Frey | Das eiskalte Paradies | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Frey Das eiskalte Paradies

Ein Mädchen bei den Zeugen Jehovas
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7320-0983-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Mädchen bei den Zeugen Jehovas

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7320-0983-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hannah ist 15 und Zeugin Jehovas. Was ihr früher ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hat, wird jetzt zunehmend zum Problem. Hannah will ausbrechen, normal sein wie andere auch, die Ketten ihrer Religionsgemeinschaft sprengen. Doch auf einmal muss Hannah feststellen, dass ihre bisher so behütete Welt von nahezu unüberwindbaren Mauern umgeben ist ...

Einfühlsam und authentisch greift Autorin Jana Frey in "Das eiskalte Paradies" brisante Themen wie Religion und Sekten auf und bindet sie geschickt in die Lebenswelt der Jugendlichen ein. Ein Roman, der zum Nachdenken über Freiheit und Selbstbestimmung anregt.

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1 Meine Mutter war noch sehr jung, als ich geboren wurde. Und mein Vater war fast genauso jung wie sie. Die beiden sind schon zusammen in die Schule gegangen. Als mein Vater Abitur machte, ging meine Mutter in die zwölfte Klasse. Kennengelernt haben sie sich im Schulorchester. Das Schulorchester war mit Sicherheit auch der einzige Ort, wo die beiden sich überhaupt über den Weg laufen konnten, denn sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Meine Mutter war laut und lustig und immer ein bisschen überdreht. Sie spielte Saxofon, konnte Einrad fahren und hatte viele Freunde. Mein Vater war leise und scheu und nachdenklich. Er spielte Klarinette und verbrachte seine Freizeit damit, ganz alleine für sich durch die Gegend zu streifen und über die Welt im Allgemeinen und sein leises Leben im Besonderen nachzudenken. Aber im Schulorchester hatten die beiden dann eines Tages einen gemeinsamen Auftritt. Während sich die übrigen Schüler nämlich bereits auf ihre Orchesterplätze begeben hatten, mussten meine Mutter und mein Vater, die damals natürlich noch nicht meine Eltern waren, Seite an Seite durch den großen abgedunkelten Musiksaal laufen, mitten durch den schmalen Mittelgang, und dabei leise miteinander musizieren. Es sollte klingen, als unterhielte sich eine traurige Klarinette mit einem vergnügten Saxofon. Die Aufführung klappte ganz wunderbar, bis mein Vater, die Klarinette zwischen den Lippen, über eine Bühnenstufe stolperte und sich bei seinem Sturz den Ellenbogen brach. Aber das bekam an diesem Abend keiner mehr mit, denn mein Vater stand wortlos auf und verließ den unruhigen Musiksaal, ohne ein Wort der Erklärung abzugeben. Dabei musste er furchtbare Schmerzen gehabt haben. Und eines Tages trafen sie sich ganz zufällig wieder. Es war Herbst und es regnete, und die beiden trafen sich am Rhein, der enormes Hochwasser führte und weit über seine Ufer hinüberschwappte. „Hallo, Michael“, rief meine Mutter vergnügt und winkte. „Hallo …“, murmelte mein Vater, der den Vornamen meiner Mutter längst schon wieder vergessen hatte, und fuhr sich verlegen durch seine nass geregneten Haare, während er langsam auf sie zuging. „Wie geht es deinem Arm?“, fragte meine Mutter, als sie sich endlich gegenüberstanden. „Längst wieder in Ordnung“, sagte mein Vater verlegen. „Wie war dein Abitur?“, fragte meine Mutter. „Sehr gut, danke“, sagte mein Vater. „Aber auf der Abifeier warst du nicht, ich habe nach dir Ausschau gehalten“, sagte meine Mutter. Mein Vater schüttelte den Kopf. „Warum nicht?