E-Book, Deutsch, 417 Seiten
Reihe: Memoranda
Frey J. G. Ballard - Science Fiction als Paradoxon
Personality 25: J. G. Ballard - Science Fiction als Paradoxon
ISBN: 978-3-944720-80-7
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 417 Seiten
Reihe: Memoranda
ISBN: 978-3-944720-80-7
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
J. G. Ballard gilt als Erfinder der New Wave, mit der er in den 1960er Jahren neue Ausdrucksformen in die Science Fiction einbrachte. An seiner stilistischen Brillanz besteht kein Zweifel, doch an seinen Inhalten scheiden sich die Geister. Ballard schreibt "Anti-SF", die die Genreprämissen auf den Kopf stellt, sich aber dennoch als SF versteht. So wird der Brite zu einem literarischen Grenzgänger. Seine Negation der SF bereichert diese in wunderbar-paradoxer Weise.
Hans Frey liefert einen ausführlichen Überblick zu Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Abgerundet wird der Band durch ein Interview mit Ballard von Werner Fuchs und Joachim Körber sowie eine Bibliographie von Joachim Körber.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt:
G Vorwort - Warum J. G. Ballard?
G Ballards Leben im Überblick
G Ballards Werk im Überblick
G Ballards Kurzgeschichten
G Ballards Romane
G Ein Interview mit Ballard von Werner Fuchs und Joachim Körber
G Deutsche Bibliographie von Joachim Körber
G Stichwortverzeichnis der Namen und Titel
1.2. – Eine verwirrende Persönlichkeit Zum Zusammenhang von Person und Werk Ballards Werke sind alles in allem faszinierend, aber doch anstrengend und keine Gute-Nacht-Lektüre. Sie strapazieren nicht selten die Geduld auch des Gutwilligen und stellen gerade für den rational orientierten Leser oft eine Provokation dar. Dennoch ist es spannend, aufregend und Gewinn bringend, sich auf Ballard einzulassen – vorausgesetzt, man mag literarische Tiefseeabenteuer. Wie bei allen Autoren (und sonstigen Künstlern) besteht immer ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Werk, und wenn es sich um große Schriftsteller handelt, erweist er sich als umso komplexer. Deshalb soll zuerst auf Ballards Wesen und Charakter eingegangen werden, um dann den Bogen zu seinem Werk zu schlagen. Wege zu Ballard Liest man Ballards Biografie, begegnet man einem erlebnisreichen, keineswegs ungetrübten, von diversen Traumata belasteten, aber dennoch bis auf wenige echte Rückschläge relativ gradlinigen und erfüllten Leben, das man in der Summe nicht als außerordentlich schwer, bedrückend und schon gar nicht als schrecklich und zerstörerisch bezeichnen kann. Im Gegenteil hatte er eine insgesamt passable Kindheit und eine zwar aufwühlende, z. T. verstörende, aber insgesamt doch glückliche Jugend (so seine eigenen Worte). Später erlebte er gerade in Ehe und Familie viele beglückende Momente, hatte Erfolg im Beruf und erwarb sich Ansehen und Respekt. Eigentlich müsste man nun ein eher stimmiges, abgerundetes, evtl. sogar warmherziges Werk erwarten. Das ist jedoch nicht der Fall. In seinen Texten begegnet uns ein Ballard, der ganz anders ist als der, den uns seine Biografie suggeriert. Man könnte fast auf die Idee kommen, Ballard habe sich plötzlich von einem mit beiden Beinen im Leben stehenden Dr. Jekyll in einen zwielichtigen, wirren und geistesgestörten Mr. Hyde der Literatur verwandelt. Wie erklärt sich bei Ballard der Bruch zwischen Leben und Werk? Ist es überhaupt ein Bruch? Oder liegt hier nur eine scheinbare Inkompatibilität vor, die in Wirklichkeit doch ein einigermaßen folgerichtiges Ganzes ergibt? Ich denke, dass es in der Tat einen Bruch gibt! Dieser steht aber nicht