Genazino | Abschaffel | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Genazino Abschaffel

Roman-Trilogie
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-24231-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman-Trilogie

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-446-24231-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Abschaffel, Flaneur und "Workaholic des Nichtstuns" streift durch eine Metropole der verwalteten Welt. Mit innerer Phantasietätigkeit kompensiert er die äußere Ereignisöde seines Angestellten-Daseins und schlägt alle Zerstreuungsangebote der Freizeitindustrie aus. Im Verlauf der Trilogie unternimmt Abschaffel mehrere kläglich-komische Anläufe zum Ausbruch: Zum Beispiel versucht er sich selbst in der Rolle des Nutznießers von Ausbeutung, als Zuhälter nämlich. Zu guter Letzt jedoch zwingt ihn eine psychosomatische Krankheit zu einem mehrwöchigen Kuraufenthalt. Immerhin eröffnet sich ihm hier endlich die Möglichkeit der Reflektion.
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An einem Dienstagmittag, als Abschaffel vom Essen zurückkehrte, lag der Angestellte Gersthoff zuckend und bleich auf dem Boden des Großraumbüros. Er röchelte etwas Unverständliches, als einige andere Angestellte an ihn herantraten und ihm helfen wollten, ihn aber nur ansahen. Niemand hatte gesehen, wie er umgefallen war. Abschaffel hielt sich in einiger Entfernung, weil er Gersthoff nicht unmittelbar ins Gesicht sehen wollte, und er traute sich auch nicht, sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Abschaffel kannte Gersthoff nicht; er war etwas über fünfzig Jahre alt, still und dick und ängstlich, unbekannt in der Welt und unbekannt im Betrieb. Jemand hatte einen Krankenwagen gerufen, man wartete auf das Eintreffen der Helfer. Jemand hatte Gersthoff aufsetzen wollen, aber Gersthoff wehrte ab, er hatte zu starke Schmerzen. Frau Schönböck stellte sich an Abschaffels Seite und sagte, Gersthoff ist nicht krankenversichert. So, sagte Abschaffel. Ich weiß es bestimmt, sagte Frau Schönböck, er hat damit geprahlt und gesagt, das ist alles rausgeschmissenes Geld. Der Zwischenfall hatte zur Folge, daß nur noch geflüstert wurde. Aus dem Flüstern ragten die beiden Worte Schlaganfall und Herzinfarkt etwas deutlicher hervor. Abschaffel schwieg. Frau Schönböck ging immer wieder hin zu Gersthoff und den anderen und kam dann zu Abschaffel zurück und sagte ihm etwas. Er hat über die Versicherungsgrenze hinaus verdient und war nicht verpflichtet, Beiträge an die Krankenversicherung zu zahlen. Alle haben gesagt, er soll das nicht tun, sagte Frau Schönböck flüsternd, keiner wird gesünder, und jetzt hat er’s. Abschaffel hörte uninteressiert hin. Er war nicht der einzige, der sich in einiger Entfernung zum Geschehen hielt. Der Betrieb war unterbrochen, und die Atmosphäre zwischen den Angestellten war ganz weich geworden. Endlich kamen zwei Männer mit Bahre, sie sprangen mit der leeren Bahre durch das Büro, und Abschaffel mußte etwas über sie lachen. Frau Schönböck kam wieder zu Abschaffel gelaufen. Offenbar wollte sie nicht aus der Nähe erleben, wie Gersthoff auf die Bahre geladen wurde. Und wirklich hatte Abschaffel selbst ein Gefühl der Schwäche, als er sah, wie elend und grotesk ein hinfälliger Körper war. Dieser riesige, massige Körper, der sich ohne fremde Hilfe nicht mehr bewegen konnte. Die Verladung Gersthoffs auf die Bahre dauerte lang, weil Gersthoff immer noch große Schmerzen hatte. Zwischen den beiden Trägern war ein Gespräch entstanden, ob man nicht doch vorher einen Arzt holen sollte. Frau Schönböck mochte nicht mehr hinsehen. Herr Abschaffel, sagte sie, würden Sie mir einen Gefallen tun. Worum geht’s denn, sagte er. Ich müßte heute abend aus der Wohnung meiner Tante einen