E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Gasser / Loetscher Welt vor Augen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86034-544-3
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Reisen und Menschen
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-86034-544-3
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Welt vor Augen« ist eine Essay-Sammlung besonderer Art. Der Band bedeutet die Wiederentdeckung eines Prosa-Schriftstellers, dessen Arbeiten das Understatement der Tagesschriftstellerei benützten. Manuel Gasser, Mitbegründer der Weltwoche und Chefredakteur der internationalen Kulturzeitschrift du, Homme de lettres, der vom Auge aus schreibt, gestaltet seine Begegnungen mit Städten, Ländern und berühmten Zeitgenossen zu einem erregenden Lese-Abenteuer. Indem Hugo Loetscher jeden Aufsatz knapp kommentiert und die Sammlung als Komposition vorlegt, präsentiert sich »Welt vor Augen« als Porträt eines Prosaschriftstellers nach dessen eigenen Schriften wie auch als eine Art Roman aus Aufsätzen eines Zeitgenossen.
»Ich könnte mir Leser vorstellen, die schon in ihren nächsten Ferien sich aufmachten, um einen Teil von Manuel Gassers zivilisierter Odyssee nachzuvollziehen; Syrakus oder Salisbury, Ägina oder Urbino. Freilich müssten sie bedenken, dass zu solchen Abenteuern des Auges und der Seele zwei gehören im glücklichen Zusammentreffen: Reise und Reisender.« (Golo Mann in Die Weltwoche)
Weitere Infos & Material
Hugo Loetscher: Vorwort
I. D E R P A R A D I E S S U C H E R
Aufenthalt in Monemvasia
Segelschiff im Mittelmeer
II. D I E Z A U B E R G Ä R T E N
Die gute Stunde
Die Päonie
In Holland festgestellt [Bruchstück]
Der Zauberer von Orgeval
Unterm Doppeladler
III. V E R U R T E I L T Z U R E I S E N
Kunst an Ort und Stelle
Herbstfahrt zu Pacher
Wanderungen auf Kreta
Staunen in Apulien
Bei Joan Miró
IV. D A S S C H Ö N E U N D D A S A N D E R E
Ansicht der Stadt Salisbury
Schönheit einer als hässlich verschrienen Stadt
Die andere Möglichkeit
Besuch bei Henry Moore
Die Barackenstadt
V. D I E S P I E L V E R D E R B E R
Im Schutze der Maginotlinie …
»Stadt und Festung Belgrad …«
Brief nach Neuseeland
Land der Kapellen
Acht Tage im unbesetzten Frankreich
Sprung über die Grenze
VI. D A S B Ö S E M Ä R C H E N
Berlin Alexanderplatz 1947
Ruinenkoller
Kleine Berlinerfreuden
Augenschein in Trier
Das Wirtshaus im Spessart
VII. R Ü C K K E H R, O H N E W E G G E G A N G E N Z U S E I N
Die zeitlose Geburtstagsparade
Weekend in Oxford
Streifzüge nach Sardinien
Palermo - Porträt einer Stadt
VIII. L I E B H A B E R D E S A U S S E R O R D E N T L I C H E N
Paris am Donnerstag
Das Lied der Inseln
Nîmes, 28. August 1960
Rom im Winterschlaf
IX. D I E K U N S T D E R N A I V E N A U G E N
Cézanne, einem Kinde erklärt
Urbino - die braune Stadt
Auskunft über den Fotografen August Sander
Beschreibung der Insel Ägina
X. U M S T A U N E N Z U D Ü R F E N
Lob der Camargue
Die Freunde mit dem Denkmal
Syrakus
Aufenthalt in Monemvasia
Was ein Name vermag! Da hatte man in der Schule gelernt, dass der Malvasier-Wein nach seinem Verschiffungsplatz, dem peloponnesischen Hafen Malvoisie oder Monemvasia genannt wurde. Und nun saß ich auf dem Marktplatz von Argos und las dieses Wort an der Stirn eines Postautos – mächtig lockend, obgleich der Guide bleu dem Städtchen nur knapp eine halbe Seite widmet und ihm nicht mehr als ein paar byzantinische Kirchen und Ruinen nachzurühmen weiß. Was riskierte ich schon? Monemvasia liegt an der Spitze des östlichsten der drei Vorgebirge, welche dem Peloponnes die Form eines gelappten Blattes geben; sein Besuch bedeutete darum zum Mindesten eine Reise durch die ganze Halbinsel. Kurzentschlossen löste ich darum eine Fahrkarte. Die Uhr schlug zehn, als wir in Tripolis einen kurzen Halt machten, und schon um halb eins waren wir in Sparta. Doch hielt man dort nur ein paar Minuten. Ich erstand einen Laib noch warmen Brotes, und versehen mit dieser spartanischen Wegzehrung ging es südlich, dem Lauf des Eurotas entlang, das Taygetosgebirge zur Rechten. Der Wagen brauste auf einer schnurgeraden Straße dahin; wenn das so weiterging, mussten wir am frühen Nachmittag am Ziel sein. Es kam