E-Book, Deutsch, Band 1, 110 Seiten
Reihe: Nukleosynthese
Frick / Bachmann / Post Nukleosynthese 1: Wasserstoffbrennen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95869-240-4
Verlag: Amrun Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Science-Fiction Stories
E-Book, Deutsch, Band 1, 110 Seiten
Reihe: Nukleosynthese
ISBN: 978-3-95869-240-4
Verlag: Amrun Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wasserstoffbrennen ist die erste von sechs Sammlungen deutschsprachiger Science-Fiction Kurzgeschichten. Erstveröffentlichungen und überarbeitete Ausgaben stehen nebeneinander – in Anlehnung der großen SF-Anthologien der 80er Jahre.
Mit Erzählungen von
Uwe Post / Oliver Koch / Matthias Falke / Stefanie Bender / Jacqueline Montemurri / Nadine Boos / Tobias Bachmann / Klaus N. Frick / Achim Mehnert
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
A little Bot of Krieg Nadine Boos
Der nächste Morgen. Staubtrocken wie der Morgen davor. Und der Morgen davor. Leon zitterte am ganzen Körper. Sein Gehstock lag auf den unnützen Beinen, er umklammerte ihn wie ein Gewehr. Manchmal war der Stock tatsächlich eins. Und er war eins mit Leon. Dann schoss er damit. Auch wenn er nicht sehen konnte, was und ob er getroffen hatte, musste es tot sein, denn Leon lebte noch. Der Sonnenaufgang biss ihm in die Augen wie ein gehässiges Tier, aber er wandte den Blick nicht ab. Seine Finger bewegten sich ohne Unterlass, tasteten, suchten, fanden immer wieder die kühle Glätte seiner Waffe. Standhaft bleiben. Umgebung beobachten. Bewegungen sehen. Reagieren. Der Feind hatte die Hochhäuser gegenüber zu krümeligen Ruinenstummeln zerbombt und das bestimmt nicht nur, damit Leon ihn sehen konnte. Wer war so blöd, sich selbst die Deckung zu nehmen? Da würde etwas hinterher kommen. Etwas Großes, Gewaltiges. Es war bereit, die Welt einzuäschern, wenn keiner ihm standhielt. Alles war genau wie früher, nichts hatte sich geändert. Von Kindesbeinen an ein Leben für den Krieg. Er gegen den Feind, er gegen die Roboter, gegen die Aliens, die Orks. Und jetzt kamen sie wieder, und wieder würde er seine Pflicht tun, auch wenn er unter der Last der Verantwortung zusammenzubrechen drohte. Sein linkes Augenlid zuckte, er spürte die Hitze des Jagdfiebers im Nacken. Leon war vorbereitet. Er sah die Lichter in der Nacht, er hörte die Schreie der Verwundeten und das Kreischen der Kreaturen in der schwarzen Wüste, er spürte die dröhnenden Explosionen, die den Staub in langen Säulen in die Luft aufsteigen ließen. Wenn alle wegsahen, dann rückte der Feind näher auf und Leon war der Einzige, der es wusste. Der Einzige, der am Fenster saß und ein Gewehr auf dem Schoß hielt. Aber ihm glaubte ja niemand. Bot glaubte an nichts. Er besaß keinen Glauben, nur Wissen. Und präzise Messinstrumente. Glaube war für seinen Beruf absolut unnütz, sonst hätten die Ingenieure ihm ein anderes Programm verpasst. Seine Variablen ließen allerdings zu, dass er den Namen »Bot« akzeptierte und auch viele andere Namen, obwohl er ab Werk auf »Samba George Ultma12.52.98« getauft worden war. Mit der ihm eigenen Präzision öffnete Bot den Wasserhahn wie üblich für 11,26 Sekunden, maß den Strahl aus, hielt inne und öffnete noch einmal für 2,53 Sekunden. Er schickte ein Ticket über die Unregelmäßigkeit an MajDom, wartete auf die automatische Bestätigung des Eingangs und füllte 10 weitere