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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Frey Vision und Verfall

Deutsche Science Fiction in der DDR
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-948616-83-0
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Deutsche Science Fiction in der DDR

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-948616-83-0
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In VISION UND VERFALL analysiert Laßwitz-Preisträger Hans Frey die Science Fiction der DDR. Unterhaltsam und ohne jede Besserwisserei führt er durch eine untergegangene Welt und enthüllt einen weitgehend unbekannten Erzählkosmos. Selbst diejenigen, die schon Kenntnisse haben, werden Überraschungen erleben. Der Autor nähert sich nicht nur dem Kern der DDR-SF, sondern er vermag auch Erstaunliches über ihre Entwicklungsgeschichte zu berichten. Reproduziert eine Diktatur in der Regel stets dieselben Klischees, so kommt der Autor in diesem Fall zu einem anderen, verblüffenden Ergebnis. Statt Stasis entfaltete sich eine von der Obrigkeit ungewollte Evolution. Wie das möglich wurde, wird anhand von Hintergründen, Strukturen, Personen, Werkbeschreibungen, seltenen Illustrationen und einem ausführlichen Literaturverzeichnis spannend belegt. Diese Art der SF, so Frey, hat es nur in der DDR gegeben. Wer an deutscher Literatur interessiert ist, dem erschließt das Buch neue und ungeahnte Erkenntnisse.
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1.4. Ein Schlüsselroman: Von Träumen und Albträumen Wie in der allgemeinen Belletristik gibt es in der SF zuweilen Schlüsselromane, in denen sich wie in einem Brennglas historische Epochen mythisch-metaphorisch bündeln. Für die Weimarer Republik hatte ich in diesem Sinn die SF-Romane Utopolis (1931) von Werner Illing und Metropolis (1926) von Thea von Harbou ausgemacht und sie als Prolog dem zweiten Band vorangestellt (F2, S. 14 ff.). Eine ähnliche Rolle spreche ich dem Roman Der Traummeister (1990) von Angela und Karlheinz Steinmüller für die DDR zu. Er dient deshalb als Prolog zum vorliegenden vierten Band der Reihe. Verpasste Chance Leider umgibt die Editionsgeschichte des Werks eine gewisse Tragik, die kurz erläutert werden soll. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass Der Traummeister bereits 1988 hätte erscheinen können. Tatsächlich kam er 1990 auf den Markt, zu einer Zeit also, als die DDR faktisch schon Geschichte war und die Buchläden sturzflutartig mit West-SF überschwemmt wurden. Zu allem Verdruss waren es auch noch Banalitäten – z. B. hatte der Grafiker die Abgabe von Farbtafeln für das Buch verbummelt, auf die der Verlag wartete –, die die folgenschwere Verzögerung verursachten. Durch die verspätete Veröffentlichung verpasste das Buch einen neuralgischen Moment der Geschichte. 1988 wäre der Titel in der noch bestehenden DDR wahrscheinlich zur Sensation geworden, die eine große Nachfrage ausgelöst hätte. 1990 hatte sich der Wind gedreht. Das wankelmütige Publikum reagierte plötzlich auf ganz andere Anreize, und der Verlag blieb auf einem Großteil der Auflage sitzen. Der Traummeister versank im Meer der von heute auf morgen möglich gewordenen Wahlfreiheiten. Wahlfreiheiten sind natürlich gut. Die traurige Folge war nur, dass hervorragende Werke wie Der Traummeister nicht mehr die ihnen gebührende Wertschätzung erfuhren. Interpretation Grundlage meiner Besprechung ist der Band 4 (2020) der von Erik Simon herausgegebenen Steinmüller-Werkausgabe im Memoranda Verlag. Gegenüber der Erstausgabe von 1990 fügte das Autorenduo dem Text ein endgültiges Schlusskapitel hinzu. Weitere Anhangtexte sowie eine Karte der fiktiven Stadt Miscara ergänzen das Buch. Insgesamt ist Der Traummeister eingebettet in einen in sich zusammenhängenden Erzählkosmos, der weitere Bände und Storys umfasst. Einen ausgezeichneten Überblick bietet Erik Simons Aufsatz »Das Steinmüller-Universum« (in: Das Science Fiction Jahr 2019). Der Traummeister Vor tausend Jahren wurde der Planet Spera von hoch technisierten Abgesandten der Erde besiedelt (die Miscarer nennen sie »die Großen Alten«). Die Vorgeschichte wird im Band 3 der genannten Werkausgabe mit dem Titel Spera (erstmals 2004 bei Shayol, Neufassung 2018 beim Golkonda-Imprint Memoranda) erzählt. Sie fächert in Einzelerzählungen die Geschichte der irdischen Kolonie auf. Demnach fallen die Kolonisten im Laufe der ersten Jahrhunderte in die Barbarei zurück, um dann eine dem europäischen Mittelalter ähnelnde Entwicklungsstufe zu erreichen. An den Ereignissen in der unabhängigen Stadtrepublik Miscara, die von einem aus Patriziern bestehenden Rat regiert wird, schildern die Autoren den Versuch, wieder den Sprung in eine technisch-industrielle Zivilisation zu schaffen. Eine ganz und gar ungewöhnliche, ja phantastische Methode soll Miscara dabei helfen. Sogenannte Traummeister versorgen nachts die Bevölkerung mit motivierenden, anstachelnden und zukunftsweisenden Träumen, die ihr tagsüber die Kraft geben, eine entbehrungsreiche Aufbauarbeit zu leisten. Das Wirken der Traummeister bedeutet indes, dass die Menschen das eigenständige Träumen verlernen. Schließlich wird das Träumen sogar ganz abgeschafft, da es, so die Doktrin, überflüssig geworden sei. Der Traummeister Nerev hat nämlich mit der Formel »Fleiß und Industrie« den Schlüssel zu einer rein rationalistischen und prosaischen Betrachtung