beziehungslos in Raum und Zeit, sondern drückt gleichzeitig ein Nebeneinander wie auch ein Verflochtensein aus. Mir scheint, dass der Begriff des Paradoxen am besten geeignet ist, Ballard zu beschreiben. Zum Beleg sollen nun die ins Paradoxe hineinragenden Widersprüche zwischen dem Leben Ballards und seiner Innenwelt, die sich in seinen Texten materialisiert, ebenso wie deren Überlappungen konkretisiert werden. Dabei berufe ich mich in erster Linie auf die gegen Ende seines Lebens geschriebenen Autobiografie Miracles of Life (2008; dt. Wunder des Lebens). Nichts (außer einigen Interviews und seinem Werk natürlich) exemplifiziert meiner Meinung nach das aufzuzeigende Spiegelkabinett nachdrücklicher als eben diese Autobiografie. Behütung und Unbehaustheit Ballard wuchs privilegiert in einem großbürgerlichen Haushalt auf, genoss dessen Annehmlichkeiten und bewegte sich in einer gebildeten, distinguierten, eher liberalen und weltläufigen Umgebung. Gleichzeitig empfand er die Distanz zu seinen Eltern als bedrückend, da sie sich vornehmlich um sich selbst kümmerten und ihn dem ebenfalls nur mäßig interessierten Kindermädchen überließen. Ballard war also als Kind durchaus behütet und gut versorgt. Dennoch erlebte er trotz äußerer Schutzhülle eine gewisse Unbehaustheit, die man normalerweise nur bei verlassenen und verwahrlosten Kindern vermutet. Und er bemerkte schon früh die hohlen Verkehrsformen und die Leere der gehobenen Mittelstandsgesellschaft, die zudem, wie er des Öfteren feststellt, viel Alkohol konsumierte. Gedoppelte Wahrnehmung Seine Eindrücke von Shanghai kamen hinzu, Eindrücke, die ihn ein ganzes Leben lang nicht mehr los ließen. Der Stadtmoloch war zu dieser Zeit ein siedendheißes Pflaster. Die Kriminalität blühte und stellte sich offen zur Schau, die Massenarmut mit einer Armee von Bettlern, an den Ecken sterbenden Menschen und auf den Straßen verrottenden Leichen waren allgegenwärtig. Gestank, ekelerregende Krankheiten, schwärende Epidemien, Kaschemmen mit billigster Prostitution, Spiel- und Rauschgifthöllen gehörten zur Tagesordnung. Doch ebenso nachhaltig prägte ein quirliges, aufputschendes, unglaublich vielfältiges Leben das Gesicht der Riesenstadt. Blinkende Leuchtreklamen, Theater, Kinopaläste mit den neusten Hollywoodfilmen, strahlende Kaufhäuser mit einem Überangebot, Prachtstraßen, gut gekleidete, fröhlich flanierende Menschen, ein Riesenverkehr und vieles mehr produzierten eine überbordende Vitalität. Wie erlebte der junge Ballard all dies? Er erfuhr es durch gelegentlichte Autofahrten mit seinen Eltern und durch seine späteren Fahrradtouren. Aber sein Versuch, realen Kontakt mit der Bevölkerung aufzunehmen, scheiterte. Kurz: Er erlebte Shanghai als durchaus konkretes, aber doch irgendwie abgehobenes Medienspektakel, nicht als echtes, hautnahes, zu ihm gehörendes Gebilde. »In vieler Hinsicht erinnerte alles an eine Kulisse, doch damals war es real, und ich glaube, ein großer Teil meiner Werke stellt den Versuch dar, diese Atmosphäre mit anderen Mitteln als dem Gedächtnis heraufzubeschwören.« (WL, S. 14) Er blieb ein Fremder in einer fremden Welt. In diesem Zusammenhang ergibt sich eine interessante Parallele zu Ballards Schilderung, wie er mit dem Krieg konfrontiert wurde. »Ich glaube, ich sah den Krieg in Europa als Wochenschaukrieg, der sich nur auf dem silbernen Rechteck über meinem Kopf abspielte (…) Die Realität, ob im Krieg oder Frieden, sah man abgefilmt in den Wochenschauen, und ich wollte, dass ganz Shanghai gefilmt würde.