Frayn Willkommen auf Skios
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-24063-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-24063-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Nikki schlenderte über das grüne Gelände der Stiftung, spazierte die gewundenen Pfade über die Hügel hinauf und hinab, blickte auf die Bucht und die hochgetürmten Sommerwolken hinaus. Das Licht wurde weicher, während der Nachmittag in den Abend überging. Ein Hauch von Gold lag in der Luft. Sie liebte diesen Ort. Alles war so im Einklang mit sich selbst, so fein ausbalanciert wie das Werk einer guten Uhr oder die Natur selbst. Das Netz aus Leitungen und Sprinklern, das alles zum Ergrünen brachte, war dezent verborgen. Ebenso der Geldfluss, der die Sprinkler in Betrieb hielt. Es war eine vollständige Welt, ein Miniaturmodell der europäischen Zivilisation, die zu befördern es ins Leben gerufen worden war, und sie spürte nahezu, wie es auf ihrer Handfläche stand und sein Uhrwerk leise arbeitete. Das einzige Rädchen der Maschinerie, das ein bisschen klemmte, das die Uhr ein bisschen ungenau gehen ließ, verbarg sich hinter den geschlossenen Fensterläden von Empedokles, dem Haus hoch oben über allen anderen, in dem sich der ausgemergelte und schwächelnde Direktor versteckte. Aber vielleicht nicht mehr lange … Aus den Fischerhütten am Strand, in denen keine Fischer mehr wohnten, aus den Suiten in den Bungalows, die zwischen den Bäumen auf der zur Stiftung gehörenden Landzunge versteckt waren, aus Leukippos und Anaximander, aus Xenokles, Theodektes, Menandros, Aristophanes und Antiphanes strömten mehr und mehr Gäste der Hausparty auf der Suche nach Speisen und Getränken. Zwei Stunden waren vergangen, seitdem sie zum letztenmal gefüttert und mit Drinks versorgt worden waren. Sie stellte sich vor, sie würde alles zum erstenmal sehen, so wie es Dr. Wilfred bald sehen würde. Wie würde er es empfinden, verglichen mit all den anderen Stiftungen und Instituten auf der Welt, in denen er gesprochen hatte? Sie stellte ihn sich an ihrer Seite vor, wie er sich beifällig umsah und zuhörte, während sie ihm alles erklärte. Vielleicht war er ein sympathischerer Mensch, als sie gedacht hatte, während sie seinen Lebenslauf umschrieb. Er war es, sie spürte es. Er war jemand, mit dem man reden konnte. »Die meisten unserer Gäste sind aus den Vereinigten Staaten«, hörte sie sich zu ihm sagen, ihre Worte so unhörbar, wie er unsichtbar war. »Sie sind natürlich alle schrecklich reich, sonst wären sie nicht hier. Aber sie sind auch fürchterlich nett, sonst würden sie sich nicht für das interessieren, was wir tun.« Sie winkte einem ältlichen lächelnden Paar mit Apfelbäckchen zu. »Hallo!« rief sie. »Oh, Nikki, Liebes«, rief die Frau, »wir fühlen uns so wohl! Das haben wir natürlich Ihnen zu verdanken! Und wir wissen, dass Sie uns morgen einen Leckerbissen servieren werden!« »Mr. und Mrs. Chuck Friendly«, murmelte Nikki dem körperlosen Leckerbissen neben sich zu. »Soweit ich weiß, sind sie das zweitreichste Paar im Staat Rhode Island. Seitdem es die Hausparty gibt, kommen sie jedes Jahr nach Skios. Süß! Die meisten Gäste sind Paare, andere hoffen, eins zu werden, also Vorsicht!« Zwei Männer schlenderten nachdenklich in dem Schatten, den der Tempel der Athene warf. Einer nahm die Pfeife aus dem Mund und hob sie ihr entgegen wie ein Glas Wein, der andere grüßte mit gefalteten Händen. »Alf Persson«, erklärte sie Dr. Wilfred, »der schwedische Theologe. In der theologischen Welt ist er, glaube ich, ziemlich bekannt. Und V. J. D. Chaudhury, die große Autorität für komparative Unterentwicklung. Zwei unserer embedded Intellektuellen. Wie Sie sehen, sind Sie nicht der einzige berühmte Gast!« Sie gingen über die antike Agora, auf der Männer Tische, vergoldete Stühle, Teppiche und Leinenballen von elektrischen Lieferwagen luden. »Dieser Steinboden ist dreitausend Jahre alt«, ermahnte sie den Vorarbeiter. »Sorgen Sie dafür, dass die Teppiche ausgelegt sind, bevor irgend etwas aus Metall den Boden berührt.« An Dr. Wilfred gewandt fügte sie bescheiden hinzu: »Mein Griechisch ist auch nach fünf Jahren noch immer etwas rudimentär … Oh, und da ist noch einer unserer embedded Intellektuellen.« Sie winkte einem jungen Mann zu, der niedergeschlagen aus einem Fenster von Epiktet blickte. »Wie ich ein Brite. Chris Binns, unser Writer-in-residence … Chris, würden Sie mir einen Gefallen tun? Morgen, wenn nach dem Vortrag Fragen gestellt werden dürfen und niemand der erste sein will, wollen wir kein schreckliches Schweigen. Werden Sie sich eine Frage überlegen?« »Eine Frage?« sagte Chris Binns. Er schien das Wort noch nie gehört zu haben. »Irgend etwas«, sagte Nikki. »Zu seiner Arbeit. Wie es mit den Aussichten internationaler Kontrolle steht. Was immer. Ihnen wird schon was einfallen. Sie sind Schriftsteller. Um den Ball ins Rollen zu bringen … Nach dem Vortrag. Sie kommen morgen doch zu dem Vortrag?