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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Freund Niemand weiß, wie spät es ist

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-06330-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-552-06330-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nora hat ihren Vater verloren. Das wäre schon schlimm genug, doch dann erfährt sie seinen letzten Willen. Sie muss Paris und ihr schönes Leben in Frankreich verlassen, um mit der Asche ihres Vaters im Handgepäck und einem pedantischen jungen Notariatsgehilfen, der ihr täglich das nächste Etappenziel mitteilt, eine Wanderung zu unternehmen – durch Österreich, ein Land, das sie kaum kennt. Nora, die lebenslustige Chaotin, und Bernhard, der strenge Asket, folgen zwischen Regengüssen, Wortgefechten und allmählicher Annäherung einem Plan, der ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Ein Roman über Liebe und Freundschaft und über eine ungewöhnliche Reise mit überraschendem Ziel.
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1   Wellenartig entfaltete sich die Wärme in ihrem Schoß, breitete sich aus, die Beine entlang und in den Bauch hinauf. Nora empfand die Heftigkeit der Glut als unheimlich, aber sie hielt still. Der Taxifahrer fuhr abrupt an, beschleunigte fünfzehn Meter lang auf Hochtouren und bremste ab wie ein Irrer. »Doucement, s’il vous plaît«, sagte Nora. Der Fahrer sah missmutig in den Rückspiegel. Ein typischer Pariser Taxifahrer, selbst in seiner Unfreundlichkeit unverbindlich, dachte Nora und sah der Seine beim Fließen zu, scheinbar das Einzige, was sich bewegte im Verkehrsstillstand des Freitagnachmittags. Es regnete in Strömen. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Bernhard. »Dass er nicht so wild fahren soll«, antwortete Nora. »Das bringt auch überhaupt nichts«, sagte Bernhard. »Sagen Sie ihm, der Benzinverbrauch steigt um etwa sechzig Prozent, und der sinnlose Verschleiß der Bremsen verringert deren Lebensdauer um bis zu hundert Prozent.« Nora ignorierte ihn und sah wie ein trotziges Kleinkind zum Fenster hinaus. Die Hitze in ihrem Schoß wurde unerträglich. »Hier, nehmen Sie«, sagte Nora plötzlich. »Ich würde es vorziehen, wenn er hier zwischen uns säße«, sagte Bernhard. »Sie wissen, dass eine Überhitzung des Genitalbereichs bei Männern zu Unfruchtbarkeit führen kann.« Nora überlegte eine schnelle Antwort, aber zu Genitalbereich und Unfruchtbarkeit fiel ihr in diesem Augenblick nichts Schlagfertiges ein. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass sie sich mit diesem Typ auf eine Reise begeben musste! Eine Reise, die mehrere Tage, wenn nicht Wochen dauern würde. Es war so unfassbar! »Was haben Sie da?«, fragte der Taxifahrer streng. Ein typischer Pariser Taxifahrer, dachte Nora, paranoid bis dorthinaus. »Das ist eine Urne«, sagte Nora. »Die Urne mit der Asche meines Vaters.« »Ganz frisch?« Jetzt war der Taxifahrer besorgt. »So frisch, wie Asche sein kann«, antwortete Nora. »Sie müssen es doch wissen, Sie haben uns beim Père Lachaise mitgenommen.« »Sie kamen direkt aus dem Krematorium?« »Jedenfalls mein Vater. Aber keine Sorge, wir machen keine Brandlöcher in Ihre Sitze.« »Mein Beileid«, sagte der Taxifahrer. Ein typischer Pariser Taxifahrer, dachte Nora, weiches Herz unter der rauen Schale. Und sicher kommt jetzt noch ein Witz, denn der typische Pariser Taxifahrer hat auch Humor. »Muss ein heißer Typ gewesen sein, Ihr Vater«, sagte der Taxifahrer. »Kann man so sagen«, murmelte Nora, und einen Augenblick lang glaubte sie, die Wassertropfen, die über die Spiegelung ihres Gesichts die Scheibe hinabliefen, wären ihre Tränen.     2   Tags zuvor hatte das ganze Schlamassel begonnen. Nora wusste, wenn der Wecker schon vor sieben Uhr schrillt, ist das selten ein gutes Zeichen. Sie hatte einen merkwürdigen Termin vor sich. Und das am anderen Ende der Stadt. Genau genommen schrillte ihr Wecker nicht, sondern das Handy meldete sich mit einem Harfenton. Den hatte sie eingestellt, weil es der sanfteste Klingelton war, doch sie hatte ihn im Laufe der Zeit zu hassen gelernt. Der Kaffee und die Dusche halfen nicht viel. Schlaftrunken wankte sie durch das Labyrinth der U-Bahn-Schächte. Im prunkvollen Eingangsbereich des Stadtpalais kam sich Nora winzig und hilflos vor. Sie drehte sich erschrocken um, als der Portier sie ansprach. »Madame, Sie wünschen?