anders. Bald bogen wir links ab, und von nun an rumpelte das Gefährt, in eine weiße Staubwolke gehüllt, über ein mit Schlaglöchern durchsetztes Sträßchen – auf Eselsrücken wäre man schneller vorwärtsgekommen. Auch hielten wir vier- oder fünfmal, wie mir schien, ganz ohne Grund, in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern, wo es nichts zu sehen gab und man für Geld und gute Worte allenfalls ein Glas Zitronenlimonade oder ein fingerhutgroßes Schälchen Kaffee erhielt. So vertrödelte man den Nachmittag, das Abendlicht feierte seine Triumphe, der Autobus wurde leerer bei jedem Halt, niemand stieg zu, niemand schien Grund oder Lust zu haben, nach Monemvasia zu fahren, und als wir mit der Dämmerung endlich das Meer erreichten, war ich als einziger Fahrgast übrig geblieben. Dann, plötzlich, bot sich ein Anblick, der für die Unbill der Reise entschädigte: Weit draußen in der schwankenden schwarzblauen Flut ragte ein ungeheurer Felsblock, fast senkrecht aufsteigend und oben abgeplattet, mit dem Festland durch einen langen, schmalen Damm verbunden. Kein Zweifel, ich hatte mein Ziel erreicht, Monemvasia, die »Einwegige« – wenn auch kein Licht die Anwesenheit einer Stadt verriet. Doch wurde meine Geduld auf eine letzte Probe gestellt; denn in dem Dorf am landseitigen Dammende – es trägt den Namen Gephyra = Brücke – wurde noch einmal haltgemacht. Erst als es völlig Nacht geworden war, rumpelte der Wagen über Brücke und Damm dem Felsen entgegen, bog nach rechts ab und hielt schließlich vor einer zinnenbewehrten Stadtmauer. Verzauberung
Bis zu dieser Mauer war der Ausflug nach Monemvasia einer beliebigen Episode gleichgekommen; jetzt und hier hingegen begann ein Zustand, der aus Märchen wohlbekannt ist und mit Verzauberung bezeichnet wird. Er sollte erst damit enden, dass mich das Kursschiff nach dem Piräus entführte. In der Mauer öffnete sich ein Tor. Es war nicht höher und breiter als eine Haustür und führte in einen gewölbten und gewundenen Gang, aus dem man durch ein zweites, inneres Tor die Stadt betrat. Ich gelangte in eine enge, völlig dunkle Gasse, auf deren holperiges Pflaster ganz hinten ein fahler Lichtschein fiel. Dem strebte ich zu und fand ein Kaffeehaus, einen großen und hohen Saal, dessen Wände von oben bis unten mit schwarzgerahmten Bildern bedeckt waren. Die sechs Personen, die sich in dem Raum befanden, saßen nicht an Tischen, sondern mit dem Rücken gegen die Bilderwände, was den Eindruck einer sehr förmlichen gesellschaftlichen Zusammenkunft aus vergangener Zeit machte. Es waren zwei alte Männer in Schwarz, drei Frauen, eine ältere und zwei junge, sowie ein blonder Knabe von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Ich stellte mein Gepäck in eine Ecke und setzte mich an einen Tisch. Eine Weile geschah nichts; dann erhob sich eine der beiden jüngeren Frauenspersonen und entnahm einem Blumenglase eine rote und eine weiße Nelke, die sie mir mit ein paar Begrüßungsworten fast feierlich überreichte. Ich bedeutete ihr, dass ich hungrig sei, worauf die Wirtin hinter einem als Küche dienenden Holzverschlag verschwand und mit Pfannen und Tiegeln zu hantieren anfing. Eine Weile hörte man nichts als das Klappern der Geschirre und das Sausen der Azetylenlampe, welche den Saal notdürftig erleuchtete. Dann wurde aufgetragen: Brot und Wein, ein kurzer, feister, auf dem Rost gebratener Fisch, Gurkensalat, Ziegenkäse und eingemachte Weichselkirschen. Als ich beim Kaffee angelangt war, erschien, durch den Knaben herbeigeholt, eine winzig kleine, wohl über achtzigjährige Dame, ganz in Schwarz, mit einem klugen, freundlichen Vogelgesicht. Da sie fließend und fehlerlos Französisch spricht, versieht sie in Monemvasia die Rolle einer Dolmetscherin und Fremdenbetreuerin. Sie setzte sich an meinen Tisch, fragte nach dem Woher und Wohin, übersetzte meine Auskünfte für die andern Anwesenden auch gleich ins Griechische und eröffnete auf meine Frage nach einem Hotel, dass es ein solches in der Stadt zwar nicht gebe, doch habe man ein leerstehendes Haus als Herberge eingerichtet. Dieses werde mir für eine bestimmte Summe – sie nannte einen lächerlich geringen Preis – gerne und beliebig lange überlassen. Wenn