E-Book, Deutsch, 215 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
Gaiziunas Die 44 Fallen der Digitalisierung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-648-15644-5
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
...und wie wir alle sie vermeiden
E-Book, Deutsch, 215 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
ISBN: 978-3-648-15644-5
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicole Gaiziunas wollte mit sechs Jahren Kapitänin eines Raumschiffes werden. Statt Weltraumtechnik studierte sie dann doch lieber Betriebswirtschaft und Sozialpädagogik. Dennoch initiiert sie seit über 20 Jahren Raketenstarts in verschiedenen Managementpositionen und an der Schnittstelle von Wirtschaft, Management und Bildung. Heute begleitet sie Unternehmen und deren Beschäftigte auf dem Weg in die digitale Zukunft. Sie ist Gründerin der XU sowie Initiatorin der XU Exponential University Deutschlands erste Hochschule mit Fokus auf Digitalisierung und neue Technologien.
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1. Falle: Schockstarre
Wer weiß davon?
Depressionen und damit verbundene Krankschreibungen haben in Unternehmen, die digitalisieren, teilweise dramatisch zugenommen und nehmen immer noch zu. Das Arbeitsklima leidet. Arbeitsstress, Arbeitsfrust und Unzufriedenheit nehmen ganz neue Dimensionen an, die Produktivität sinkt und die Digitalisierung kommt nicht schnell genug voran. Zudem verschlechtert sich das Klima zwischen Management und Belegschaft deutlich – denn, wie es eine Betriebsrätin in einem Unternehmen der Automobilbranche ausdrückt: »Die gestressten Mitarbeitenden machen nicht die Digitalisierung, sondern die Führung für Stress, Frust, Überlastung und Existenzangst verantwortlich!«
Es ist nicht so, dass diese Herausforderungen ignoriert oder verdrängt würden: Meist sind es Bereichs-, Abteilungsleiter:innen und Betriebsrät:innen, die ganz genau mitbekommen, welche Opfer die Digitalisierung in und von der Belegschaft fordert. Die Herausforderung ist noch nicht einmal: Wie lösen wir jetzt das Problem? Sondern, wie es viele Bereichs-, Abteilungsleiter:innen und Betriebsrät:innen ausdrücken:
»Wie sagen wir das jetzt dem Vorstand und der Belegschaft? Sagen wir überhaupt irgendjemandem etwas?«
Als ich diese Fragen zum ersten Mal hörte, war ich fassungslos. Inzwischen habe ich sie oft gehört und die Fassung wiedergewonnen.
Betroffen bis ins Mark
Ich hätte nie damit gerechnet, dass die Betroffenheit unter gestandenen Manager:innen, die Millionendeals abschließen und ohne nächtliche Alpträume auch mal drei Dutzend Mitarbeitenden kündigen, so groß ist, dass sie sie verstummen lässt.
Wie kann das sein?
Wie können Manager:innen, die aus explosiven Verhandlungen mit harten Bandagen äußerste Ruppigkeit gewohnt sind, die über Effizienz, Produktivität, ja selbst über die Digitalisierung stundenlang referieren können, bei so einem Thema keine Worte finden?
Wenn du auch nur schwach mit dem in Berührung gekommen bist, was landläufig »Digitalisierung« genannt wird, kennst oder ahnst du die Antwort: weil du angesichts der persönlichen Probleme vieler Menschen um dich herum selbst betroffen bist. Nur Menschen, die zu keiner mitmenschlichen Regung fähig sind, würden sich nicht betroffen zeigen, wenn Mitarbeitende und Mitmenschen schwere persönliche Probleme bekommen. Viele Manager:innen hegen inzwischen selbst Zweifel, wie es ein Ressortleiter bei einem großen deutschen Unternehmen formuliert: »Ich überlege selber, ob ich nicht woandershin wechsle, wo es weniger radikal digital zugeht.« Deshalb lautet die Antwort auf die Frage, warum gestandenen Manager:innen die Worte fehlen, wenn Mitarbeitende in digitale Depression verfallen – oder Schlimmeres passiert: Ab einem bestimmten Grad an Betroffenheit fehlen einem schlicht die Ausdrucksmöglichkeiten und man verstummt. Schockstarre tritt ein.
Eine Managerin aus der Fashion Industry drückt es so aus: »Mitarbeitende aus meiner Sparte melden sich wegen der neuen Digitalisierungsprojekte krank. Dafür will ich nicht verantwortlich sein. Ich bin doch kein Unmensch – die Digitalisierung macht mich dazu!« Wer derart betroffen ist, findet keine passenden Worte für die Kommunikation dieser Herausforderung.
Wohlgemerkt: Diese erste Falle der Digitalisierung besteht nicht in der menschlichen Betroffenheit. Betroffenheit adelt ganz im Gegenteil jeden vernünftigen Menschen. Wer angesichts des Leidens seiner Nächsten Betroffenheit empfindet, demonstriert Charakter und Moral. Die Falle entsteht also nicht an der Betroffenheit, sondern vielmehr an der unangemessenen Reaktion darauf: Schockstarre. Man schweigt betroffen und sagt niemandem etwas von den Missständen. Wobei wir uns schon fragen sollten: Sollen wir es überhaupt irgendjemandem sagen?
Sollen wir? – Würdest du?
