E-Book, Deutsch, 594 Seiten
Reihe: 99 Welt-Klassiker
Galen / Schulze Der Irre von St. James
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-95418-944-1
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 594 Seiten
Reihe: 99 Welt-Klassiker
ISBN: 978-3-95418-944-1
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein junger Arzt aus Deutschland trifft in der englischen Irrenanstalt St. James auf einen nur scheinbar Verrückten, den Adligen Edward von Dunsdale. Nach Erzählung des Einsitzenden wird offenbar, dass er das Opfer seines boshaften Bruders geworden ist, der ihm so sein Erbe streitig machen will. Der Arzt will ihm helfen, um nicht nur der Anstalt zu entfliegen, sondern auch um Dunsdale verschwundene Ehefrau zu finden, die ebenfalls in dieses Verwirrspiel verwickelt scheint. Null Papier Verlag
Philipp Galen, eigentlich Ernst Philipp Karl Lange, wurde am 21. Dezember 1813 in Potsdam geboren und starb am 18. Februar 1899 ebendort. Er war ein deutscher Schriftsteller und Arzt. Er veröffentlichte zahlreiche Unterhaltungsromane, von denen sein bekanntestes Werk, der Kriminalroman »Der Irre von St. James« ist.
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1. Kapitel
Es war in den ersten Tagen des Juni im Jahre 1843, als ich, von einer Reise nach Schottland zurückkehrend, denjenigen Teil Englands betrat, in welchem das steilere Gebirge allmählich in die wellenförmigen grünen Hügel übergeht, die, je mehr man sich dem Süden zuwendet, nach und nach sich in das flache Land verlieren. Es war ein sehr warmer Tag gewesen, und ich hatte, nach meiner Gewohnheit zu Fuß reisend, viel von der Hitze gelitten, so daß ich mit Sehnsucht den kühleren Abendstunden entgegensah, die für den Reisenden so erquickend sind. Mein Herz, noch erfüllt von den Wundern des Hochlandes, wurde getragen von den schönen Naturszenen, die mich umgaben. Ich hatte viele fremde und entlegene Länder besucht, nicht nur, um sagen zu können, ich sei dagewesen, sondern ich fühlte mich als Arzt berufen, den Menschen in seinem freuden- und leidenvollen Treiben zu studieren, und ich hatte es mir diesmal zur besonderen Aufgabe gemacht, alle Krankenhäuser von Ruf, vorzüglich aber die Irrenanstalten, zu besuchen, die in England so musterhaft ausgestattet sind, daß sie sogar eine europäische Berühmtheit erlangt haben. So wollte ich denn eine der namhaftesten dieser Heilstätten aufsuchen, die auf meinem heutigen Wege lag, und längere Zeit darin verweilen – ich meine die Irrenanstalt zu St. James. Mit mancherlei Empfehlungen von London aus versehen und schon daselbst angemeldet, hatte ich von meinem letzten Nachtlager aus mein ganzes Gepäck dahin vorausgesandt und hoffte nun, das alte St. James gegen Abend dieses Tages wohlbehalten zu erreichen. Gerade nicht sehr ermüdet, denn ich hatte nur eine kleine Tagereise gemacht, sehnte ich mich doch, als der Abend näher und näher kam, nach einem Ruheorte. Ich war von der gewöhnlichen breiten Landstraße abgewichen, denn ich liebte es, auf einem schmalen Fußwege zu wandern, der mich bald durch Wald und Feld, bald über Wiesen und Moore lockte; noch war ich in den Jahren jener jugendlichen Lebendigkeit und Willkür, der es ein größeres Vergnügen gewährt, bisweilen auf ein kleines abenteuerliches Hindernis zu stoßen, als die breite Fahrstraße entlang zu gehen, die nichts als das unveränderliche Einerlei darbietet. So war ich also auch diesmal meiner alten Neigung gefolgt und hatte soeben einen schmalen Fußpfad eingeschlagen, der, in schneckenartiger Windung bergab führend, mich in ein kleines, stilles, grünes Tal brachte. Ich stand still und blickte rückwärts die Höhe hinauf, von der ich soeben herabgestiegen