Freund Wilde Jagd
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-552-07381-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-552-07381-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine verschwundene Pflegerin, ein Dorf, ein Geheimnis: der neue Roman von René Freund über einen Philosophieprofessor und ein Dorf voller Rätsel
In Stein am Gebirge scheinen alle alles zu wissen. Und eisern zu schweigen. So kommt es Quintus Erlach zumindest vor. Der Philosophieprofessor will den Sommer im Haus seiner Kindheit verbringen, da weder seine Frau noch seine Tochter derzeit mit ihm zu tun haben wollen. Gerade fürs Hundesitting ist er noch gut genug, und beim Spazierengehen lernt er Evelina kennen. Sie kommt aus der Slowakei und pflegt den alten Zillner, nachdem dessen frühere Pflegerin spurlos verschwunden ist. Evelina und Quintus wollen herausfinden, was mit ihr passiert ist. Aber haben sie sich mit den Zillners, denen das ganze Dorf gehört, womöglich einen zu mächtigen Gegner ausgesucht? Witzig, geistreich und fast schon ein Krimi.
Autoren/Hrsg.
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Donnerstag, 5. Juli 2018
5
Machtnix hat seinen Kopf unter meine Hand gelegt und streichelt sich selbst, indem er den Kopf genüsslich hin- und herbewegt. Offensichtlich habe ich mich aus dem Fauteuil auf das Sofa sinken lassen und dort weitergeschlafen, ohne etwas davon bemerkt zu haben. Es regnet immer noch. Die Tropfen klatschen auf das Dach, als würde der Himmel Wasserbomben werfen. Beunruhigend. Ich rapple mich auf, vergesse meinen Fuß, der sich beim Auftreten mit stechenden Schmerzen in Erinnerung ruft. Ich hantle mich ächzend die Holztreppe hinauf und hinke zunächst ins Badezimmer. Alles in Ordnung bei den Wasserhähnen. Gästezimmer … Kinderzimmer … Schlafzimmer. Als ich die Tür öffne, kommt mir das Wasser entgegen. Ich blicke entsetzt auf den überschwemmten Boden, das triefnasse Bett, richte den Blick nach oben: Neben dem Dachschrägenfenster laufen auf beiden Seiten Bäche herab und ergießen sich tropfend ins Haus. Machtnix sieht sich die Bescherung ebenfalls an, dreht schnüffelnd eine Ehrenrunde im Zimmer, tappst mit nassen Pfoten in den Flur zurück, wedelt, sieht mich erwartungsvoll an und bellt. Ich seufze und mache mich auf die Suche nach Eimern, was allerdings nicht ganz leicht ist, weil ich mich zuletzt vor gut dreißig Jahren in diesem Haus ausgekannt habe. Ich hinke wieder hinunter, finde mehrere Eimer, Wischtücher, einen großen Einmachtopf. Ich trage alles nach oben. Die Tropfen hallen bedrohlich in den leeren Gefäßen. So beginnen meine Lieblingstage: Überschwemmungen eindämmen und Termine mit Handwerkern ausmachen. Und mit einer Fußpflegerin. Ich bewege mich ins Erdgeschoss, Machtnix heftet sich an meine kaputte Ferse und leckt im Vorbeigehen meine Hand ab. »Herrgott, was willst du denn? Hör doch mal auf, Druck zu machen!« Der Hund läuft zur Tür und wedelt frenetisch. »Nein, wir können heute nicht spazieren gehen.« Beim Wort »spazieren« beginnt Machtnix mit freudigen Luftsprüngen. »Ich bin verletzt! Ich kann nicht gehen!« Ich beschließe, ihn zu ignorieren, und stelle Wasser auf. Jetzt brauche ich zuerst mal meinen Tee. Ich öffne die Tür, Machtnix fixiert mich und geht im Rückwärtsgang voraus. Ich hätte ihn vielleicht nicht so sehr an die täglichen Runden gewöhnen sollen. Aber was soll man tun, wenn man den Auftrag seiner Tochter hat?! Ich stelle die leere Rotweinflasche neben den Karton auf den Holzboden der Terrasse, denn im Karton hätte sie beim besten Willen keinen Platz mehr gefunden. Als ich mich aufrichte und umdrehe, steht sie plötzlich vor mir auf der Veranda. Die Irre. Die Verrückte aus dem Wald. Sie hat nasse Haare und lächelt. Machtnix ist ganz wahnsinnig vor Freude, sie wiederzusehen, was man von mir nicht behaupten kann. »Guten Tag«, sagt sie. »Hallo.« »Ich möchte mein Angebot erneuern, mit Ihrem Hund zu gehen«, sagt sie. Das Angebot erneuern … Sie spricht ein seltsames, aber schönes Deutsch. »Aber ich kenne Sie doch gar nicht«, sage ich, »ich kann Ihnen doch nicht einfach meinen Hund anhängen.« »Wenn Sie wollen, kann ich den Hund anhängen. Aber ich denke, er wird mir nicht davonlaufen. Ich bin Evelina. Hallo.« Sie streckt mir die Hand hin, die ich artig schüttle. »Erlach. Quintus Erlach. Ich … ich muss zu meinem Teewasser.« Weil das aber doch zu unhöflich wäre, frage ich: »Wollen Sie auch eine Tasse?