Buch, Deutsch, 328 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 218 mm, Gewicht: 454 g
Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, 328 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 218 mm, Gewicht: 454 g
ISBN: 978-3-593-38212-8
Verlag: Campus Verlag GmbH
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Inhalt
Einleitung
Grenzen und Grenzräume: Erfahrungen und Konstruktionen
Etienne François/Jörg Seifarth/Bernhard Struck 7
Deutschlands Grenzen: innen und außen
Territoriale Grenze, konfessionelle Differenz und soziale Abgrenzung
Das Eichsfeld im 17. und 18. Jahrhundert
Christophe Duhamelle 33
Die äußeren Grenzen des Heiligen Römischen Reichs
Wahrnehmung und Repräsenationen in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts
Claire Gantet 53
Vom offenen Raum zum nationalen Territorium
Wahrnehmung, Erfindung und Historizität von Grenzen in der
deutschen Reiseliteratur über Polen und Frankreich um 1800
Bernhard Struck 77
Grenzräume: Ost und West
Von Staatsgrenzen zu nationalen Grenzen
Daniel Nordman 107
Vereinendes und Trennendes
Grenzen und ihre Wahrnehmung in Lothringen und
preußischer Rheinprovinz, 1815-1914
Stephanie Schlesier 135
(Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben: Grenzen in den Köpfen
Das Saarland zwischen Krieg und Volksabstimmung in den ersten
Jahren der "Besatzungszeit"
Nicolas Beaupré 163
Grenzen und Ökonomie
Eine Untersuchung am Beispiel Deutschlands und Polens, 1885-1934
Nikolaus Wolf 183
Masuren als "Bollwerk"
Konstruktion von Grenze und Grenzregion
Von der Wilhelminischen Ostmarkenpolitik zum
NS-Grenzland- und Volkstumskampf, 1894-1945
Andreas Kossert 211
Grenzziehungen: Literatur und Wissenschaft
Geschichtskultur und Territorialität
Historisches und räumliches Bewusstsein im
deutsch-polnischen Grenzraum im 19. und 20. Jahrhundert
Thomas Serrier 243
Die Grenzen der Experten
Zur Bedeutung der Grenzen in deutsch-französischen Geographien
des frühen 19. Jahrhunderts
Iris Schröder 267
Die Grenzen der deutschen Nation
Raum der Karte, Statistik, Erzählung
Morgane Labbé 293
Autorinnen und Autoren 321
Leseprobe:
Grenzen und Grenzräume haben ihre Zeiten und Konjunkturen. Dass territorial- beziehungsweise nationalstaatliche Grenzen immer wieder, gerade im deutsch-französischen und deutsch-polnischen Kontext, verschoben wurden, ist bereits kursorisch ausgeführt worden. Diese Verschiebungen von territorialen Grenzen, sei es durch Krieg oder Diplomatie, lassen sich auf Karten abbilden, die jedoch immer eine Komplexitätsreduktion darstellen. Gerade die Vereinfachung von Grenzverläufen auf Karten, das Herstellen von Karten und die Zirkulation von Kartenwissen zielt auf die Etablierung, Abgrenzung und Kontrolle von territorialen Grenzen, wie Morgane Labbé in ihrem Beitrag ausführt.
Die Verschiebung einer territorialen oder nationalstaatlichen Grenze meint jedoch nur die Demarkationslinie zwischen zwei ähnlich organisierten politischen und gesellschaftlichen Gebilden. Es handelt sich dabei um Staatsgrenzen als "Maximalpunkte durchsetzbarer Jurisdiktions- und Souveränitätsansprüche", markiert "durch Hoheitssymbole und Organe staatlicher Machtpräsenz". Der Akt der Grenzziehung durch eine rechtsförmige Übereinkunft zwischen Staaten sagt jedoch noch nichts über die im neuen Grenzraum gelebte Grenze, ihre Wahrnehmung oder die sich entlang einer Grenze ausbildenden Identitäten aus. Denn in ihrer Komplexität und Polyvalenz durchlaufen Grenzen, verstanden als territorialstaatliche, aber auch ökonomische, konfessionelle, ethnische, soziale oder kulturelle, oft sehr verschiedene, entgegengesetzte Phasen und Rhythmen.
In Anlehnung an Fernand Braudels Konzept der drei Geschwindigkeiten der Geschichte, unterteilt in histoire immobile, histoire conjoncturelle und histoire événementionelle, lassen sich auch für Grenzen und Grenztypen unterschiedliche Zeiten konstatieren. Als immobil können natürliche im Sinne von geographischen Grenzen wie die Alpen, der Ural, die Donau oder der Rhein gelten. Einer konjunkturellen Grenze von mittlerer Dauer können ökonomische, konfessionelle oder soziale Grenzen entsprechen. Der ereignishaften Grenze entsprechen die oben für den deutsch-französischen und deutsch-polnischen Kontext genannten, durch Krieg oder Diplomatie verschobenen territorialen Grenzen. In der Regel folgt auf die neue Grenzziehung die Übertragung von Recht, Verwaltung und Administration. Die Tatsache, dass auf eine Grenzverschiebung wie die Annexion der linksrheinischen Gebiete während der Revolution oder die Übernahme der polnischen Territorien durch Brandenburg-Preußen durch die Teilungen eine neue Rechtsordnung und Verwaltung folgten, sagt noch wenig über die Akzeptanz, die Erfahrung oder die Wahrnehmung der juristisch-administrativen Grenzverschiebung aus. Denn oft braucht die Durchsetzung von Recht und Verwaltung Zeit, so dass es zu Spannungen zwischen den Geschwindigkeiten von Grenzen beziehungsweise Rhythmen der verschiedenen Grenzformen kommen kann.
Für die Forschung zu Grenzen und Grenzräumen erscheint gerade die Spannung zwischen den unterschiedlichen Rhythmen und Zeiten der Grenzen von Interesse. Ein Beispiel bietet die deutsch-französische Grenze während der Französischen Revolution. Während die Staatsgrenze in dieser Zeit zu einer Grenze wurde, die dazu führte, dass weitaus weniger Reisende von Deutschland nach Frankreich reisten - zum einen aufgrund der realen Gefahren und durch den Terror, zum anderen aufgrund einer Verdichtung der Grenze durch Kontrolle und Regulierung von Migration durch Passwesen und Staatsbürgerschaft -, schwächte sich die Bedeutung der Grenze auf kulturellem Gebiet eher ab. Jedenfalls lassen sich so die Forschungen zur "deutsch-französischen Übersetzungsbibliothek" interpretieren, die trotz - oder gerade wegen - der zunehmenden Feindschaft und des fast permanenten Krieges ein deutliches Ansteigen der Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche und damit eine verstärkte Zirkulation von Wissen und wachsenden Kulturtransfer über die Grenze hinweg bezeugen. Anders formuliert: Während sich die Staatsgrenze konjunkturell, dem Terror und den Kriegen folgend, verdichtete - jedoch spätestens nach 1815 wieder durchlässiger wurde - verflachte die kulturelle, wobei es sich um eine asymmetrische Grenze handelte, da der Fluss der Übersetzungen von Frankreich nach Deutschland sehr viel größer war als in entgegengesetzter Richtung.