E-Book, Deutsch, 380 Seiten
Frey Fortschritt und Fiasko
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-946503-33-0
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-946503-33-0
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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3.2. Der Sandmann Dichterisch verarbeitete er auch eine andere (technische) Entwicklung, nämlich die des Automaten, aus dem sich dann später der Roboter entwickelte. Grundlage meiner Betrachtung ist daher Hoffmanns Erzählung ›Der Sandmann‹ von 1815/16 (erschienen 1817 in dem Band Nachtstücke). Nathanael, ein für Mystik, Spuk und romantische Schwärmereien anfälliger junger Mann, begegnet in seinem italienischen Studienort dem Mechaniker Coppola. In ihm meint er einen gewissen Coppelius wiederzuerkennen, der während seiner Kindheit im Haus seines Vaters verkehrte und mit diesem heimlich chemische Experimente durchführte. In Nathanaels kindlicher Fantasie ist Coppelius der schreckliche Sandmann, der unartige Kinder entführt und ihnen die Augen auspicken lässt. Tatsächlich ist Coppelius ein böser, hämischer Charakter, der schließlich sogar für den Tod des Vaters verantwortlich ist. (Angestiftet von Coppelius kommt der Vater bei einem der Experimente durch eine Explosion ums Leben.) Danach bleibt Coppelius unauffindbar. Nathanaels Verlobte Clara, eine lebensfrohe, nüchterne Frau und ihr ebenso pragmatischer Bruder Lothar versuchen in einem Briefwechsel, ihm seine düsteren Vermutungen auszureden. Als Nathanael von seinem Professor Spalanzani – bei dem Namen des Professors hat Hoffmann offenbar an den realen Biologen Lazzaro Spalanzani (1729–1799) gedacht, der sich mit Anatomie, Physiologie, Embryologie und künstlicher Befruchtung beschäftigte – erfährt, dass Coppola wirklich Italiener ist, lässt er seinen Verdacht widerwillig fallen, und obwohl er den Mechaniker nach wie vor abstoßend findet, kauft er von ihm ein Fernrohr. Mit dem Fernrohr beobachtet Nathanael heimlich die scheue Tochter des Professors, Olimpia, für die in ihm eine wilde Leidenschaft aufflammt. Olimpias Verhalten ist jedoch äußerst merkwürdig. Stundenlang sitzt sie unbeweglich an ihrem Tisch, ihr Gang ist steif und ihr Blick starr. Nathanael deutet dies als Ausdruck besonderer Tiefe, Zurückhaltung und Vornehmheit. Als seine Liebe zu ihr übermächtig wird, entschließt er sich, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Im Haus Olimpias aber findet er den Professor und den Mechaniker Coppola vor, die sich heftig um eine Puppe streiten. Jetzt fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, denn die Puppe ist Olimpia, also nichts anderes als ein Automat, und Coppola ist doch der Dämon seiner Kindheit Coppelius. Wieder verschwindet dieser spurlos, wobei er den Automaten mit sich nimmt. Nathanael ist völlig zerrüttet. Er versucht, den Professor zu erwürgen, erleidet einen Nervenzusammenbruch und landet in einer Heilanstalt. Als er aus seinem Koma erwacht, befindet er sich wieder zu Hause bei seiner Mutter, Clara und Lothar. Da er geheilt scheint, wird die Hochzeit mit Clara vorbereitet. Auf einem Spaziergang besteigen Clara und Nathanael den Turm des Rathauses. Oben angelangt blickt Nathanael durch das von Coppelius erstandene Fernrohr, um die Landschaft zu beobachten. Dabei gerät Clara in den Blickfeld, und ein neuer Anfall von Wahnsinn überwältigt ihn. Plötzlich meint er, dass auch Clara ein Automat sei. In seiner Raserei will er Clara über die Brüstung werfen. Lothar, von den verzweifelten Hilferufen seiner Schwester alarmiert, kann sie in letzter Sekunde retten. Für Nathanael aber kommt jede Hilfe zu spät. Denn zu seinem blanken Entsetzen erkennt er in der Menge, die sich durch die dramatischen Ereignisse vor dem Turm zusammengerottet hat, das Gesicht des schrecklichen Coppelius. Jetzt stürzt er sich selbst in die Tiefe und findet den Tod. Was fällt an Hoffmanns Geschichte auf? Zunächst einmal führt E. T. A. Hoffmann den Roboter in die Literatur im Allgemeinen und in die SF im Besonderen ein. Entscheidend dabei ist, dass er seinen künstlichen Menschen nicht magisch-märchenhaft zum Leben erweckt, sondern ihn auf technischer (mechanischer) Basis plausibel macht. Den realhistorischen Hintergrund liefern etliche Räderwerkkonstruktionen seiner Zeit, so z. B. der berühmte »schachspielende Türke«, 1769 in Bratislava von Wolfgang von Kempelen erbaut. Der »schachspielende Türke« entpuppte sich zwar als Betrug, da in seinem Inneren ein kleiner Mensch versteckt war, aber immerhin – von Kempelen animierte viele andere Tüftler, echte Automaten zu bauen. Hoffmann selbst wohnte 1813 in Dresden einer Vorführung des bewunderten Kaufmann’schen Musikautomaten bei, der diesmal kein Schwindel war. Beides machte auf Hoffmann einen derart großen Eindruck, dass er ihn in seiner Geschichte ›Die Automate‹ (1814) und natürlich dann im ›Sandmann‹ verarbeitete. Noch bedeutungsvoller ist die Frage, mit welcher Haltung Hoffmann