schönen Tisch und einen Stuhl in meine Wohnung transportieren mit meinem Auto, und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht dabei helfen? Heute abend? fragte Abschaffel überrascht zurück. Ja, sagte Frau Schönböck, ich habe keine andere Möglichkeit. Na gut, sagte Abschaffel. Oh, das ist nett, danke schön, sagte Frau Schönböck. Gersthoff war endlich aufgeladen und wurde hinausgetragen. Die Angestellten sahen dem Abtransport nach. Sie gingen an die Fenster und sahen auf die Straße. Die Bahre wurde auf Rollen und Schienen in den Krankenwagen hineingeschoben. Abschaffel überlegte, ob der Krankenwagen nun mit oder ohne Blaulicht losfährt. Er fuhr ohne Blaulicht, und Abschaffel schloß daraus, daß die beiden Träger Gersthoffs Anfall offenbar als nicht besonders schwerwiegend einschätzten. Die Angestellten gingen an ihre Plätze zurück. Die Weichheit, die der Zwischenfall mit sich gebracht hatte, hielt den ganzen Nachmittag an. Der Schreck hatte die Gesichter anmutig und sanft gemacht. Man ließ sich leichter unterbrechen und schaute länger in die Leere. Alles war etwas langsamer. Der Schrecken des Todes hatte die Lebenden besinnlich gemacht. Der Nachmittag war schön. Nach Feierabend fuhren Abschaffel und Frau Schönböck gemeinsam los. Sie schimpfte auf ihre Familie, besonders auf ihren Bruder, der ihr die Hilfe verweigert hätte. Zuerst fuhren sie zu einer Bekannten von Frau Schönböck, holten dort einen Dach-Gepäckträger ab, den Abschaffel aufschraubte, dann in die Wohnung der Tante. Abschaffel trug Tisch und Stuhl hinunter und band sie auf dem Dach-Gepäckträger fest und trug beides in die Wohnung von Frau Schönböck hinauf. Frau Schönböck sprang um ihn herum und öffnete die Türen und schloß sie wieder. Als sie den Dach-Gepäckträger ebenfalls zurückgebracht hatten, sagte Frau Schönböck zu Abschaffel: Jetzt möchte ich Sie zum Essen einladen. Oh, das ist nicht nötig, sagte Abschaffel. Ich bestehe darauf, sagte sie mit gespielter Hartnäckigkeit, die Abschaffel überhaupt nicht gefiel. Zweifellos mußte sie ihre Dankbarkeit ausleben, vielleicht sogar mehr, wie Abschaffel schon fürchtete. Sie gingen in ein griechisches Lokal, und Frau Schönböck erzählte alles, was ihr einfiel. Sie hielt die Hand über ihr Weinglas und rauchte und sprach von ihrer Kindheit. Abschaffel hätte gern schon jetzt gewußt, wie der Abend enden würde. Er wollte ganz sicher sein, daß er recht bald, das heißt nach dem Essen, von Frau Schönböck loskäme. Weil er dies nicht zuverlässig wußte, störte ihn alles. Es störte ihn der Tropfen Bier, der vom Glas eines Gastes vom Nebentisch auf dessen Zeitung herunterfiel, es störten ihn die Männer, die aus der Toilette kamen und noch immer mit der Schließung ihres Hosenladens beschäftigt waren, und es störte ihn Frau Schönböcks Angewohnheit, abgebrannte Streichhölzer wieder in die Schachtel zurückzustecken. Warum legen Sie immer Ihre Hand auf das Weinglas, fragte er, weil ihn auch das störte. Mache ich das schon wieder! rief Frau Schönböck. Das habe ich von meinem Vater, und ich kann es mir nicht abgewöhnen! Mein Vater ekelte sich vor allem, sagte sie, das fing schon an, als mein Bruder und ich noch Kinder waren, wir kamen aus der Schule und wollten unseren Vater küssen, er ekelte sich aber vor uns und hielt uns mit dem Arm zurück. Er aß auch nicht mit uns! sagte sie. Die ganze Familie aß im Wohnzimmer, er aber aß in der Küche allein, weil er sich davor ekelte, die anderen beim Essen zu sehen und zu hören. Zum Friseur ging er auch nicht, der Friseur mußte in unser Haus kommen, weil er die abgeschnittenen Haare anderer Leute nicht ertragen konnte. Und auch mit dem Friseur konnte er nicht im Haus bleiben; wir hatten einen Garten hinter dem Haus, sagte sie, und im Garten stand ein kleiner Pavillon, und