Friese | MTTR | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 421 Seiten

Friese MTTR

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4970-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 421 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4970-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Millenial soll Mutter werden und will alles, nur nicht die eigene deutsche Familie reproduzieren. Ein gesellschafts- und sprachkritischer Roman erzählt drei Trimester – und die Zeit danach.

'Alle Befürchtungen waren wahr, und alles war gerecht gewesen.'

Ein Test im Büro bringt die Gewissheit: Teresa Borsig ist schwanger. Von der Idee einer Familie fühlt sie sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Da sind die Erinnerungen an ihre Kindheit, an Distanz, Disziplin und Schläge. In der Abtreibungsklinik von den Schwestern zum Schlucken der Tablette gedrängt, geht Teresa in den Widerstand: Sie will doch Mutter werden. Nein, Mama will sie werden. Kann man geben, was einem selber fehlt?

Das Gesundheitssystem nimmt die Schwangere auf wie einst die Eltern. Effizient. Kalt. Man will doch nur ihr Bestes. Und ihr Baby in einem Wärmebett isolieren. Wie hoch ist die Überlebenswahrscheinlichkeit ihres Säuglings? Ärzte und Schwestern sprechen über ihren Kopf hinweg. Teresa schreit. Sie solle sich mal nicht so wichtig nehmen, sagt das Krankenhaus.

'MTTR' erzählt von den Auswirkungen deutscher Nachkriegserziehung, erzählt die Unfähigkeit der Babyboomer, Gefühle zu zeigen, und wenn dann nur durch Ersatzhandlungen: Kauf, Korrektur und Sorge. Jeder Dialog ist eine Boshaftigkeit. Fast bemerkt man sie nicht, denn aktengraue Gefühlstemperatur und grobe Unbeholfenheit sind Alltag in Deutschland. Werden Millennials, wie Teresa, sie reproduzieren?

MTTR: Mean Time To Recover bzw. auch Mean Time To Repair (abgekürzt jeweils MTTR) wird als die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall eines Systems definiert. Diese gibt an, wie lange die Wiederherstellung des Systems im Mittel dauert. Sie ist somit ein wichtiger Parameter für die Systemverfügbarkeit. (Quelle: Wikipedia)