“, erkundigte sich meine Mutter. „Ich mag keine großen Feiern“, sagte mein Vater knapp und hörte nicht auf, sich nach Steinen zu bücken, die er, einen nach dem anderen, ins dunkle, vorbeirauschende Flusswasser schleuderte. „Ich kann sie springen lassen“, erklärte meine Mutter und führte meinem Vater vor, wie man flache Steine so über die Wasseroberfläche zischen lässt, dass sie erst eine kleine Weile über das Wasser hüpfen, ehe sie versinken. Und so kamen die beiden nach und nach ins Gespräch. Und weil meine Mutter damals ziemlich schlecht in der Schule stand, überredete sie meinen Vater schließlich dazu, ihr Nachhilfestunden zu geben. Mein Vater lebte bei seiner alten, schweigsamen Großmutter. „Wo sind deine Eltern?“, fragte meine Mutter einmal. „Ich weiß nichts von meinem Vater“, erklärte mein Vater zögernd. „Und meine Mutter lebt in Amsterdam. Sie ist dort verheiratet.“ „Warum wohnst du nicht bei ihr?“, fragte meine Mutter verwundert. „Sie wollte mich nicht, weil ihr Mann mich nicht wollte“, sagte mein Vater knapp und dann mochte er nicht mehr über seine Mutter sprechen. Und als eines Tages ganz plötzlich seine Großmutter starb, zog mein Vater niedergeschlagen in ein Studentenwohnheim und meine Mutter zog an ihrem achtzehnten Geburtstag zu ihm in sein enges Zimmer. „Warum willst du nicht bei deinen Eltern bleiben?“, fragte mein Vater verwundert. „Du hast doch noch nicht einmal dein Abitur gemacht.“ „Ich verstehe mich nicht besonders gut mit ihnen“, erklärte meine Mutter achselzuckend und verteilte ihre Siebensachen in dem kleinen Raum. „Sie wollen mich nicht so haben, wie ich bin. Sie wollen aus mir am liebsten eine kleine, angepasste graue Maus machen …“ Und so blieben mein Vater und meine Mutter zusammen, sie machten miteinander Musik und lernten für das nahende Abitur meiner Mutter. Nebenher studierte mein versponnener Vater Philosophie und Psychologie und irgendwann in diesem ganzen Durcheinander entstand ich. „Ich liebe dich, weil du so laut und verrückt bist“, sagte mein Vater eines Tages zu meiner Mutter. „Es kommt mir so vor, als hättest du mich erst zum Leben erweckt.“ Meine Mutter lächelte. „Und ich liebe dich, weil du der Vater von dem Baby bist, das ich im Bauch habe.“ Das alles geschah 1970, und es gibt eine Menge Fotos, auf denen meine kunterbunte Mutter stolz und vergnügt ihren kugelrunden Bauch präsentiert. Von meinem Vater gibt es nur sehr wenige Bilder, er kann es nicht leiden, wenn man ihn fotografiert. Ich habe tatsächlich bis heute nur drei Fotografien gefunden, auf denen mein Vater und ich zusammen zu sehen sind. Im Grunde sind es sogar nur zwei, denn auf der allerersten sitzt mein schmächtiger, ernsthafter Vater neben meiner lachenden Mutter unter einer windschiefen Trauerweide am Rheinufer und hat seine linke Hand sehr sachte und vorsichtig auf ihrem runden Bauch abgelegt. Auf dem zweiten Bild hält er mich kurz nach meiner Geburt auf dem Arm und schaut mich so verblüfft an, als wäre ich ein wahres Wunder und nicht nur ein ganz und gar normales, zerknittertes Neugeborenes. Auf dem dritten Bild steht mein Vater hinter mir und hat sich eben verheiratet. Allerdings nicht mit meiner Mutter, sondern mit Roswitha … Aber davon erzähle ich später. Bald nach meiner Geburt zogen meine Eltern aus dem lauten, vergnügten, aber zu eng gewordenen Studentenwohnheim aus und mieteten sich eine kleine Wohnung in der Innenstadt. Meine Mutter hatte nun doch die Schule abgebrochen und arbeitete nachts als Kellnerin in einer Studentenkneipe. Mein Vater studierte noch eine Weile weiter, aber als das Geld knapp wurde, nahm er eine Bürostelle in einer kleinen Firma