Sagen oder nicht sagen, das ist hier die Frage
Muss jemand informiert werden? Oder behält man die Bad News lieber für sich, weil das Thema zu unangenehm ist und es »vom Darüber-Reden auch nicht besser wird«? Die Antwort auf die erste Frage ist einfach – sie lautet: ja. Unbedingt.
Informiere Vorgesetzte und Mitarbeitende ausnahmslos, umfänglich und zeitnah!
Die Gründe dafür sind so elementar wie einleuchtend: Wenn Gefahr für Leib und Leben von Mitarbeitenden besteht, endet die taktische Schweigepflicht jeder Führungskraft. Etwas so Gravierendes muss auf den Tisch. Weil erstens die Würde des Menschen das gebietet. Weil zweitens Schweigen das Problem nicht löst. Und weil drittens ein potenzieller Shitstorm existenzbedrohliche Ausmaße annehmen würde, wenn die Bad News nach draußen durchsickern würden – obwohl die Medien sich bei diesem Thema bislang nicht mit Ruhm bekleckert haben. Entweder weil sie ebenso betroffen sind – oder ahnungslos.
Damit ist die Frage »Sag ich’s irgendjemandem?« geklärt. Bleibt die Frage: Wie sag ich’s allen?
Mit Menschen reden
Wie kommunizierst du dieses heikle Thema? Natürlich nicht so, wie das ein Manager, nennen wir ihn Max, formulierte: »Oh Gott, bei uns werden Mitarbeitende wegen unserer KI-Projekte krankgeschrieben! Was sollen wir nur tun?!« Die derart adressierte Kollegin zog daraufhin wortlos beide Augenbrauen hoch. Die linke, weil sie der Inhalt der Nachricht schockierte, und die rechte, weil sie die Kommunikationsschwäche des Kollegen schockierte: So redet man nicht über Missstände. So redet man überhaupt nicht im Management.
Da wir leider auch bei diesem schlimmen Thema über eine Menge Erfahrung verfügen, kennen wir die Best Practice. Ich zitiere zum Beispiel gern eine Abteilungsleiterin eines Anlagenbauers, die wörtlich zum Vorstandssprecher und danach zu seinem Team sagte – das Folgende kannst du als Musterformulierung kopieren, auf deinen spezifischen Kontext übertragen und an deine persönlichen Sprachgewohnheiten anpassen:
»Wir haben vereinzelt Todesfälle in bestimmten Fachbereichen, wobei diese Fälle nach verlässlichen Informationen in Zusammenhang mit Digitalisierungsprojekten stehen. Bislang ist keine Vorstandsinitiative oder Aufarbeitung durch die PR nötig. Ich werde binnen 72 Stunden ein mit den betroffenen Bereichsleiter:innen abgestimmtes Konzept vorlegen, mit dem wir das Problem angehen werden. Das hat oberste Priorität.«
An dieser Stelle wenden erfahrene Praktiker:innen ein: »Aber wenn das Management abwiegelt? Wenn es nichts davon hören will?«
Das Management will nichts davon wissen
Dass das Management nicht reagiert, passiert in der Regel fast schon garantiert dann, wenn man wie Max kommuniziert: hilflos, ahnungslos, ohnmächtig, orientierungslos und aus der Opferrolle heraus – als Führungskraft wohlgemerkt!
Selbst wenn man sich so fühlen sollte, weiß man doch: Ich bin es nicht. Feelings are not facts. Daher wird niemand mit einem Mindestmaß an Führungskompetenz aus der Opferrolle heraus reden, sondern aus der Macherrolle heraus. Also nicht wie Max, sondern eher wie die oben zitierte Abteilungsleiterin. Damit lässt sich das Erwünschte erreichen: Hierarchie und Belegschaft hören zu. Das tun sie immer, wenn kein Opfer, sondern ein erwachsener Mensch zu und mit ihnen spricht.
An dieser Stelle heben gestandene Manager:innen in unseren Coachings und Workshops oft die Hand und wenden ein: »Aber damit ich überhaupt über so was reden kann, muss ich doch selber aus der Schockstarre herauskommen!«
Das stimmt. Die Frage ist: wie?
Raus aus der Schockstarre
Um dich erfolgreich aus der Schockstarre zu lösen, ist es am besten, wenn du herausfindest, was dich überhaupt erst da hineingebracht hat: Was ließ und lässt dich erstarren?
Mach dein Häkchen – Mehrfachnennungen sind möglich und wahrscheinlich:
- Artikulation: Mir fehlen schlicht die Worte.
- Schuldgefühle: Ich habe wohl digitale Veränderungen in meiner Abteilung eingeführt, die mein Team zur Verzweiflung treiben!
- Selbstzweifel: Und wenn es nun daran liegt, dass ich einen Fehler gemacht habe?
- Selbstvorwürfe: Ich habe einfach nicht genügend mit meinem Team gesprochen!
- Objektiv feststellbare Mängel: Ich habe meinem Team zu wenig Zeit gegeben – weil wir nicht mehr hatten!
- Mängel in der Kompetenzentwicklung: Wir hätten mehr Schulungen anbieten müssen!
- Strategische Fehler: Wir haben nie wirklich damit gerechnet und uns konzeptionell darauf vorbereitet, dass einige in der Belegschaft ernsthafte Probleme mit der...