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1
Heute Morgen saß sie mir im Rücken. Die Kälte. Tropfte meinen Körper herunter. Glitt mir über die Beckenknochen in die Beine. Legte sich über meine Knie. Rutschte. Sammelte sich in meinen Füßen. Beinen. Als hätte mein Körper versucht, sie auszuschwitzen. Die Kälte. Aber die letzte Membran konnte sie nicht überwinden. Ihr Kondenswasser steht mir bis zu den Knien. Wie Stiefel. Unter der Haut. Kalte, schwere Stiefel stehen unter meinem Schreibtisch, neben einem Container. Auf Rollen. Denn alles muss in Bewegung sein im Büro. Laufen. Das ist nicht der Ort, an dem man innehält. Friert. Das ist der Ort, an dem Zeit in Geld gemessen wird. Also stellt man selbst die Schränke auf Rollen, um sie schnell zu sich zu rollen. Wie auch die Schubladen. Auf und wieder zu. Denn Zeit ist Geld. Das leere Regal neben mir fordert. Ordner soll ich anlegen und Unterlagen abheften. Es meint es nur gut, glaubt, mein Zeuge zu sein, denn es sieht mich jeden Tag, weiß aber eben doch nichts über mich. Wie Yelda. Im Büro sitzt sie mir gegenüber. Auf Polstern so grau wie Beton. Es sind nicht Yeldas Polster. Das Büro hat sie ihr geliehen. Es gibt uns so viel. Das Büro macht uns effizient. Lässt uns überhaupt erst funktionieren. Es ist schon beeindruckend, was sie können, diese zwei miteinander verbundenen Räume. Und die Männer. Sitzen am Fenster zur Straße. Sie sind älter als wir, miteinander reden sie nie. Also wenn sie sprechen, dann am Telefon. Ansonsten sind sie still, denn sie arbeiten. Was Yelda und mir Aufforderung ist, auch zu schweigen. Also zu arbeiten. Dafür bezahlen wir sie, die Männer. Wir mieten eigentlich nicht die Schreibtische, die Regale und rollenden Container, die brauchen wir eigentlich nicht. Wir brauchen die Männer. Denn ohne sie würden wir miteinander reden. Yelda und ich. Unsere Arbeit funktioniert nur so, wie wir sie uns eingerichtet haben. Die Männer haben sich ihr Büro eingerichtet. In ihren Regalen stehen Ordner, ihre Schreibtische sind übersät mit Unterlagen und Einladungen, Stiften und Radiergummirest. Und im Strom ihres Arbeitens – zwischen ihnen – schwimmen zwei Teppiche. Jeden Tag kommen sie zur exakt gleichen Zeit in das Büro. Hängen ihre Mäntel und Parka an die Haken neben der Tür. Reden noch kurz, zwei Sätze, drei Sätze, bis sie dann sitzen. Aufstehen tun sie nur, um sich Kaffee aufzubrühen. In der kleinen Kochzeile, da stehen sie dann, warten darauf, dass aus Wasser und Bohnen eine Auszeit wird, während ihr Blick durch unser Zimmer kreist. Ob wir uns nicht mal ein Bild mitbringen wollten? Oder eine Lampe? Bilder und Lampen scheinen für sie Dinge zu sein, die im Überfluss vorhanden sind. Zuhause. Das muss für sie sein wie ein Wald, in dem man irgendeinen Ast einfach abbrechen kann, ohne dass es dann an Ästen fehlt. Yelda und ich aber wohnen in keinem derartigen Wald. Wir haben uns zwar noch nie gegenseitig besucht, aber ich bin mir sicher, dass unsere Wohnungen sich gleichen. Sie sind Lichtungen. Leer. Uns gehört kaum etwas. Wir haben das Internet. Ich friere. Ziehe den Rollcontainer an mich heran. Seine unterste Schublade habe ich nicht ganz geschlossen, weil es schnell gehen musste. Als ich die Dinge hineingelegt habe, von denen ich nicht weiß, warum ich sie überhaupt besitze. Gekauft habe. Seltsame Dinge sind mit mir passiert in den vergangenen Monaten. Vor zwei Wochen war ich bei meiner Gynäkologin. Obwohl mir nichts fehlte, bin ich auf den gynäkologischen Stuhl gestiegen, und meine Gynäkologin hat den langen, weißen Schallkopf in mich hineingeschoben. Zwischen meine Beine. Um es mir dann noch mal zu attestieren: Mir fehlte nichts. Das sah sie auf ihrem Bildschirm, dass mir nichts fehlte. Ein Rauschen war da, grau und weiß. Und darin sah sie nichts, was ihre Besorgnis hätte erregen können. Nichts, womit sie hätte etwas verdienen können. Ich war völlig umsonst da. In meinem langen, grauen Sweatshirt, mit dem Blick auf meine Beine. Oberschenkel. Im gleißenden Licht der Praxis sahen sie noch blasser aus. Weißer. Fleisch und Knochen eingeschlagen in Pergament, durch das sich rote Zacken versuchten hindurchzukämpfen. Ein Gewitter vor den Augen der Ärztin, der ich meinen Intimbereich öffnete wie ein Bilderbuch. Fleischig. Nass. Ihr Ultraschallgeber in diesem aufgeschlagenen Ich. Dass ich das auch bin – das zwischen meinen Beinen –, das versteht man ja gar nicht. Wenn ich sage, das bin ich, dann meine ich mein Passbild. Meinen Kopf. Hals. Alles bis zu den Schultern. Ich meine nicht die roten Zacken unter meiner Haut oder die Zyste am rechten Eierstock. Die ist immer noch da und weiterhin unauffällig. Dennoch, sagte die Gynäkologin, sollten wir sie weiterhin beobachten. Und ich nickte, obwohl weder sie noch ich diese Zyste jemals beobachtet hatten oder beobachten würden. Die Gynäkologin wird sie immer wieder neu feststellen, ausmessen und dann vergessen. Wie mich. Meine Akte. Ohne Vergessen wäre das alles ja auch gar nicht auszuhalten. Die Zyste erscheint uns immer wieder neu, und das zitternde Fadenkreuz misst