der Dinge gefunden – so glauben es jedenfalls Nerev und der Rat. Hatte Spera eine tausendjährige Geschichte im Blick gehabt, so ist es in der Fortsetzung Der Traummeister nur ein Jahr, in dem sich dramatische Veränderungen abspielen. Der amtierende Rat, der schon seit einiger Zeit mit Sorge beobachtet, dass die Entwicklung durch eine allgemeine Lustlosigkeit und einen eingerissenen Schlendrian stagniert, verspricht sich von der Nutzung der alten Traumtechnik einen Belebungsschub. In dieser Situation taucht ein geheimnisvoller Fremder namens Kilean auf, der das Zeug zu einem Traummeister hat. Kilean wird zum neuen Traummeister ernannt und bezieht den sogenannte Traumturm in der Mitte der Stadt. Die Patriziertochter Glauke, die als allgegenwärtige Ich-Erzählerin durch den Roman führt, wird ihm als Mittlerin, Aufpasserin, Beeinflusserin und Geliebte zur Seite gestellt. Der Rat ist nämlich keinesfalls gewillt, Kilean freie Hand zu lassen. Im Gegenteil will er ihm durch eine »Richtschnur für lotrechtes Träumen« (S. 76 ff.) die gewünschten Inhalte vorgeben. Glaukes Aufgabe ist es unter anderem, dem schlafenden Kilean Stichworte ins Ohr zu flüstern, damit dieser sie zu Träumen für alle umformt. Indes kann der neue Traummeister, der sich zu Beginn selbst noch im Stadium des Experimentierens befindet, die ihm zugedachte Rolle nur unzulänglich erfüllen. Zu fordernd und mächtig schieben sich immer wieder seine eigenen Vorstellungen über das, was geträumt werden soll, in den Vordergrund. Die Unzufriedenheit des Rates über seine Arbeit wächst in gleichem Maße wie die Unzufriedenheit Kileans über die ausbeuterischen Ungerechtigkeiten der Stadtgesellschaft. Nach kurzer Zeit nehmen Kileans Wünsche überhand, und er entfesselt die Mittal, das Zwischenreich der Traumbilder. Chaotische Zustände, blutige Ausschreitungen und die Entmachtung des alten Rates sind die Folge. Der Traummeister entwirft ein Manifest, das eine makellose, rundum humane Utopie proklamiert (S. 183 ff.). In der Idee der gläsernen Stadt metaphorisiert sich die Vision. Glauke übernimmt derweil eine politische Führungsrolle in einem Rat, dem jetzt jeder angehören kann. Schnell offenbart sich ein grundlegender Widerspruch. Im Schlaf leben die Menschen in der blitzblanken, funkelnden, gläsernen Stadt. Am Tag aber müssen sie in einer grauen, staubigen Stadt aus Stein ihrer mühseligen Arbeit nachgehen. Hatte man anfangs noch im Vertilgen der Vorräte geschwelgt, so bedrängen zunehmend Engpässe und Mangelwirtschaft die Bevölkerung. Unter dem Verdikt der Gleichheit werden die Anordnungen und ihre Durchführung immer rücksichtsloser. Dazu trägt eine Geheimabteilung bei (wir würden Stasi sagen), die übrigens schon unter dem alten Regime existiert hat und Kakerlaken-Dienst genannt wird. Alle werden ausspioniert, selbst die führenden Ratsmitglieder. Der sich radikalisierende Kilean vermischt immer stärker Traum und Wirklichkeit miteinander, und die Abhängigkeit der Menschen von Kileans Chimären wächst stetig. Ordnungsstrukturen lösen sich auf. Das Leben nimmt albtraumhafte Züge an. Glauke, den verhängnisvollen Weg erkennend, will Kilean davon abhalten, stößt aber auf taube Ohren. Nach vergeblichen Anläufen, das Unheil abzuwenden, flieht die in Ungnade gefallene Patriziertochter, die Kilean immer noch liebt und auf Versöhnung hofft, in die sengend heiße Wüste. Als sie nach Miscara zurückkehrt, ist alles verloren: der Traumturm zerstört, Kilean verschwunden und die Stadt am Ende. Was mit Glauke und Kilean weiter geschieht, bleibt offen. Miscara aber hat endgültig ausgespielt. Aus dem Anhangtext »Miscara – die Stadt hinter der Wüste. Eine Handreichung« erfährt man, dass der kleine Staat auf eigenen Antrag hin seine Eigenständigkeit aufgegeben hat und Teil des Nachbarlandes Grunelien geworden ist. Im Rahmen der Interpretation soll vorab gefragt werden, ob es sich bei Der Traummeister überhaupt um einen SF-Roman handelt oder nicht doch um Fantasy. Sicher, das Hintergrundszenario mit der Planetenbesiedlung und der aufgezeichneten Entwicklung der planetaren Bevölkerung ist SF. Freilich entstehen erste Zweifel, denkt man an das pseudomittelalterliche Ambiente mit einer Stände- und Gildengesellschaft, an die Adelsgeschlechter und an ab und zu auftauchende Artefakte, die mit einem magischen Nimbus umgeben sind. Es hat sogar, so lässt sich dem Erzählten an mehreren Stellen entnehmen, in Miscaras Vergangenheit Drachen gegeben. Die Unsicherheit verstärkt sich bei den Traummeistern, die an sagenumwobene Zauberer erinnern. Zudem gibt es für die Methode zur Traumübermittlung nirgendwo eine Erklärung. Überhaupt wandelt man über weite Strecken des Textes durch eine atavistische Welt mit einer bewusst altertümlichen Sprache. Vollends irritiert das Abgleiten in die sog. Mittal (nach den Steinmüllers die Mittal, also feminin), ein ominöses, entrücktes mentales Zwischenreich, in dem die Welt auf dem Kopf steht, die Naturgesetze nicht mehr gelten und sich neben Paradiesen auch Dämonen, Monster und Schreckenswelten materialisieren. Ist das nicht pure Fantasy? Ehe die Frage beantwortet wird, will ich mich zunächst intensiver mit dem Wesen des Romans befassen. Strukturell bewegt sich das Werk auf zwei Inhaltsebenen. Auf der ersten Ebene ist Der Traummeister eine ebenso brillante wie verschlüsselt-subtile Kritik an den Verhältnissen in der DDR. Das Schwanken zwischen Vision und...