« Der Hüter der Himmelspforte sah auf sie herab. Gottes Leibwächter. Sie stammelte einen etwas konfusen Satz, in dem der Name Maître Didier vorkam. Neun Uhr, das war definitiv nicht ihre Zeit. Immerhin, sie war pünktlich. Notare gehören in Frankreich zur obersten Kaste anbetungswürdiger Halbgottheiten, das wusste Nora. Sie lebte ja nun schon lange genug in Paris. Charles Didier residierte in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, einen Steinwurf vom Élysée-Palast entfernt, was die Wichtigkeit seiner Person noch zusätzlich unterstrich. Das hier war nicht Noras Paris. Sie hauste in einem winzigen Appartement im zweiten Arrondissement, einem Viertel, das mit seinen verwinkelten Straßen und charmanten, kleinen Läden wie ein Dorf wirkte, jedenfalls im Vergleich zum Prunk im Zentrum der Macht. Sie folgte dem roten Teppich auf der von Handläufen aus Messing gesäumten Marmorstiege. Die Vorzimmerdame geleitete sie in ein Wartezimmer. Nora setzte sich auf einen der Fauteuils, die wohl nicht nur im Stil Ludwig des Sechzehnten gefertigt waren, sondern tatsächlich aus dem 18. Jahrhundert stammten. Dieses Wartezimmer war fast so groß wie Noras Wohnung. Sie fühlte sich elend. Nach wenigen Minuten kam ein Mann bei der Tür herein. Er trug eine schwarze Lederjacke über dem offenen blauen Hemd. »Hallo, meine Kleine«, sagte er. »Mon Dieu, sind Sie groß geworden!« Nora stand auf und schüttelte artig die Hand, die ihr hingestreckt wurde. Das konnte doch kein Notar sein! Gut, das Hemd war wohl von Yves Saint Laurent und die Lederjacke von Prada, aber … »Verzeihen Sie, Mademoiselle, ich bin Charles Didier …« »Bonjour, Maître!« »Lassen Sie den Maître getrost weg. Nennen Sie mich Charles!« Er geleitete sie in das Besprechungszimmer. Dieses war definitiv größer als ihre Wohnung. »Nora«, sagte der Notar, wobei er ihren Namen in französischer Manier nicht auf dem O, sondern auf dem A betonte, »ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid aussprechen. Und zwar wirklich von Herzen. Wissen Sie, als Sie und Ihr Vater nach Paris kamen, hat Ihr Vater den Kauf der Wohnung im sechzehnten Arrondissement über mich abgewickelt. Wann war das? Neunzehnhundert…« »Vierundachtzig«, sagte Nora. »Das war damals einer meiner ersten schönen Aufträge. Er hat mir Glück gebracht. Die Kanzlei ist gediehen und gewachsen. Sie werden sich nicht an mich erinnern. Sie waren ein kleines Mädchen.« »Ich war vier, Maître.« »Charles. Sagen Sie bitte Charles zu mir. Seitdem war ich mit Ihrem Vater immer wieder in Kontakt. Sie wissen ja, beruflich hat er manchmal einen juristischen Rat gebraucht. Er war ein feiner Mensch. Ein Mann von Welt. Ein-, zweimal im Jahr haben wir im Bistro unten gemeinsam zu Mittag gegessen. Nun ja, und vor ein paar Monaten hat Ihr Vater mit meiner bescheidenen Unterstützung sein Testament verfasst.« »Das habe ich den Unterlagen entnommen«, sagte Nora. »Ehrlich gesagt hat mich das gewundert. Immerhin, ich bin das einzige Kind.« Der Notar nickte nachdenklich. Da schoss es Nora plötzlich durch den Kopf – was, wenn ich nicht das einzige Kind bin? Vielleicht hat mein Vater noch andere Kinder? Vielleicht habe ich Dutzende Geschwister! Was heißt Dutzende, eines reicht ja schon! Vielleicht hat er seine Wohnung dem Tierschutzverein vererbt? Obwohl, gerade das würde ihm nicht ähnlich sehen. Für Tiere hatte er eigentlich nur in gekochtem Zustand etwas übriggehabt, und zu boshafter Originalität hatte er auch nicht geneigt. »Wissen Sie, es schadet nie, ein ordentliches Testament zu machen. Aber Ihr Herr Vater war doch nicht krank, oder?«, wollte Maître Didier wissen. »Eigentlich nicht. Er ist in der Früh auf dem Weg zu seinem Zeitungskiosk tot umgefallen. Herzversagen.« »O Nora, es tut mir so leid …« »Er war fünfundsiebzig, immerhin.« Wie schon in den letzten Tagen hatte Nora den Eindruck, dass sie die anderen trösten musste, nicht umgekehrt. Sie schaffte das auch ganz gut, denn es ermöglichte ihr, die eigene Trauer zu verstecken. Darin war sie ohnehin geübt. Nora weinte nie. Nora konnte nicht weinen. »Wollen Sie etwas trinken, Mademoiselle Nora? Einen Kaffee?« »Ein Glas Wasser, bitte.« Der Notar nahm sein Telefon zur Hand: »De l’eau, s’il vous plaît.« Wenig später kam die Vorzimmerdame herein, ein Tablett mit einer altmodischen Karaffe und zwei Gläsern balancierend. Sie stellte es auf dem Tisch ab. »Ist Herr Strumpfenkrautdings schon da?«, fragte der Notar. Die Sekretärin lächelte: »Oui, Monsieur.« »Dann führen Sie ihn doch bitte herein.« Zwar hätte Nora gerne gewusst, ob es sich bei Herrn Strumpfenkrautdings womöglich um den Überraschungs-Universalerben handelte, doch die Höflichkeit verbot es ihr, nachzufragen. Und doch, eines wollte sie wissen: »Warum haben Sie mir gesagt, ich solle mir eine Zeitlang freinehmen?« »Nun, ja, das ist so eine Sache … Ich hoffe, es ist Ihnen gelungen, Ihren Terminkalender freizuschaufeln?« »Ja«, antwortete Nora, »ich konnte...


Freund, René
René Freund, geboren 1967, lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Volkerkunde und war von 1988 bis 1990 Dramaturg am Theater in der Josefstadt. Zuletzt erschienen Liebe unter Fischen (2013), seine Familiengeschichte Mein Vater, der Deserteur (2014), Niemand weiß, wie spät es ist (2016), Ans Meer (2018), Swinging Bells (2019), Das Vierzehn-Tage-Date (2021) und Wilde Jagd (2023).



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