« (WL, S. 41 f.) Ballard hatte somit schon als Kind eine Art gedoppelte Wahrnehmung – einmal erlebte er Realität als direktes Geschehen mit ihm und um ihn herum, und im selben Atemzug betrachtete er sie wie ein Zuschauer, dem eine nicht als unmittelbar empfundene Wirklichkeit wie eine Inszenierung vermittelt wurde. Er war da, aber nicht immer dabei. Ein Gefängnis als Freizeitpark 1943 trieben die japanischen Invasoren einen Teil der internationalen Gemeinde, zu dem die Ballards gehörten, in das Lager Lunghua zusammen, zogen einen dichten Stacheldrahtzaun um das Gelände, stellten Wachen auf und kontrollierten die Lagerinsassen. Andererseits hatten die Internierten einen gewisse Autonomie, da sie wesentliche Abläufe des täglichen Lebens selbst bestimmen konnten. Mit dem Luxus war es indes endgültig vorbei. Man lebte in bedrückender Enge, da man sich mit mehreren Personen kleinste Zimmer zu teilen hatte, die Hygiene ließ mehr als zu wünschen übrig, man wurde von den Aufpassern gegängelt, ja drangsaliert und obendrein verschlechterte sich die Lebensmittelversorgung kontinuierlich. Faktisch war Lunghua ein »besseres« Elendsviertel, aber dem pubertierenden Ballard gefiel es fantastisch! »Das Lager Lunghua mag eine Art Gefängnis gewesen sein, aber ein Gefängnis, in dem ich meine Freiheit fand.« (WL, S. 82) An anderer Stelle erklärt Ballard das Paradoxon. »Das Gefängnis, das die Erwachsenen so einengt, eröffnet einem Jungen grenzenlose Freiräume der Fantasie. Wenn ich morgens aus dem Bett sprang, während meine Mutter unter ihrem zerfetzten Moskitonetz schlief und mein Vater versuchte, ihr etwas Tee zu kochen, warteten Hunderte verschiedene Möglichkeiten auf mich.« Mit anderen Worten: Für den halbwüchsigen Ballard entpuppte sich Lunghua als riesiger Abenteuerspielplatz, der ständig Neues und Aufregendes zu bieten hatte. Natürlich gab es auch Pflichten (z. B. den Besuch einer von den Insassen selbstorganisierten Schule), aber insgesamt konnte der Junge offensichtlich tun und lassen, was er wollte. Mit einer Jugendbande streifte er tagtäglich durch das weiträumige Lager, das ihm im Gegensatz zur Isolation seines früheren Lebens als willkommener Freizeitpark diente. So mutierte in seinem Bewusstsein ein Gefängnis zu einem Ort der juvenilen Selbstverwirklichung, die in Wirklichkeit, so mein Verdacht, nur die Fortsetzung einer partiellen Verwahrlosung war, die er bereits als Kind im Herrenhaus erlebt hatte. Nur – in Lunghua bestimmte er den Grad der Verwahrlosung selbst! Daheim und doch fremd Als Ballard Ende 1945 nach England kam, war das für ihn keine Rückkehr, sondern ein völliger Neuanfang in einem für ihn erneut fremden Land. Er war in Shanghai und dann in dem japanischen Lager aufgewachsen und kannte England nur aus Büchern, Zeitschriften und der Wochenschau. Sprache und Lebensstil seines unmittelbaren Umfelds waren zwar britisch geprägt, gleichzeitig aber auch außerordentlich stark amerikanisiert. So kam er als kulturell »verbogenes« Individuum in ein Großbritannien, das ihm nicht nur allgemein fremd, sondern auch ein vom Krieg und vom Ende des Empire ausgelaugtes Land war, welches sich dennoch starrsinnig an längst überholte Traditionen klammerte. Ballard musste, obwohl doch »irgendwie« britisch, erst einmal heimisch werden, was ihm außerordentlich schwer fiel. Wieder einmal war er allein, und er hatte auch allein damit zurechtzukommen. »Es beeinflusste meine grüblerischen Selbstzweifel, wer ich war, und veranlasste mich, dass ich mich ein Leben lang als Außenseiter und Nonkonformisten sah.« (WL, S. 124) Aber: »Ich hielt mich gerne für einen Entwurzelten, dabei war ich so durch und durch...