Jahr 1850 erreicht die 25-jährige Fredericka Mandelbaum aus Kassel wie Zigtausende andere bettelarm und nur mit dem Traum von einem besseren Leben im Gepäck das gelobte New York. In den Straßen von Lower Manhattan schlägt sie sich anfangs als Hausiererin durch – 20 Jahre später ist Fredericka »Marm« Mandelbaum geschätztes Mitglied der New Yorker High Society. Wie hat sie es in dieser Zeit zu einer der einflussreichsten Frauen der Stadt gebracht?
Margalit Fox zeichnet ein lebendiges Porträt einer außergewöhnlichen Frau, die sich mit Diebstahl, Raub und Hehlerei ein Imperium aufgebaut hat, an dessen Spitze sie als Drahtzieherin stand. Als eine der ersten »Unternehmerinnen« Amerikas führte sie einen Kader der gewieftesten Bankräuber, Einbrecher und Ladendiebe ihrer Zeit, organisierte die Logistik und Lieferketten – und schuf so mit organisierter Kriminalität ein rentables Business. Doch ihre Machenschaften flogen auf und sie wurde festgenommen. Ihre Freilassung gegen Kaution nutzte sie, um nach Kanada zu fliehen.
Dieses Buch erzählt die atemberaubende wahre Geschichte vom Aufstieg und Fall einer furchtlosen Frau im New York des Gilded Age. Margalit Fox nimmt uns mit in eine Stadt der Gangs, voller ruchloser Schurken, Gauner und Opportunisten auf der Grenze zwischen der Unterwelt und legalem Business, in der eine junge deutsche Auswandererin zu Reichtum und Berühmtheit fand.
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Vorwort: Eine schillernde Schar
New York, 22. Juli 1884 Diese Detektive hatten ja schon einiges gesehen, aber Diebesgut in einem Umfang wie hier war ihnen noch nie untergekommen.1 Es hatte eine Zeit gedauert, bis der Safe geöffnet war. Nachdem sie das Textilwarengeschäft an der Lower East Side in Manhattan gestürmt hatten, verlangten sie von der Ladenbesitzerin, Fredericka Mandelbaum, die Herausgabe der Safeschlüssel. Aber Mrs Mandelbaum, eine hochgewachsene Frau von 59 Jahren, die elegante Diamant-Ohrhänger trug und ein spitzenbesetztes Gewand mit blauen Tupfen2, dachte nicht im Mindesten daran, dieser Aufforderung nachzukommen: »Nein«, erklärte sie auf Englisch mit schwerem deutschen Akzent.3 »Kommt gar nicht infrage!«4 Angesichts ihrer Weigerung sahen sich die Detektive, Mitarbeiter der legendären Agentur Pinkerton, gezwungen, den Safe aufzubrechen. Sie ließen einen Schmied holen, der mit Hammer und Meißel ans Werk ging.5 Mitten unter den metallisch dröhnenden Schlägen kam ein hübsches Mädchen im Teenageralter gelaufen – Mrs Mandelbaums Tochter Annie.6 »Halt!«, rief Annie.7 Sie händigte den Detektiven die Schlüssel aus, und schon schwang die Safetür auf und gab den Blick frei auf Kostbarkeiten, die Aladins Schatzkammer alle Ehre gemacht hätten.8 Juwelen und Schmuck aller Art lagen hier verwahrt: Ringe, Ketten, Krawattennadeln, Armreifen, glitzernde Manschettenknöpfe und Kragenknöpfe – »beinahe jede Art von Schmuck, die man sich vorstellen kann«, erinnert sich einer der Detektive.9 Daneben »Berge von goldenen Uhren«10 sowie Uhrwerke und -gehäuse, die sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen waren. Und feinstes Tafelsilber, ja sogar lose Diamanten, groß wie Erbsen.11 An den Laden schlossen sich, der Zutritt versperrt durch ein Metallgitter, verborgene Hinterzimmer an, die durch Geheimgänge mit der