Schüsseln, diesmal mit der verlängerten Periode, die er sorgfältig in seinem Speicher ablegte. Auch die Farbe des Wassers war ein Grund zur Beanstandung. Hierfür hatte Bot schon vor Tagen ein Ticket verschickt. Das allerdings war zurückgekommen. Offenbar gab es eine massive Störung im Labor. Da die Ernährung der Bewohner absolute Priorität hatte, erhielt er den Bescheid, das Wasser zu verfüttern, bis ein gegenteiliger Befehl kam. Lieber schlechtes Wasser, als tagelang überhaupt keins. Bot teilte sein Hand-Werkzeug in zehn kleine Rührstöckchen und verquirlte das Wasser in den Schüsseln mit dem Suppenpulver. Auf den Rücken lud er sich den Kanister mit dem Heißgetränk, in die Seitenschächte kamen frische Windeln, Handtücher, Bettlaken und so weiter. Alles rastete mit der gewohnten Gründlichkeit ein. Seit einer Woche benötigte er nur noch halb so viel Material wie zuvor. Auf dem Weg zum Ostflügel überprüfte er die Verschweißung an der Tür zum oberen Stockwerk. Dort hatte es einen kurzen, überraschenden Sauerstoffabfall gegeben, den der MajDom zwar bemerkt hatte, gegen den er aber nichts hatte ausrichten können. Auf einen Schlag zehn Bewohner weniger, dafür Aasgeruch in allen Fluren, bis Bot die Tür versiegelt hatte. Und der ständige Wind von oben, den hatte Bot damit ebenfalls unterbunden. Musste ein großes Leck sein und warum die Luft draußen für ein paar Stunden so ungesund gewesen war, dafür besaß er keine Vergleichsdaten. Seine Daten besagten: Zugluft war nicht gut für die Bewohner – Leck zuschweißen. Durch die kaputten Fensterscheiben ging der Wind und brachte einen pelzigen Geruch mit sich, der zu süß war, für einen Wintertag und zu klebrig, für den Ruinenstaub von gegenüber. Die Angst überfiel Leon so abrupt wie ein Wadenkrampf, den er nie wieder haben würde. Ganz plötzlich spürte er die Enge des Zimmers, rang um Atem. Die Erde bebte, die Wände waren drauf und dran, ihn unter sich zu begraben, vor dem Fenster herrschte tonerschwarze Nacht. Und der Feind näherte sich. Die volle Wucht seiner Präsenz traf ihn, er packte sein Gewehr fester, legte an, duckte sich, wartete auf Sichtkontakt. Während die Wände ihn noch immer in ihrem Griff hatten. Während die Finsternis noch undurchdringlicher wurde. Standhalten! Wer konnte die Menschheit noch retten, wenn nicht er? Der Panik nachgeben würde bedeuten, alle zu verraten. Oh, dieses Summen im Ohr! Dieser Druck auf seinen Händen, die Vibrationen! Mit welcher Waffe kämpfte der Feind, um ihm das Gewehr aus den Fingern zu nehmen? Wer schüttelte seine Knöchel durch? Und dann begriff Leon, dass der Feind bereits im Haus war. Er fiel vom Stuhl auf den Boden, rappelte sich hoch, zielte und schoss auf das, was durch die Tür seines Zimmers kam. Bot kam herein. »Einen guten Morgen wünsche ich, Le-ch-On« »Bot, alter Junge!«, stammelte Leon. Er lag auf dem Boden. In einem weißen Zimmer. »Bot ...« Der Feind war kein Feind, es war Bot, der wie ein plüschbepelztes Tier auf der Schwelle stand und lächelte. Er sah so menschlich aus und gleichzeitig wie ein Ding, von dem man sich in den Arm nehmen lassen wollte. Tief in sich drin wusste Leon, dass er dem Bot vertrauen konnte. Musste. »Hallo Le-ch-On. Alles ist in Ordnung. Iss etwas. Kommst du alleine hoch oder soll ich dich auf den Stuhl setzen?