war. Die sinkende Sonne, am unbewölkten Himmel langsam dahingleitend, war ihrem Wendepunkte nahe und warf nur noch einige schräge, purpurrot glühende Strahlen auf die höchsten Wipfel der riesigen Bäume jener Anhöhe, während der breite und lange Schatten derselben das tiefere Tal schon dunkler färbte. So meiner stillen Betrachtung hingegeben, ließ ich mich am Fuße einer schlank gewachsenen Tanne im frischen, duftigen Moose nieder und zog meine Karte hervor, um zu berechnen, wie weit St. James wohl noch von meinem jetzigen Ruheorte entfernt sein könne. Doch, wie es mir oftmals ging, konnte ich auch diesmal den Punkt, an dem ich mich gerade befand, nicht genau auf dem Papier finden, und ich war in einiger Verlegenheit, ob ich nicht ganz vom rechten Wege abgekommen sei, als ich zu meiner Beruhigung einige Menschenstimmen vernahm, die von jener schon erwähnten Höhe zu mir ins Tal herniedertönten. Bei genauerem Hinhorchen vernahm ich bald, daß es zwei Knabenstimmen waren, die, einen Doppelgesang ausführend, mit ihren klaren Brusttönen anmutig zu wetteifern schienen. Bald auch trennte sich unfern des Gipfels der Höhe das breite Gebüsch, und ich sah, wie ich vermutet, zwei Knaben, die vorsichtig herabstiegen und eine Last aufzuhalten bemüht waren, die den Berg hinab auf sie niederzustürzen drohte. Es war ein Wagen, der eigentümlich gebaut, jenen Krämerkarren glich, wie man sie so häufig in England von Hunden oder einem alten trägen Pferde fortschleppen sieht. Langsam kamen sie heran, und jetzt gewahrte ich auch hinter ihnen einen älteren Mann, der mit festem Schritte und sicherer Hand den Karren aufhielt, damit er nicht, die Knaben überwältigend, den ziemlich steilen Abhang hinabschieße. Als der von weitem etwas abenteuerlich aussehende Zug ganz in meine Nähe gelangt war, so daß ich ihn einer genaueren Prüfung unterwerfen konnte, rief der eine der Knaben, der augenscheinlich der älteste von Beiden war, indem er von dem Wagen fortsprang und sich auf das Moos, ziemlich dicht an meiner Seite, niederwarf: »Hier wollen wir ein Weilchen rasten, Vater – das war ein abscheuliches Stück Arbeit, den Berg herab!« Die Knaben, in Jäckchen und Beinkleidern von grauer Leinwand gekleidet, auf dem Kopfe ein kleines Mützchen von grünem Tuche tragend, sahen einander sehr ähnlich und waren Brüder, obwohl der ältere, der ungefähr sechzehn Jahre zählen mochte, von bei weitem stärkerem Muskelbau und auffallenderem Gesichtsausdruck war als sein jüngerer Gefährte. Es lag etwas Entschiedenes, Keckes auf seinem wohlgeformten Gesicht, das einen kräftigen und tüchtig sich entwickelnden Geist verriet, während der andere, etwa zwei Jahre jüngere Bruder mit seinen hellblauen Augen und blondgelockten Haaren weiche, kindlichere Züge darbot, die, ebenso offen und fröhlich wie die des anderen, doch eine viel zartere, fast weibliche Organisation verrieten. Dieser angenehme Eindruck, den die Betrachtung der beiden Knaben hervorrief, wurde nicht vermindert durch den Hinblick auf die athletische Gestalt und die auffallend scharf gezeichnete Gesichtsbildung des sie begleitenden Vaters, der von Beruf ein Krämer zu sein schien und über die mittleren Jahre hinaus war, obschon sein dichtes dunkelbraunes Haar noch keine der gewöhnlichen Spuren herannahenden Alters zeigte. Der Umfang seines Armes verriet eine bedeutende Muskelkraft, und der eigentümlich knappe Anzug, den er trug, hob diesen schönen, kräftigen Wuchs nur noch mehr hervor. Im Ganzen war er wie seine Söhne gekleidet, nur hatte er, zum Unterschied von ihnen, einen dunkelroten, von wollenem Zeuge gewebten, handbreiten Gürtel um den Leib geschlungen, der vorn von einer großen Schnalle zusammengehalten...