Außenwelt verbunden waren. In diesen Räumen entdeckten die Detektive unbezahlbare antike Möbel, eine Truhe, randvoll gefüllt mit Tuch aus feinstem Kaschmir, Vorhängen aus exquisiter Spitze und ballenweise Seide. Letztere hatte allein einen Wert von mehreren Tausend Dollar.12 Versteckt unter Zeitungen lagen Goldbarren aus eingeschmolzenem Schmuck.13 Oben, in Mrs Mandelbaums elegantem Schlafzimmer, fanden sich Waagen für Gold und Edelsteine sowie Schmelztiegel.14 Sie und eine Angestellte wurden auf der Stelle verhaftet. Damit war den Pinkerton-Detektiven, die im Auftrag des Staatsanwalts von New York handelten, auf einen Schlag gelungen, was die Polizeikräfte von New York15 in mehr als 20 Jahren nicht geschafft hatten.16 »Dieses Mal hat man Sie erwischt, und das Beste, was Sie tun können, ist, reinen Tisch zu machen«, riet Gustave Frank, einer der Pinkerton-Detektive, Mrs Mandelbaum, während man sie wegbrachte.17 Fredericka Mandelbaum – eine aufrechte Witwe, Wohltäterin und Synagogenbesucherin, hingebungsvolle Mutter von vier Kindern und Chefin des berüchtigtsten Verbrechersyndikates der USA – drehte sich um und versetzte dem Mann einen Faustschlag ins Gesicht.18 25 Jahre lang dauerte die Herrschaft von Fredericka Mandelbaum, einer der berüchtigtsten Unterweltgestalten Amerikas. Von ihrem Büro in dem unscheinbaren Textilwarenladen leitete sie ein mehrere Millionen Dollar schweres Unternehmen, das sich zunächst auf den Diebstahl von Luxusgütern spezialisierte. Die Diversifikation auf Bankraub erfolgte später. Ihr Imperium gründete sie Mitte des 19. Jahrhunderts – lange bevor man in den USA von organisiertem Verbrechen sprach. Es erstreckte sich über das ganze Land und über seine Grenzen hinaus.19 1884 nannte die New-York Times20 sie »Kern und Mittelpunkt des organisierten Verbrechens in New-York«.21 Eine Bildmontage, die Mrs Mandelbaums unrechtmäßig erworbene Schätze zeigt, die Razzia in ihrem Laden sowie das anschließende Gerichtsdrama. Bildmaterial aus der National Police Gazette von 1884, einem Skandalblatt vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Marm Mandelbaum, wie sie genannt wurde, wurde in vielen Vierteln der Stadt verehrt ob ihrer bodenständigen, beeindruckenden, diamantenfunkelnden Präsenz: Selfmade-Unternehmerin, gütige Wohltäterin, Mentorin von Dieben und großzügige Gastgeberin für die feine Gesellschaft, die sich kaum die Mühe machte, ihre illegale Geschäftstätigkeit zu verbergen. Ein großer Teil der Öffentlichkeit bewunderte sie. Viele Kriminelle verehrten sie geradezu. Im Laufe ihrer ebenso langen wie einträglichen Karriere verbrachte sie kaum je einen Tag hinter Gittern.22 »Zweifelsohne«, schreibt ein Kriminologe im 20. Jahrhundert, »ist es ›Ma‹ Mandelbaum, die in der Literatur der Kriminologie den Ehrenplatz für Tatkraft, Präsenz und persönliches Charisma einnimmt.«23 Für Mrs Mandelbaum war der Handel mit dem Eigentum anderer Leute einfach nur ein unglaublich lukratives Geschäft: Ihr Netzwerk aus Dieben und Hehlern soll sich über die ganzen Vereinigten Staaten erstreckt haben, bis nach Mexiko hinein und – so hieß es – sogar nach Europa.24 Bei ihrem Tod 1894 hatte sie ein Privatvermögen25 von mindestens einer halben Million Dollar angehäuft. (Manche gehen sogar von einer Million aus.)26 Was in heutiger Kaufkraft einem Betrag zwischen 14 und 28 Millionen Dollar entspricht.27 Der New Yorker Polizeichef Washington Walling28, der sie gut kannte, erinnert sich: »Ihr Geschäft war so weit verzweigt und ihr Instinkt als Helfershelferin von Kriminellen so genial, dass bei einem Seidendiebstahl in St. Louis, bei dem die Diebe zu ›Marm Baum‹ gehörten, sie immer die erste Wahl hatte, was die Beute anging.