Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse / Tinius | Herausforderndes Verhalten in Kita und Grundschule | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse / Tinius Herausforderndes Verhalten in Kita und Grundschule

Erkennen, Verstehen, Begegnen
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-038980-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erkennen, Verstehen, Begegnen

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-17-038980-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fachkräfte in Kita und Schule werden immer häufiger mit herausforderndem Verhalten von Kindern konfrontiert, die z. B. durch ihre Lautstärke und ihren Bewegungsdrang viel Raum einnehmen oder die sich sehr zurückziehen. Das Buch bietet Fachkräften, Auszubildenden und Studierenden praxisnahes Wissen zur Gestaltung eines fruchtbaren Umgangs mit diesen Kindern. Im Mittelpunkt steht dabei das Verstehen der Kinder als pädagogische Kernkompetenz. Dafür werden theoretische Grundlagen an konkreten Handlungsbeispielen für unterschiedliche Altersstufen veranschaulicht und der Handlungsprozess in Kita und Grundschule nachvollzogen.
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2          Entstehungsbedingungen von herausforderndem und auffälligem Verhalten
    In diesem Kapitel erfahren Sie etwas über: •  Modelle zur Entstehung von herausforderndem Verhalten; •  Bewältigungsmöglichkeiten; •  seelische Grundbedürfnisse; •  sozial-ökologische Einflussgrößen auf Verhalten. Verhaltensweisen, die als herausfordernd erlebt oder als ›auffällig‹ beschrieben werden, haben oft eine längere Entstehungsgeschichte, sie sind als verfestigte Formen der Begegnung eines Kindes mit seiner Umwelt zu verstehen. Zum Verstehen und Erklären der Ursachen bzw. Entstehungsbedingungen steht eine Reihe von Modellen zur Verfügung. Einige davon, etwa die Vererbungstheorien (›das Verhalten ist vererbt‹) sind sehr einfache und eindimensionale Konzepte, die mittlerweile wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind. Menschliches Verhalten resultiert immer aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren und Einflussgrößen – es gilt, diese Faktoren sorgfältig und individuumsbezogen zu betrachten. Dabei tritt die Schwierigkeit auf, dass einzelne Verhaltensweisen oft mehrere Ursachen haben können, man spricht hier von Äquifinalität: so kann als aggressiv bewertetes Verhalten aus einer Vielzahl von Enttäuschungserfahrungen resultieren: Das Kind versucht, sich durch gewaltsames Handeln durchzusetzen und neuen Enttäuschungen vorzubeugen. Es kann aber auch daraus resultieren, dass ein Kind selbst Opfer von Gewalt war und nicht gelernt hat, soziale Konflikte durch Reden und Kompromissbildung zu lösen. Ebenso kann eine bestimmte Ursache auch zu unterschiedlichen Folgen führen, die sich dann in unterschiedlichen Verhaltensweisen zeigen (Multifinalität): Das oftmalige Erleben von Gewalt kann dazu führen, dass sich ein Kind sehr schnell wehrt und verteidigt, um nicht erneut Gewalt erfahren zu müssen, es handelt dann möglicherweise ›aggressiv‹ gegen andere. Das Erleben von Gewalt kann aber auch zu dauerhaften Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühlen führen und dann zu Rückzug, Lust- und Antriebslosigkeit. Diese Beispiele zeigen: Es gibt zwar eine Menge von Studien über Zusammenhänge zwischen Ursachen und Verhaltens-›Ergebnissen‹ – diese stellen aber bezogen auf das Individuum, auf das einzelne Kind und seine Lebenswelt, immer nur Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten dar, die zu Hypothesen führen, die dann zum Verstehen des je individuellen Kindes und seines Verhaltens (immer wieder) überprüft werden müssen. In Psychologie, Pädagogik und auch Medizin hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass menschliches Verhalten am besten durch ein Bio-Psycho-Soziales Modell erklärt werden kann. Dieses Modell soll daher im Folgenden ausführlich vorgestellt und im Späteren durch ein weiteres Konzept – das der seelischen Grundbedürfnisse – ergänzt werden. Dabei werden zunächst die Einzelelemente des Modells dargestellt und dann betrachtet, wie diese mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen zusammenhängen.   2.1       Das Bio-Psycho-Soziale Modell zur Erklärung von Verhalten
  2.1.1     Die Elemente des Bio-Psycho-Sozialen Modells
Der Grundgedanke des Bio-Psycho-Sozialen Modells besteht darin, dass der Mensch mit biologischen Ausgangsbedingungen auf die Welt kommt und dann im Wechselspiel mit sozialen Faktoren – und den dabei gemachten Erfahrungen – sich die innerseelische Struktur, das ›Selbst‹, bildet. Diese psychische Struktur ist gewissermaßen der Kern der Persönlichkeit, der bewusst oder unbewusst mit der Umwelt, also auch aktuellen sozialen Bedingungen, in Kontakt tritt, und es kommt wiederum zu einer wechselnden Einflussnahme von Individuum und Umwelt ( Abb. 2). Die drei zentralen Elemente des Modells sollen im Folgenden ausführlicher betrachtet werden: Biologische (Ausgangs-)Bedingungen