« »Ein schöner Name, Quintus«, sagt sie. »Gerne eine Tasse Tee.« Das habe ich davon. Ich gieße den Assam auf. In der Früh muss es Assam sein, nachmittags Darjeeling. Oder ausnahmsweise auch einmal Riesling. Der erdige Duft, der mir in die Nase steigt, erfüllt mich sogleich mit der Gewissheit, dass es mir bald besser gehen wird. »Und … wohin gehen Sie spazieren?«, frage ich. Machtnix hält den Kopf schief, als er das Zauberwort hört. »Den Bach entlang, auf dem Wanderweg«, sagt sie. »In den Wald möchte ich nicht mehr gehen, zu dieser Lichtung. Dort ist etwas Schreckliches passiert.« »Ach so?«, sage ich, während ich den Tee abseihe und in zwei Gläser gieße. »Ja«, antwortet sie und fügt ganz selbstverständlich hinzu: »Dort sind zwei Menschen ermordet worden.« »Aha«, sage ich. »Wollen Sie Milch? Zucker?« »Ein bisschen Milch, bitte.« Ich sehe dem Wachsen der Stratocumulus-Milchwolke im Teeglas zu, der schönste Augenblick des Morgens. Nur heute kann ich ihn nicht so richtig genießen. Es regnet durch mein Dach. Mein Fuß tut höllisch weh. Und mein Hund ist drauf und dran, von einer Irren entführt zu werden. Der erste Eindruck hat mich nicht getäuscht. Wenn man mit ihr redet, wird ganz klar, dass sie ein Rad abhat. »Und … wo sind die Menschen, die dort ermordet wurden?« »Ihre Seelen sind dort. Die Körper wahrscheinlich auch, irgendwo verscharrt.« Sie nimmt einen Schluck Tee, sieht mich aus ihren riesigen blauen Augen an und lacht. »Schauen Sie nicht so drein! Das Ganze ist schon lange her, denke ich. Wissen Sie nichts darüber?« »Nein«, antworte ich. »Macht nichts.« Bei den Worten beginnt der Hund begeistert zu bellen. Evelina trinkt ihren Tee aus, steht auf und nimmt mit großer Selbstverständlichkeit die Leine von der Kommode. Jetzt gibt es bei Machtnix kein Halten mehr. »Spatzenhirn geht spazieren«, sage ich, denn nun gibt es ohnehin kein Zurück mehr. Soll sie eben mit ihm gehen. Sie hat zwar nicht alle Tassen im Schrank, aber für den Hund scheint sie ein gutes Händchen zu haben. »Wann kommen Sie zurück?« »In spätestens einer Stunde. Ich muss wieder arbeiten.« »Darf ich fragen, wo Sie arbeiten?« »Bei Herrn Zillner. Ich bin seine Pflegerin.« »Der Zillner? Der im Rollstuhl sitzt? In dem riesigen Haus?« »Ja.« »Gehört ihm immer noch alles hier? Der Wald, der See, der Steinbruch, die Jagd, das Holz, die Schottergrube …« Evelina hebt ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber arme Leute sind die sicher nicht. Komm, Machtnix.« Mit diesen Worten und der allergrößten Selbstverständlichkeit verschwindet sie mit dem Hund im Nieselregen. Und ich muss jetzt Rainy anrufen. Auch er hat natürlich mit mir die Volksschule besucht, allerdings eine oder zwei Klassen unter mir. Rainy, wie das englische Wort für regnerisch ausgesprochen, heißt eigentlich Rainer. Schon sein Vater war Dachdecker, und der Vater seines Vaters, und für einen, dem es sozusagen in die Wiege gelegt ist, selbst Dachdecker zu werden, ist Rainy kein schlechter Name. Nicht zu ahnen war damals, dass Rainer eine Sonja heiraten würde, eine aus dem Nachbarort, und dass er mit ihr ein Gesangsduo bilden würde, das an Samstagen bei Zeltfesten Angst und Schrecken verbreitete, da weder Rainer noch Sonja singen können, geschweige denn ein Instrument beherrschen, was sie nicht davon abhält, unter dem Namen »Sunny & Rainy« selbstgedichtete Songs aus dem bäuerlichen Schlager-Segment darzubieten. Der einzige Grund dafür, dass sie auftreten dürfen beziehungsweise nicht von der Bühne geprügelt werden, liegt darin, dass niemand es sich mit dem einzigen Dachdecker der Umgebung verscherzen will. Als Dachdecker singt Rainy zum Glück nicht. Er verspricht, am Nachmittag vorbeizukommen. So, und jetzt die Fußpflegerin, Doktor Veni hat mir ihre Nummer aufgeschrieben. Ihre Stimme klingt aufgeweckt und lustig. Der Doktor habe sie schon vorgewarnt. Sie könne am Abend einen Termin anhängen, sagt sie, wenn es denn ein Notfall sei. Aber ich solle ja pünktlich kommen, sie wolle dann auch mal Feierabend machen. Ich humple hinauf, um die Eimer auszuleeren, bevor sie zu schwer werden. Ich untersuche die Matratze meines Betts, die sich mit Wasser vollgesogen hat, so wie die Kissen und die Decke. Trocknen ist wahrscheinlich sinnlos. Das werde ich alles zum Abfallentsorgungszentrum bringen müssen, einer vielbesuchten Attraktion in Stein am Gebirge....