sie aus. Fünf Zentimeter. Es ist ein Ritual, das wir seit Jahren pflegen. Ich werde dabei immer auf meine Beine in den Halterungen starren und meine Füße so drehen, dass meine Socken nicht in die Nähe des Gesichts der Ärztin kommen. Mein Intimbereich – ja. Aber doch nicht auch noch meine Füße. Socken. Und wie immer wird sie kaum etwas sagen, denn mir fehlt nichts. Hat nie etwas gefehlt. Und trotzdem hatte ich diesen Termin ausgemacht. Zur Kontrolle, hatte ich am Telefon gesagt. Und das stimmte schon. Ich hatte etwas kontrollieren wollen. Etwas wissen wollen. Über mich. Meine Familie. Ich habe zwei Tanten, aber keine Cousine, keinen Cousin. Meine Tanten haben nicht gekonnt, was meine Mutter gekonnt hat. Die Organe in ihren Bäuchen sind verwachsen. Zusammengegangen zu einem schmerzenden Großorgan. Eine Familie. Die man ihnen entnehmen musste. Herausoperieren. Endometriose. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, dachte ich. Und die Gynäkologin bewegte den Ultraschallgeber in mir. Suchte. Zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. Da sei etwas. Weißes. Es sehe wie Flüssigkeit aus, sagte sie. Es sei anzunehmen, dass ein Eisprung stattgefunden habe. Wenn ich schwanger werden wollen würde, solle ich Folsäure nehmen, sagte sie. Und wenn ich innerhalb eines Jahres nicht schwanger geworden wäre, solle ich wiederkommen. Dann könne man gucken, was man mache. Woran es liege. Aber jetzt. Erst mal. Sähe alles normal aus, sagte sie. Und ich verließ die Praxis ohne Rezept und Überweisung. Normal. Es war eine Zeitverschwendung, mich zu untersuchen, dachte ich, in diesem Aufzug, mit dem ich runterfuhr, von der Praxis in das Einkaufszentrum. Und ich ahnte es schon. Dass ich es jetzt wieder tun würde. Das, was ich in den vergangenen Monaten so oft getan hatte, nicht nachdenken, in die Drogerie gehen, auf dem direkten Weg zu den Schwangerschaftstests, dann zwei Gänge weiter zu den Packungen mit Folsäure. Tabletten sind das, sie stehen bei den Vitaminen für Haut, Haare und Knochen. Ihre Schachtel ist rosa und rot. Für Frauen, kann man darauf lesen. Frauen mit Kinderwunsch und Frauen in Schwangerschaft und Stillzeit. Nach der Packung zu greifen, fühlt sich verboten an, jedes Mal wie Klauen. Im Kaufhaus. Große Pause. Oberstufe. Zwei BHs ohne Sicherung. Der Puls und die schnelleren Schritte, zwischen den Leuten hindurch, die das doch bemerken mussten. Auch wenn sie mir den Rücken zudrehten, mussten sie mich jetzt doch sehen und wer weiß was über mich denken. Schwangerschaftstests und Folsäure. Als wäre ich so eine. Die das will. Schwanger werden. In meinem Sweatshirt an der Kasse, der Blick auf meine Turnschuhe. Nicht hochgucken. Auf das Kassenband. Schwangerschaftstests und Folsäure wie Rasierklingen und Schlaftabletten. Waffen. Für Frauen, die sich den Puls nicht auf-, sondern nur ein bisschen anritzen wollen. Die im eigenen Leben zurücktreten wollen. Hinter sich. Neben sich. Ganz langsam. Ausbluten und nie wieder richtig wach sein. Bleiben, aber verschwinden. Hohläugig. Rundwangig. Ein Hologramm mit zwei »m«. Mama. Unter lautem Krach fiel der Einkauf in die silberne Koppel am Ende der Kasse. Wie indiskret sie ist. Vulgär. Wie sie ausstellte, was ich anstellte. Als wäre das alltäglich. Die Kassiererin schockierte auch gar nichts mehr. Hatte all das schon zu oft gesehen. Nahm mein Geld. Gelangweilt. Scheine zu Münzen. Und die Glastür wich mir aus. Dahinter der Strom der Kaufenden, ich ging unter. In leeren Blicken und vollen Tüten bis zur Drehtür. Draußen – in der Kälte – dann wieder dieser Impuls, den Einkauf wegzuschmeißen. Aufzuhören. Was soll das denn? Was mache ich denn? Seit Wochen. Monaten. Immer wieder. Warum denn? Ich suchte einen Mülleimer. Dachte noch, es wäre besser, den Einkauf auf den Mülleimerrand aufzulegen, damit ihn jemand anders sich nehmen konnte. Jemand, dem er keine Waffe, sondern von Nutzen sein würde. Notwendig sein würde. Aber ich fand keinen Mülleimer, denn es steht kein Mülleimer auf diesem Weg, den ich immer gehe und der mich wieder mit sich riss. Runter. In die Unterführung. Hellblaue Kacheln. Gründelnde Menschen. Noch mehr Plastiktüten. Gelbes U-Boot unter der Stadt. Einsteigen. Abtauchen. Immer der gleiche Weg. Die gleichen Gesichter und keine Regungen. Automatische Türen. Im Stoß hinaus. Hochschwimmen. Zu den immer gleichen Hochhäusern. Wohnhaus. Wohnhaus. Schneiderei. Vietnamese, Türke und im Erdgeschoss unser Büro. Hinter der Tür tauchte ich wieder auf. ...


Friese, Julia
Julia Friese wurde 1985 in Hagen geboren. Sie lebt in Berlin, arbeitet als Schriftstellerin und Kulturjournalistin, veröffentlicht in Literaturzeitschriften und Anthologien. Zuletzt erschien »life starts after breakfast« in »die horen« und »dreams« in der Anthologie »Und ich -« bei Ullstein. Ihr viel besprochenes Debüt »MTTR« erschien 2022 im Wallstein Verlag und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. Für »delulu« wurde ihr das Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds zuerkannt.



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