Bei der Betrachtung der biologischen Ursachen für das Verhalten und Erleben, aber auch für die Entwicklung und Unterschiede zwischen Menschen stellt sich zunächst die Frage nach den erblichen, also genetischen Bedingungen für diese Ursachen. In der Vergangenheit und in der Gegenwart gab und gibt es insbesondere im populärwissenschaftlichen Kontext immer wieder Veröffentlichungen, in denen (Prozent-)Anteile zwischen Vererbung und Umwelt definiert werden. Abgesehen von einer z. T. fragwürdigen Methodik solcher Untersuchungen (vgl. hierzu ausführlich Petermann et al., 2004, Montada, 2008) bilden derartige, vereinfachende Modelle die Wirklichkeit auch nicht nur annähernd ab: Der Prozess der Umsetzung genetischer Voraussetzungen (Genotyp) in sichtbare Merkmale wie Körperumfang oder -ausdruck (Phänotyp) »ist komplex, dynamisch und nicht linear. Darum wird die Annahme einer additiven Beziehung zwischen Anlage und Umwelt vermutlich heute von keinem seriösen Forscher mehr ernsthaft vertreten« (Petermann et al., 2004, S. 249). Bei dem Zusammenspiel zwischen genetisch bedingten Anlagen und Umwelteinflüssen muss man von einer »Ko-Aktion« (ebd.) ausgehen. Menschliche Abb. 2: Allgemeines Bio-Psycho-Soziales Modell Eigenschaften sind »polygen«. Dies bedeutet auch, dass nicht einzelne Merkmale oder Verhaltensweisen im Ganzen vererbt werden. Gerade die neuen Erkenntnisse der Epigenetik (Meaney, 2001a, b; Brisch, 2004) zeigen, dass auf den Genen Möglichkeiten von Merkmalen ›mitgegeben‹ werden, die dann durch Umwelteinflüsse aktiviert werden – oder eben nicht. Die Ausformung genetischer Differenzen ist also – abgesehen von bestimmten Merkmalen wie z. B. der Augenfarbe – von Umweltbedingungen abhängig (ausführlicher: Fröhlich-Gildhoff & Mischo, 2016). Dennoch ist es so, dass Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen auf die Welt kommen, manche sind ›aktiver‹, manche reagieren empfindlicher und lassen sich schlechter beruhigen etc. Diese Unterschiedlichkeiten werden als ›Temperament‹ bezeichnet. In klassischen Untersuchungen (Thomas & Chess, 1989) wurden drei Typen von Temperamentsmustern unterschieden: 1.  »Das einfache Kind (40%) zeichnete sich durch Regelmäßigkeit der biologischen Funktionen, keine Scheu vor unbekannten Personen und gute Anpassungsfähigkeit an neue Situationen aus. 2.  Das schwierige Kind (10%) war demgegenüber gekennzeichnet durch eine Unregelmäßigkeit in biologischen Funktionen, Rückzugsverhalten gegenüber neuen Reizen und eine mangelnde Fähigkeit zu Anpassungen an neue Situationen. 3.  Von diesen Konstellationen wurde das langsam auftauende Kind (15%) abgegrenzt, das sich durch leichte negative Reaktionen auf neue Reize, langsame Anpassungsfähigkeit an neue Situationen nach wiederholtem Kontakt, regelmäßige biologische Funktionen und eine geringe Intensität der Reaktionen auszeichnet« (Schmeck 2003, S. 159f.). Diese drei Temperamentstypen treffen dann allerdings auf Umwelteinflüsse und sind veränderbar: Wenn ein Kind, das zunächst einen sehr unregelmäßigen Schlaf/Wach-Rhythmus hat oder sich schlechter beruhigen lässt, auf eine Umwelt – also: Bezugspersonen – trifft, die sich in Ruhe auf das Kind und seine Bedürfnisse einstellen kann, so kann dieses Kind angemessene Selbstberuhigungsstrategien aufbauen. Umgekehrt kann es passieren, dass ein Kind mit zunächst regelmäßigen biologischen Funktionen in eine Umwelt geboren wird, in der sehr viel Hektik, Streit und Unregelmäßigkeit vorherrschen – dann können die ursprüngliche Ressource des ›einfachen Temperaments‹ und die damit verbundenen guten Voraussetzungen zum Aufbau von Selbstregulationsfähigkeiten verloren gehen. Seit Langem ist bekannt, dass Schadstoffe wie Alkohol oder Nikotin die Entwicklung des Fötus in der Schwangerschaft massiv beeinträchtigen. So führt das sogenannte Fetale Alkoholsyndrom (FAS) zu langfristigen hirnorganischen Schädigungen, körperlichen Missbildungen, Störungen der Sinnessysteme und in der Folge möglicherweise auch zu Verhaltensstörungen (vgl. z. B. Feldmann 2006). Schon im Mutterleib macht der Embryo Erfahrungen – durch Bewegungen oder erste Sinneseindrücke wie das Aufnehmen von Geräuschen –, die dann auch zum ersten Aufbau entsprechender Hirnstrukturen führen. Neuere Untersuchungsmethoden wie die dreidimensionale Ultraschalltechnik zeigen, dass sich auch das Erleben der Mutter auf den Fötus auswirkt: So reagiert der Embryo bspw. durch heftige...


Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Professorin Dr. Maike Rönnau-Böse lehrt dort Kindheitspädagogik. Claudia Tinius ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kinder- und Jugendforschung.



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