Gasser Gehirngerecht lernen (E-Book)
2. Auflage 2012
ISBN: 978-3-03905-911-9
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Lernanleitung auf neuropsychologischer Grundlage
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
Reihe: Preselect
ISBN: 978-3-03905-911-9
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 2
Gedächtnis und Vergessen Die Neuropsychologie hat das Verständnis von Gedächtnisprozessen revidiert und neu fundiert. Daraus lassen sich einige Lerntipps entwickeln, die ältere Einsichten bestätigen und teilweise erweitern. 2.1 Von der älteren zur neuen Sicht des Gedächtnisses
Das ältere Verständnis des Gedächtnisses Seit alters her geht man davon aus, dass Menschen ein anlagemäßig mehr oder weniger gutes Gedächtnis haben und dass man sich auf dem Königsweg des Memorierens und Wiederholens eine Sache einprägen und merken kann. Notfalls helfen dabei auch Mnemotechniken und Eselsbrücken, das heißt Gedächtnisstützen. Wer viel auswendig lernt, trainiert damit vermutlich auch sein Gedächtnis und kann so noch im hohen Alter Gedichte aufsagen. Das Gedächtnis erscheint damit als Behälter, als anzureichernde Bibliothek oder als einzufüllender Schubladenstock. Dies dürfte ungefähr eine verbreitete Ansicht repräsentieren, die voller Metaphern (Sprachbilder) ist: Das Einprägen erinnert an den Siegelabdruck im Wachs, das Einspeichern an Kornspeicher usw. Derzeit ist die Computer-Metapher in Mode: Man codiert, decodiert, setzt Hardware und Software ein. Abb. 7: Der klassisch gebildete Lehrer Lämpel weiß: »Repetitio mater studiorum est« (Repetition ist die Mutter des Studierens) Was ist daraus zu lernen? Ohne Repetieren geht es in der Regel nicht – mit Ausnahme emotional starker Ereignisse, die sich auf Anhieb ins Gedächtnis einbrennen. Bis heute hat es sich als gültig und brauchbar erwiesen, gewisse Mnemotechniken und Eselsbrücken einzusetzen. Die Vergessenskurve von Ebbinghaus Eine erste wissenschaftliche Untersuchung des Gedächtnisses hat Ebbinghaus 1885 geleistet und als Vergessenskurve präsentiert: Wir vergessen schon nach zwanzig Minuten oder nach wenigen Stunden mehr als die Hälfte des zuvor bis zum fehlerfreien Abrufen wiederholten sinnlosen Materials (VUP, KEZ, PEL, SOK usw.). Beim Einprägen sinnhaltiger Inhalte fällt die Vergessenskurve weniger steil ab. Zudem verringert das verteilte Üben die Halbwertszeit des Vergessens, wie die folgenden Skizzen illustrieren. Abb. 8: Vergessenskurve nach Ebbinghaus (1885) Was bedeutet die Kurve für das Lernen? Was lässt sich daraus folgern und ableiten? Hier einige heute noch gültige Merkpunkte für das Repetieren: Lerne vor allem Verstandenes, denn Sinngehalt und Verstehen reduzieren das Vergessen! Repetiere verteilt und in zeitlich relativ kurzen Phasen! Beginne bald, am besten noch heute! Verteiltes Lernen ist effizienter als massiertes Repetieren. Teile den Lernstoff auf, lerne wenig aufs Mal, aber lerne auf hundert Prozent, das heißt bis zum fehlerfreien Abrufen! Rufe vor jedem Repetieren das Vorhandene ab und kontrolliere es auf Richtigkeit und Vollständigkeit. Vom Einprägen zum Mehrspeichermodell In einer dritten Phase der Gedächtnisforschung, das heißt in den 50er- bis 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts sind sogenannte Speichermodelle entstanden: Die Metapher des Speicherns (Kornspeicher) löst jene des Einprägens ab. Grob gesehen geht es darum, dass Einprägen und Behalten über mehrere Stufen des Einspeicherns laufen und dass dabei ganz bestimmte Lernaktivitäten erforderlich sind: Was über unsere Sinnesorgane in unseren Kopf gelangt, erreicht für Bruchteile einer Sekunde das Ultrakurzzeitgedächtnis, wird dort gefiltert – und zerfällt, wenn nicht die Aufmerksamkeit die Sinnesdaten in den Kurzzeitspeicher befördert, wo sie durch Rehearsal, das heißt Wiederholen (z. B. einer Telefonnummer), aufrechterhalten werden. Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses (KZG) ist nach dem amerikanischen Forscher Miller auf etwa 7 plus/minus 2, nach neueren Ergebnissen auf 5 plus/ minus 2 Informationseinheiten beschränkt. Soll ein Lerninhalt das Langzeitgedächtnis (LZG) erreichen, um dort verankert und abrufbar zu bleiben, muss er bearbeitet, das heißt geordnet, gruppiert und organisiert bzw. elaboriert und mit vorhandenem Wissen verknüpft werden. Was ist im Hinblick auf das Mehrspeichermodell zu lernen? Um etwas aufzufassen, bedarf es in erster Linie Aufmerksamkeit für den Lerninhalt. Lerninhalte, die beispielsweise aus Wörtern oder Merkmalen, aus Einsichten, Lehrsätzen oder Formeln bestehen, müssen mental, das heißt innerlich, wiederholt werden, um während Sekunden bis Minuten im