ich mich zurückziehen wolle, brauche ich es nur zu sagen, alles Nötige sei bereits vorgekehrt. Nach einer Weile erschien eine Frau, die zwei brennende Petrollampen und einen großen Schlüssel trug. Sie übergab mir eine der Leuchten und bedeutete, ihr zu folgen. Wir gingen eine krumme, von keinem Licht erhellte Gasse entlang, kamen an einer weißgetünchten Kuppelkirche vorbei, durchschritten einen gewölbten Gang und gelangten schließlich vor ein grüngestrichenes Hoftor. Der Schlüssel drehte sich kreischend im Schloss, und dieses gab einen ummauerten Garten frei, in welchem es süß und betäubend nach Zitronenblüten und Geranienkraut roch. Durch eine enge Tür und über eine mit ausgetretenen Marmorschwellen belegte Treppe gelangten wir in ein Zimmer, in welchem ein frischbezogenes Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Waschgestell sowie eine bauchige Amphora als Wasserbehälter standen. Meine Begleiterin stellte die eine der beiden Laternen auf den Tisch, wünschte gute Nacht und bedeutete mir, das Hoftor hinter ihr zu verriegeln. So war ich nun unversehens Herr über Haus und Garten und hatte als Gefährten nur den gelben Schein der Ölflamme, den Ruf des Käuzchens und den gleichmäßigen Schlag der Wellen. Denn mein Haus stand auf einem Felsbuckel, der fast senkrecht gegen das Meer abfiel. Als ich am andern Morgen mit dem ersten Strahl erwachte und ans Fenster trat, sprang mich die Bläue an wie ein Panther. Der Himmel, das Vorgebirge, die glitzernde Fläche des Meerarms, der Schatten des Hauses – alles blau. Blau vom Flügel der Libelle, Blau von der Leinblume, Blau vom Saphir – alle Arten und Abstufungen von Blau, gesehen durch eine Atmosphäre, klarleuchtend wie ein Block aus Kristall. Nachdem ich mich an der Bläue gelabt hatte, begann ich mein kleines Reich zu inspizieren. Das Haus war uralt, aber reinlich, gut gehalten, der Garten klein, von einer hohen Mauer eingehegt und mit blühenden Stauden und Sträuchern buchstäblich angefüllt. Es gab einen mit Früchten und Blüten besteckten Zitronenbaum, zwei Stämmchen Orangen, einen mehr als mannshohen Geranienstock, einen Granatapfelstrauch, allerlei starkduftende Küchen- und Heilkräuter, eine Rebe, die die halbe Mauer mit Blattwerk übersponnen hatte, Jasmin, ein paar Rosenstöcke und, alle überragend, einen Drachenbaum mit regelmäßig ausgespannten, schwarzgrün geschuppten Ästen. Haus und Garten wirkten aber nicht nur bezaubernd, sondern auch verzaubert. Keine Vogelstimme war zu hören, und über die Mauer drang kein Laut. Stille. Totenstille. Beklemmung mischte sich in das Glücksgefühl. Ich entriegelte das Hoftor, lief kreuz und quer durch die Gassen, fand, dass die meisten Häuser Ruinen waren, bloße Fronten, hinter deren Türen und Fenstern Nesseln und Disteln auf Schutthaufen wucherten. Und was noch stand, war zum größten Teil verlassen, dem Verfall anheimgegeben – wenn es hoch kam, gab es in der ganzen Stadt dreißig, vierzig bewohnte Häuser. Keine Kinder in den Gassen, keine jungen Leute, nur ein paar Gewölbe, in denen ein Alter werkelte oder vom Festland herübergebrachte Feldfrüchte, Eier, Hühner feilgeboten wurden. Auf einem Mäuerchen saß in Silberhaar und -bart der Pope, die gichtigen Hände über der Krücke des Hirtenstabes gefaltet, und um ihn herum, Bernsteinrosenkränze mechanisch durch die Finger gleiten lassend, vier Greise. Beim Frühstück sagte mir die kluge Alte mit dem Vogelgesicht, dass der Felsen, der vor Zeiten vierzigtausend Einwohner gezählt hatte, heute noch hundertfünfzig Seelen beherberge. Lauter Alte. Die Jungen zöge es nach dem Festland, nach Athen. Auch den Knaben von gestern Abend – er arbeite beim Barbier in Gephyra – möchte es wohl nicht mehr lang hier halten. So werde die Unterstadt von Monemvasia bald auch nur ein Name, eine Erinnerung und so tot sein wie die Oberstadt auf dem abgeplatteten Gipfel des Felsens. So war das also: Ich hatte ein Paradies entdeckt, eine kleine Welt der Stille, des Friedens, der Seelenruhe, aber der Preis dafür waren Verfall der Gemeinschaft, Besitznahme des Menschenwerks durch Pflanze und Tier. Ein Schatten fiel auf mein Glück. Wäre es nicht richtiger, ehrlicher gewesen, wenn ich an einem lebensträchtigen...