« Leon wusste nicht, was er wollte. Leon wusste nicht einmal genau, wo er war. Außer Bot erkannte er nichts wieder. Musste vertrauen. Bot unterzog das Zimmer einem raschen Scan. Das Bett war frisch gemacht und er trug das in Leons Akte ein. Wenn das morgen noch so war, würde er dem Bewohner den Stuhl wegnehmen und ihn sedieren, um eine angemessene Nachtruhe zu gewährleisten. Es handelte sich außerdem um den sechsundfünfzigsten Vorfall, bei dem Leon am Morgen auf dem Boden lag und seine Muskeln zuckten. Bot stellte den Stuhl weg vom Fenster, an den Tisch, hob den Menschen auf und setzte ihn hin. Wie immer ließ Leon sich in der Mitte nicht gerne zusammenfalten und wollte liegen bleiben. Den Kampf gegen die Roboterarme gewann er nie. Ganz im Gegensatz zu den Kämpfen, die er nachts gelegentlich gegen Roboterarmeen ausfocht. »Bot, mir tun meine Waden weh«, jammerte er. Bot, der ein sauber durchprogrammierter Pfleger war, rief die Leon-Datei auf und spielte sie über seine Lautsprecher ab. Für jeden Bewohner hatte er eine Datei, die er zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen von sich gab. Routine war im Umgang mit Demenzkranken sehr wichtig. Immer wiederholen. Und immer auf den Namen hören, den der Bewohner festgelegt hatte. Jeder Bewohner hatte Samba George Ultma12.52.98 einen anderen Namen gegeben. Für Leon war er Bot. Während der Zeit, in der die Aufzeichnung lief, konnte Bot das Essen auftragen, widerspenstige oder unselbstständige Bewohner füttern, windeln und das Bett frisch beziehen, wenn es nötig war. »Du bist Le-ch-On Jaschker. Du bist 74 Jahre alt, Le-ch-On. Du bist nie im Krieg gewesen. Du warst Key Account Manager und hast die Welt bereist. Le-ch-On, du hattest eine Familie, eine Frau und zwei Kinder, die dich sicherlich bald besuchen kommen werden ...« Das Wort »Familie« löste etwas in Leon aus. Er setzte sich aufrecht hin, fuhr sich durch das Haar, spürte, wie schütter es war, löffelte noch von der Suppe, die jeden Tag ungenießbarer wurde. Dann strich er seinen Kittel glatt, blickte in Bots Linsen und bat ihn, bei seiner Tochter anzurufen. Bot meldete dem MajDom das Anliegen und dieser gab zurück, dass die Verbindung zum Netz draußen nach wie vor gestört war. Wie immer in solchen Fällen, spielte Bot alte Aufzeichnungen der Tochter ab, die nicht immer zu Leons Fragen passten, diesen aber dennoch erfreuten. Als er registrierte, wie der Blick des Bewohners langsam glasig wurde, beendete er das Gespräch. Den abrupten Übergang bemerkte Leon kaum. Er gaffte unter den Tisch und war mit einem anderen Problem beschäftigt: »Bot, warum habe ich keine Waden mehr?« Innerhalb von Sekunden rechnete Bot aus, ob er Leon eine ehrliche Antwort geben sollte oder nicht. Er versuchte eine Strategie, die auf Ausweichen basierte: »Du hattest Probleme mit der Durchblutung, Le-ch-On.« »Ja, Bot, Granaten beenden die Durchblutung ziemlich schnell.« Er kicherte und sein Gesicht machte klar, dass er Aufmerksamkeit für seinen gelungenen Scherz haben wollte. Bot hatte Leons Mimik gelernt, ordnete sie innerhalb von Nanosekunden zu und klopfte dem Menschen anerkennend auf den Oberschenkel. Dann spulte er Daten ab, die ein Psychiater ihm eingepflanzt hatte: »Du hast zu viel am Computer gesessen, Le-ch-On. Du warst nicht im Krieg. Du bist nie von einer Granate ...« Leon explodierte. »Fuck Plüschbüchse! Keine Ahnung hast du! Keine Ahnung!« Er warf den Suppenteller auf den Bot, von dessen Fell die braune Brühe in Perlen abglitt, den Gesetzen des...