«29 Während ihrer Glanzzeit und auch noch einige Jahre hinterher war Marm eine sagenumwobene Gestalt, die in Zeitschriften porträtiert wurde, in den Cartoons der Zeitungen und in mehr als einem Bühnenstück.30 Die Welt zollte ihrem kriminellen Talent eine gewisse widerwillige Bewunderung. Die Geschichte ihres Endes wurde dagegen hinterher mit einiger Selbstgefälligkeit erzählt.31 Aber trotz ihres damaligen Ruhmes ist Ma Mandelbaum heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ein nur zu häufiges Schicksal geschichtsträchtiger Frauen. In den Büchern über die Geschichte New Yorks wird Mrs Mandelbaum zwar gelegentlich erwähnt32, aber es gibt nur wenige tiefer gehende Untersuchungen zu ihrem Leben und Werk.33 Marm hat uns keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen: Da sie alles andere als dumm war, wusste sie nur zu gut, dass dies professioneller Selbstmord gewesen wäre. Oder wie Polizeichef Walling meint: »Sie war gewitzt und vorsichtig, methodisch von ihrem Naturell her und sehr präzise in ihrer Wortwahl … geradezu furchteinflößend.«34 Allerdings ist ihre Laufbahn durch zahlreiche Quellen dokumentiert, nicht nur durch die Nachrichtenblätter jener Tage, sondern auch durch die Erinnerungen ihrer Zeitgenossen auf beiden Seiten des Gesetzes. Und so lässt sich ihr Bild aus der glitzernden Stadt des 19. Jahrhunderts wieder zum Leben erwecken – der gefürchtete Stern eines urbanen Schelmenromans, in dem Taschendiebe, Gelegenheitsdiebe, Bankräuber und großtönende Rechtsverdreher die Hauptrollen spielen. Und ihre schillernde Präsenz ist zugleich ein Spiegelbild dieses New York: eine offene Stadt, die sich durch das »Flash Age«35 schlug, eine Zeit, in der ein besonders betuchter Politiker das Mantra prägte, das so vielen New Yorkern zum Motto werden sollte: »Ich habe meine Chance gesehen und sie beim Schopf gepackt.«36 Wenn man im 21. Jahrhundert in den USA über das »organisierte Verbrechen« spricht, dann denkt man meist an die Zeit der Prohibition, an das »Knarren-und-Knoblauch«-Gangstertum37 aus Filmen wie Scarface und The Untouchables.38 Tatsächlich aber wurde der Begriff in den Vereinigten Staaten erstmals in den 1890er-Jahren verwendet39, und wie Mrs Mandelbaums Karriere verdeutlicht, war diese Form der Kriminalität schon vorher ein Problem, in Europa sogar noch früher.40 Anders als das organisierte Verbrechen des Maschinenpistolenzeitalters operierte Fredericka Mandelbaums Geschäftszweig kaum mit Gewalt. Sie war von Anfang an Spezialistin für Eigentumsdelikte, denn sie erwarb eine Fülle von gestohlenen Luxusgütern, um sie umzuarbeiten und mit Gewinn weiterzuverkaufen. Ihr Aufstieg begann in den späten 1850ern, aber sie erwarb sich schnell einen guten Ruf als Ankäuferin kriminell erworbener Güter – als »fence«, wie man die Hehler im Allgemeinen nannte. Natürlich hatte es schon vor Marm Mandelbaum Vertreter des Schattenhandels gegeben, und...