Frey, Hans
Hans Frey, Germanist, Lehrer, Ex-NRW-Landtagsabgeordneter, Ruhrgebietsfan und Büchernarr, nutzt seit einigen Jahren den sogenannten Ruhestand, um seine alte Vorliebe für die Science Fiction publizistisch aufzuarbeiten. Zu den Ergebnissen gehören unter anderem die umfangreiche Monographie »Der galaktische Voltaire – Die Welten des Isaac Asimov«, das Sachbuch »Philosophie und Science Fiction« und drei Ausgaben der Reihe SF PERSONALITY: »Alfred Bester – Tycoon der Science Fiction«, »J. G. Ballard – Science Fiction als Paradoxon« und »James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod« und natürlich die ersten drei Bände der Geschichte der deutschen Science Fiction: »Fortschritt und Fiasko« (1810–1918), »Aufbruch in den Abgrund« (1918–1945) und »Optimismus und Overkill« (1945–1968).
Hans Frey wurde 2021 für seine Sachbücher zur Geschichte der deutschsprachigen Science Fiction »Fortschritt und Fiasko« und »Aufbruch in den Abgrund« mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet.

Hans Frey, Germanist, Lehrer, Ex-NRW-Landtagsabgeordneter, Ruhrgebietsfan und Büchernarr, nutzt seit einigen Jahren den sogenannten Ruhestand, um seine alte Vorliebe für die Science Fiction publizistisch aufzuarbeiten. Zu den Ergebnissen gehören unter anderem die umfangreiche Monographie »Der galaktische Voltaire – Die Welten des Isaac Asimov«, das Sachbuch »Philosophie und Science Fiction« und drei Ausgaben der Reihe SF PERSONALITY: »Alfred Bester – Tycoon der Science Fiction«, »J. G. Ballard – Science Fiction als Paradoxon« und »James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod« und natürlich die ersten drei Bände der Geschichte der deutschen Science Fiction: »Fortschritt und Fiasko« (1810–1918), »Aufbruch in den Abgrund« (1918–1945) und »Optimismus und Overkill« (1945–1968).
Hans Frey wurde 2021 für seine Sachbücher zur Geschichte der deutschsprachigen Science Fiction »Fortschritt und Fiasko« und »Aufbruch in den Abgrund« mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet.



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