Kurzzeitgedächtnis zu bleiben. Eine Verankerung im Sinne des Behaltens erfordert vielgestaltige Aktivitäten am Lerninhalt, die vom Anschauen, Betasten, Untersuchen und Identifizieren von Merkmalen über das Gliedern, Gruppieren und Ordnen bis zum Bearbeiten und Verändern (Transferieren, Verdichten oder Kürzen) gehen. Verteiltes Üben ist effizienter als massiertes Repetieren beispielsweise kurz vor einer Prüfung oder Klausur. Auch das Abrufen muss systematisch geübt werden. Zudem gibt es verschiedene Prüfungsformen, die man lernen und optimieren kann. Abb. 9: Das Mehrspeichermodell Die neuropsychologische Sicht Die neuropsychologische Sicht des Gedächtnisses besteht darin, dass unter Gedächtnis nicht ein mehr oder weniger klug einzufüllender Speicher verstanden wird, sondern ein assoziatives, höchst dynamisches Netzwerk, das zeitsensibel und inhaltsdifferent, sowohl explizit als auch implizit funktioniert. Das Gedächtnis ist zwar sehr ausbaufähig, aber auch vergessens- und täuschungsanfällig. Diese Aspekte werden im Folgenden abrissartig erläutert. 1 Das Gedächtnis arbeitet assoziativ-vernetzt Beispiel: Meine Erinnerung an den Mathematikunterricht der Mittelschule bezieht sich nicht nur auf die FIBONACCI-Folge, auf quadratische Gleichungen, Binominalverteilung, Vektorprodukte und elementare Funktionen, sondern auch auf Pestalozzis Bildnis an der Rückwand des Schulzimmers. Bei Lektionsbeginn musste das leider immer wieder leicht verschobene Bild (!) gerade gehängt werden, bevor die Lehrkraft mit dem verhassten Schnellrechnen begann. Ich erinnere mich aber auch an eine Kurvendarstellung auf Millimeterpapier, die von mehreren Schülerinnen und Mitschülern der Lehrkraft als Eigenleistung präsentiert – und je nach Lehrersympathie mit verschiedenen Noten bewertet wurde… Offenkundig werden Lerninhalte nicht computerähnlich in Dateien gespeichert, sondern mittels Assoziationen, die nicht nur Orte und Inhalte, sondern auch Gefühle, Bilder, Ereignisse, Gerüche, Tasterfahrungen usw., vor allem auch Situations- und Kontextmerkmale umfassen. Wir reaktivieren unsere Erinnerung mit Anhaltspunkten und Kontextmerkmalen, also auf eine höchst unzuverlässige Art. Der amerikanische Forscher Gary Marcus bezeichnet denn unser Gedächtnis auch als »Murks« der Evolution, das heißt als umständliche, unelegante und höchst unzuverlässige Lösung (Marcus 2009). Wie wird das gigantische assoziative Netzwerk des Gedächtnisses aufgebaut? In funktionaler Sicht beruhen Gedächtnisprozesse auf der Aktivierung von Neuronen. Von einem aktiven Neuron aus laufen elektrische Signale, sogenannte Aktionspotenziale, über eine Nervenleitung (Axon) in die verdickten Endknöpfe bzw. Anschlussstellen, die man Synapsen nennt. Jedes der rund 100 Milliarden Neuronen hat bis zu 10 000 Anschlussstellen zu andern Neuronen. Das ankommende elektrische Signal löst in der Synapse chemische Prozesse aus. Die Signale werden von Neurotransmittern über den sogenannten synaptischen Spalt zur Postsynapse bzw. über die Empfangsstellen (Dendriten) zum nachfolgenden Neuron übertragen, wo in der Zellwand (Membran) die Ladungsverhältnisse verändert, das heißt erhöht oder geschwächt werden. Durch die geschilderte Erregungsübertragung bilden sich bei wiederholtem Feuern in den neuronalen Netzen zuerst Engramme, das heißt Erregungsmuster, als erste Spuren. Bei häufiger oder besonders intensiver Informationsübertragung entstehen relativ stabile Muster. Überdies entstehen neue synaptische Anschlüsse, und die Empfangsstellen (Dendriten) vergrößern sich. Auch die Neuronen werden intern ausgebaut. Das heißt: Was anfänglich als schwache Spur und Erregung im Sinne der Kurzzeitspeicherung wirksam ist, etabliert sich bei Wiederholung als stabiler Gedächtnisinhalt in strukturell veränderten neuronalen Netzen, die praktisch im gesamten Gehirn, das heißt auf den assoziativen Cortex, verteilt sind. Dies ist der Prozess der Langzeitpotenzierung (LTP): Die Lerninhalte sind assoziativ vernetzt, das heißt langzeitgespeichert und als Verknüpfungsmuster abrufbar bzw. reaktivierbar. Die Erinnerungsstärke hängt denn auch von den Inhalten ab, die damit gekoppelt sind. Ein schulisches Beispiel: Der Begriff »fünf« ist nicht nur mit dem Wortlaut /f-ü-n-f/, mit dem Schriftbild fünf und mit der Ziffer 5, sondern auch mit fünf Fingern und Zehen, mit fünf Kindern einer Familie, mit der Ordinalzahl 5 (zwischen 4 und 6), mit der Mächtigkeit der Kardinalzahl 5 (3+2), mit den fünf Augen eines Spielwürfels, mit dem fünften Teil von etwas, mit dem Fünffachen von etwas, mit der Menge 5, mit der Hälfte von 10 (im Sinne der Operation) usw. gekoppelt. Bereits hier deutet sich an, dass der...