« »Klar«, sagte Chris. »Natürlich. Absolut.« »Er ist so in seine Arbeit vertieft!« flüsterte Nikki Dr. Wilfred zu, als sie ihren Weg fortsetzten. »Er wusste nicht mal, dass Sie morgen einen Vortrag halten werden.« »Vielleicht vergisst er bei Ihrem Anblick alles andere«, stellte sie sich vor, dass Dr. Wilfred sagte. Sie lachte. »Aber, aber!« sagte sie. Er war charmanter, als sie angenommen hatte. Und jetzt war er auch um einiges jünger und schlanker geworden. »O Gott, Nikki«, sagte eine ältere Dame, die sich mit einem kleinen, mit Eau de Cologne getränkten Spitzentaschentuch die Stirn betupfte, als sie in der Nähe des Aphrodite-Brunnens an ihr vorbeikamen, »Sie sehen immer aus, als wären Sie gerade einer Deo-Werbung entsprungen. Ich weiß nicht, wie Sie das machen.« »Ich denke erfrischende Gedanken, Mrs. Comax«, sagte Nikki. Die erfrischenden Gedanken bestanden darin, dass sie für das Funktionieren der Stiftung auf ebenso dezente Weise notwendig war wie das Wasser in den vergrabenen Leitungen und der geheimnisvolle Geldfluss durch die Bilanz. Sie wollte das nicht zu Dr. Wilfred sagen, aber wahrscheinlich sah er es selbst. Vor allem als sie einen kleinen Umweg hinter die Kulissen mit ihm machte. Abgeschirmt von dichtem Gebüsch befand sich dort nicht eine Welt traditioneller Steinhäuser, benannt nach Philosophen und Dichtern, sondern von namenlosen Fertighäusern. »Hier wohnt das Personal«, erklärte sie. »Würden Sie einen Moment hier warten? Ich muss einen Blick in die Küche werfen.« »Was denn jetzt?« rief Yannis Voskopoulos, der Chef de cuisine, über das Geklapper von rostfreiem Stahl auf rostfreiem Stahl und dem Krach der Dunstabzugshauben und dem endlosen levantinischen Popgeheule der Frau im Radio. »Ich weiß nicht, was Sie mir jetzt noch sagen wollen, was Sie mir nicht schon gesagt haben! Zweimal! Und wir haben es gemacht. Zweimal!« Ein paar der weißgekleideten Gespenster blickten von Herden und Arbeitsflächen auf und winkten ihr freundlich mit Schöpfkellen und Hackbeilen zu. Andere blickten auf und erkannten sie nicht. »Aber diese neuen Leute, Yannis«, sagte sie, nicht in Griechisch, sondern in amerikanischem Englisch, denn Yannis hatte in Amerika gearbeitet und wollte die Sprache üben. »Die Leute von der Agentur. Haben Sie ein Auge auf sie?« »Ich habe ein Auge auf alle, Nikki. Auf alles und jeden. Genau wie Sie.« »Letztes Jahr haben Sie koscher vergessen.« »Nikki, wollen Sie koscher sehen? Schauen Sie – koscher. Halal. Diabetisch. Vegetarisch. Glutenfrei, nussfrei, salzlos. Vegetarisch koscher. Diabetiker-Halal. Glutenfrei diabetisch. Salzlos, nussfrei vegetarisch. Raus hier, Nikki!« »Und ohne Zwiebeln?« »Ohne Zwiebeln?« »Salzlos und ohne Zwiebeln! Für den Gastredner! Ich habe es Ihnen doch gesagt!« Yannis schaute zur Decke und wischte sich dann das Gesicht mit dem Küchentuch ab, das er mit sich trug. Er seufzte. »Als ich ein Kind in Piräus war, gab’s nur zwei Sorten Essen«, sagte er. »Essen und kein Essen.« »Verstehen Sie jetzt, warum ich alles kontrolliere?« sagte Nikki. Sie kehrte zu ihrem imaginären Dr. Wilfred zurück und ging mit ihm zu Parmenides, dem leger luxuriösen Gastquartier, in dem er wohnen würde. Als sie den Hang hinaufschlenderten, sah sie ihm an, dass er bereits beeindruckt war. Als sie eintraten und sie die Fensterläden öffnete, um den Blick auf den großartigen Bogen der Bucht, die aufgetürmten Kumuluswolken am Horizont und die schaukelnden Fischerboote am Kai freizugeben, glaubte sie zu hören, wie er den Atem anhielt. Gut, dass er das alles jetzt schon sah – es wäre wahrscheinlich dunkel, wenn er tatsächlich ankäme. Sie überprüfte die Klimaanlage, goss Wasser in die Vasen mit den gelben Lilien und weißen Rosen nach und schob eine immer wieder laufende CD in den CD-Spieler. Das leise Gemurmel von gregorianischer Musik erfüllte die Luft. »Die Mönche aus der Nachbarschaft«, erklärte sie. Sie nahm die Whiskyflasche aus dem Sideboard und stellte sie neben die Gläser auf der Ablage. »Ein ziemlich seltener Straight Malt«, sagte sie. »Ist das in Ordnung?« Sie ging ins Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück und legte den weißen Bademantel und die Slipper darauf, so köstlich flauschig wie das Fell eines subtropischen Eisbären. Weiter ins Arbeitszimmer: Briefpapier auf dem Schreibtisch, ja, Telefonverzeichnis und Geschichte der Stiftung. Die Küche: Champagner neben zwei Sektflöten im Kühlschrank, ein guter Weißwein aus der Gegend und zwei Liter kaltes Wasser. »Aus der Quelle der Stiftung«, sagte sie zu ihm. »Berühmt für seine Reinheit.« Sie nahm die Weintrauben aus dem Kühlschrank und eine Schale...