diesen Apparaten begegnet. ›Der Sandmann‹ gibt Aufschluss. Olimpia, die Automatenpuppe, muss sozusagen naturnotwendig den empfindsamen Nathanael in den Wahnsinn treiben, weil sie in ihrer abnormen Existenz ein Anschlag auf das menschlich-geistige Prinzip ist. Ebenso folgerichtig kann der Mechaniker, der sich solche Monstrositäten einfallen lässt und sie dann auch noch verwirklicht, nur ein dämonisches, abgrundtief böses Wesen sein. In der Gestalt des Coppelius, der im weitesten Sinn den Wissenschaftler repräsentiert, wird diese Vorstellung lebendig. Coppelius scheint gar kein Mensch zu sein (siehe das Bild des Sandmanns), sondern er ist ein übernatürlicher Abgesandter des Bösen, todbringend und letztlich nicht greifbar. Die, die sich mit ihm einlassen – Nathanaels Vater, der an Coppelius’ verbotenen Experimenten teilnimmt, und Nathanael selbst, der sich von Olimpia blenden lässt –, müssen ihren Leichtsinn mit dem Leben bezahlen. Selbst das eigentlich harmlose Fernrohr, auch von Coppelius hergestellt, bekommt in der Geschichte eine verhängnisvolle Bedeutung. Dagegen erweisen sich die eher banalen, weil dem Alltäglichen verhafteten Figuren Clara und Lothar als immun. Sie wollen von einem teuflischen Coppelius und von merkwürdigen Automaten nichts wissen, erklären alles für Einbildung und halten Nathanael für einen überreizten Menschen mit zu viel Fantasie. Nur einmal, in der Attacke Nathanaels auf Clara, werden sie direkt mit der tödlichen Bedrohung konfrontiert, ohne sie allerdings in ihrem Wesen zu begreifen. So hat Clara ihre Liaison mit dem schwermütigen Nathanael schnell vergessen, denn die Geschichte endet mit dem Hinweis, dass Clara an der Seite eines anderen Mannes ein glückliches Familienleben führt. Die Botschaft Hoffmanns heißt eindeutig: Finger weg von der »neumodischen« Technik, denn sie kann nur Verderben bringen! An anderer Stelle äußert er sich zu den Automaten unmissverständlich: »Schon die Verbindung des Menschen mit toten, das Menschliche in Bildung und Bewegung nachäffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich etwas Drückendes, Unheimliches, ja Entsetzliches (…) Das Streben der Mechaniker, immer mehr und mehr die menschlichen Organe zur Hervorbringung musikalischer Töne nachzuahmen oder durch mechanische Mittel zu ersetzen, ist nur der erklärte Krieg an das geistige Prinzip (…)« (Hoffmann b, S. 419 f.) Hoffmanns Verhältnis zur Technik ist also ein anderes als das eines Julius von Voß, der in der Technik grundsätzlich etwas Positives sieht. Hoffmanns Haltung geht auch weit über einen kritischen Skeptizismus à la Mary Shelley hinaus. Bei Mary Shelley ist Baron Frankenstein weder verrückt noch ein irreales teuflisches Wesen, und das Monster ist auch nicht a priori böse, da es nicht zum Monster geworden wäre, hätte man es anders behandelt. Hoffmanns Einstellung ist, um es geradeheraus zu sagen, technik- und fortschrittsfeindlich, und seine Erzählung bestätigt diese Haltung. Selbst das unschuldige Fernrohr wird zu einem Instrument des Bösen. Hier spürt man aber auch Hoffmanns Tiefe, denn viel früher als andere fühlt er die negativen, abgründigen Seiten einer entfesselten Technik. Doch als Romantiker ist er zu voreingenommen, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Zwar erahnt er fast hellsichtig die Konturen einer heraufziehenden neuen Zeit, doch an Gestaltung denkt er nicht, sondern empfindet nur tiefe Ablehnung. So will er mit seinen Mitteln dazu beitragen, die Entstehung dieser schrecklichen neuen Welt zu verhindern oder zumindest zu diskreditieren. Das macht ihn auch zum idealtypischen Vorläufer einer gewissen deutschen SF-Entwicklung, die bei Hoffmann allerdings noch Größe hat. Dass Hoffmann es bitterernst meint und das Geschehen nicht etwa rein psychologisierend als Wahnvorstellung seines Protagonisten darstellt, zeigt die Geschichte ebenfalls. Der Automat Olimpia und der gruselige Coppelius sind keine Hirngespinste Nathanaels, sondern sie begegnen ihm wirklich. Insofern entlarvt sich das Abwiegeln von Clara und Lothar als eigentliche Illusion. Denn während der sensible Nathanael zerbricht, weil er die Wahrheit geschaut hat, leben Clara und Lothar in ihrer naiven Unwissenheit weiter. In diesem Licht erscheint der Schluss der Geschichte geradezu ironisch, so als wollte sich Hoffmann über die Sorglosigkeit seiner Zeitgenossen angesichts der immer länger werdenden Schatten der Maschinen lustig machen. Als begnadeter, aber »hoffnungsloser« Romantiker erweist sich Hoffmann schließlich auch in der Art, wie er seine Erzählung mit dem ganzen Repertoire romantischer Stilmittel klimatisch aufheizt. Da ist Nathanael, der hyperempfindsame, seelisch zerrissene junge Mann; da ist die hohe, reine Liebe, die ein tragisches Ende findet; da ist der spukhaft-reale Coppelius als Inkarnation des unfasslich Bösen; da ist das Gegenbild einer banalen Wirklichkeit in Form von Clara und Lothar; da gibt es den profanen Gegenstand, der...