dahinein setzte er sich, der Friseur immer hinterher, weil mein Vater behauptete, die Haare seien voller Bazillen und Haare dürften auf keinen Fall in die Wohnung, sagte sie. Schrecklich, sagte sie. Und warum legen Sie die Hand auf Ihr Weinglas, fragte Abschaffel. Ach so ja, sagte sie, das habe ich ja sagen wollen, wenn er nämlich Wein trank, hielt er seine Hand so über das Glas, wie ich es auch tue, weil er glaubte, damit würde er herumschwirrende Bazillen davon abhalten, in sein Weinglas zu fallen. Das glauben Sie aber nicht, sagte Abschaffel. Nein, natürlich nicht, lächerlich, sagte sie, aber es geht mir nach bis auf den heutigen Tag, denn wir Kinder haben den Vater natürlich nachgeahmt, mindestens eine Weile lang. Als sie gegessen hatten, ging Frau Schönböck auf die Toilette, und Abschaffel war froh, vielleicht für drei Minuten allein sein zu können. Es mußte etwas geschehen. Abschaffel wollte es nicht so weit kommen lassen, daß sie gemeinsam darüber berieten, ob sie weiter zusammenbleiben sollten oder nicht. Gern wäre er einfach gegangen, aber Abschaffel haßte solche betonten Situationen. Eigentlich erwartete er, daß Frau Schönböck bemerkte, was er wollte, und sich ihrerseits verabschiedete. Er fühlte ein gräßliches Durcheinander in seinem Kopf. Er wußte noch nicht einmal genau, warum er mit ihr nichts zu tun haben wollte. Was sie erzählt hatte, war nicht durchgehend langweilig gewesen. Abschaffel hatte sich sogar weiter für den Vater von Frau Schönböck interessiert, und als er bemerkt hatte, daß er für ihren toten Vater mehr Aufmerksamkeit erübrigte als für sie, schämte er sich und wurde stumm. Sie kam von der Toilette zurück, und es war alles zu spät. Mit einem Schwall von Sätzen und Worten setzte sie sich auf ihren Platz, und Abschaffel sah, daß sie sich neu geschminkt, frisiert und eingeduftet hatte, und er mußte einsehen, daß sie sich nicht für eine Verabschiedung hergerichtet hatte. Es ist eine Schande, sagte sie, daß mir mein Bruder nicht geholfen hat, und wenn Sie mir nicht geholfen hätten, dann hätte mir kein Mensch geholfen. Alles, was nun ablief, war für Abschaffel von widerwärtiger Geläufigkeit und wurde deshalb von ihm abgelehnt. Zugleich hatte er das Gefühl, daß sein Anspruch auf Einmaligkeit sentimental und kindisch und unhaltbar war. Es kam ihm der niederschmetternde Gedanke, daß er vielleicht nicht gelernt haben könnte, alles, was öfter als einmal geschah, auch noch gelten zu lassen. Er wollte bloß immer die Butter vom Butterbrot, die Streusel vom Streuselkuchen, und der große Rest bereitete ihm eine Enttäuschung. Weil er sich dies in diesem Augenblick eingestand, war er etwas freundlich. Frau Schönböck redete und blickte umher und freute sich, und Abschaffel bemerkte, daß sie ihm in diesen Augenblicken die Führung des Abends übergab. Er mußte ein Zeichen geben, aus dem klar wurde, daß er verstanden hatte, und er griff in die Innentasche seines Anzugs, holte seine Brieftasche heraus und winkte den Ober herbei. Aber ich habe Sie doch eingeladen, Herr Abschaffel, rief sie lachend, stecken Sie nur Ihr Geld wieder weg. Abschaffel lachte ein wenig, der Ober war am Tisch, und Frau Schönböck zahlte. Die meisten Ober sind immer noch unheimlich verblüfft, wenn Frauen zahlen, nicht wahr, sagte...


Genazino, Wilhelm
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt Die Liebe zur Einfalt (Neuausgabe, 2012), Idyllen in der Halbnatur (2012), Aus der Ferne und Auf der Kippe (Texte zu Postkarten und Fotos, 2012), Tarzan am Main (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), Leise singende Frauen (Roman, 2014), Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016) und Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018).



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