an. Dort blieb er dann fast zwanzig Jahre, obwohl er seinen Job niemals leiden konnte. Meine Eltern machten aber immer noch Musik zusammen und in meiner Erinnerung waren sie meistens vergnügt und stets sehr zärtlich miteinander. Ich kam in einen Kindergarten, und manchmal, wenn der Rhein Hochwasser führte, fuhren wir drei mit dem Bus zum Fluss, und meine Eltern warfen stundenlang Steine in das dunkle, vorüberrauschende Flusswasser. „Du musst sie so schräg wie möglich schleudern“, rief meine Mutter meinem Vater lachend zu. „Siehst du? So!“ Zisch – zisch – zisch, machten die Steine meiner Mutter. „Ich versuche es ja“, knurrte mein Vater und warf Stein um Stein. Blupp – blupp – blupp, machten die Steine meines Vaters. „Ich lerne es nie“, murmelte er ärgerlich. „Eines Tages wird es klappen“, tröstete meine Mutter ihn und legte ihm ihren Arm um den Hals. Als ich gerade fünf Jahre alt geworden war und der Rhein mal wieder Hochwasser hatte, stellte ich mich ganz nah zu meinen Eltern an das dahinströmende Wasser und schleuderte meinen ersten Stein. Zisch – zisch – zisch, machte mein Stein. Ich erinnere mich daran, wie sehr meine Eltern sich freuten und wie mein Vater meine kalte Nasenspitze küsste. „Du bist wirklich ein Tausendsassa“, sagte er stolz. „Aber kein Wunder, du hast ja auch die großartigste Mutter der Welt!“ Ich erinnere mich heute noch an diesen Satz. Er ist felsenfest in meinem Gedächtnis verankert. Denn ein paar Tage nach diesem Nachmittag am Rhein endete mein Leben. Und das Leben meines Vaters. Es war ein verregneter Herbsttag. Meine Eltern hatten Geldsorgen, ich weiß nicht mehr warum, wir hatten schließlich nie viel Geld gehabt, aber in diesem Herbst redeten die beiden immerzu von Geld und keinem Geld und wenig Geld und von unbezahlten Rechnungen. Und da beschloss meine Mutter, ihre Eltern, mit denen sie seit vielen Jahren zerstritten war, um Unterstützung zu bitten. Die Eltern meiner Mutter waren strenge, starre, finstere Leute, ich hatte sie bis dahin nur ein paarmal zu Gesicht bekommen. Meine Mutter machte sich also auf den Weg zu ihnen und ich winkte ihr aus unserem Wohnzimmerfenster im fünften Stock einen Abschiedsgruß. Meine Mutter winkte zurück, sie lächelte und sie hatte lange, offene blonde Haare, die im Wind wehten. Aber ich sah trotzdem, dass meine Mutter nervös war, und sie tat mir leid, weil ich wusste, dass sie nicht gerne jemanden um Hilfe bat. Und schon gar nicht ihre griesgrämigen Eltern. An diesem Tag kam meine bunte, heitere Mutter ums Leben. Ein Bus fuhr sie an, als sie auf dem Weg zur Bushaltestelle war. Es war die Linie 4, das hörte ich später zufällig und vergaß es nie wieder. Und bis heute bin ich niemals in diese Buslinie eingestiegen. Nicht mal in anderen Städten betrete ich einen Bus mit dieser Nummer. Ich hasse alle Busse Nr. 4. Am Abend saß mein Vater am Küchentisch und sagte immer wieder den gleichen Satz. „Du darfst nicht sterben“, sagte er. „Du darfst nicht sterben. Du darfst nicht sterben.“ Seine Stimme klang hohl und verzweifelt, und er sprach so, als wäre meine Mutter bei uns in der Küche. Ich fand das unheimlich und ich hatte Hunger und...


Jana Frey, in Düsseldorf geboren, fing schon in ihrer Kindheit an zu schreiben. Mit 18 Jahren zog sie zu Hause aus und war danach lange in Amerika und Neuseeland, bevor sie wieder nach Deutschland zog. Aber egal auf welcher Seite der Weltkugel – das Schreiben hat sie immer begleitet. Sie studierte Literatur und wurde freischaffende Autorin. Inzwischen hat sie über 40 Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.



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