Gentili / Nielsen Der Tod Gottes und die Wissenschaft
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-11-022075-9
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zur Wissenschaftskritik Nietzsches
E-Book, Deutsch, 331 Seiten, Gewicht: 10 g
ISBN: 978-3-11-022075-9
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
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Zielgruppe
Academics, Libraries, Institutes / Wissenschaftler, Bibliotheken, Institute
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Wissenschaften: Theorie, Epistemologie, Methodik
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Wissenschaft
- Geisteswissenschaften Philosophie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Religion & Wissenschaft
Weitere Infos & Material
1;Vorwort;6
2;Inhalt;8
3;Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft. Nietzsches Aphorismus vom tollen Menschen im Kontext seiner Fröhlichen Wissenschaft;10
4;Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche;26
5;Gottestod – Nihilismus – Melancholie. Nietzsches Denkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus;40
6;Kern und Schale. Wissenschaft und Untergang der Religion bei Nietzsche;76
7;Die Schatten Gottes;92
8;Am Leitfaden des Rhythmus. Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik in Nietzsches Frühwerk;116
9;Das „Problem der Wissenschaft“ oder Nietzsches philosophische Kritik wissenschaftlicher Vernunft;132
10;Wille zur Wahrheit;180
11;Genealogie der Wissenschaft. Über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft bei Nietzsche;192
12;Wissenschaft und Unendlichkeit;212
13;Die Wissenschaft und der „Schatten Gottes“;242
14;Nietzsches frühe Fortschrittskritik;254
15;Tolle Wissenschaft? Zum Verhältnis von Gottestod und Naturerklärung mit Blick auf Nietzsche;276
16;„Von Natur aus gut“: Schatten Gottes und Neuroethik;292
17;Morphologie. Eine philosophische Perspektive?;312
18;Namenregister;324
19;Sachregister;328
Wille zur Wahrheit (S. 171-172)
Damir Barbaric´
Nehmen wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen einen Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem die Themen Wissenschaft und Gott unter einem Gesichtspunkt zusammengebracht sind und ihr Verhältnis so eingehend und genau bestimmt ist wie kaum anderswo im Werk Nietzsches. Schon sein Titel „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ (FW 344) soll darauf hinweisen, dass die angebliche Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, auch in ihrer modernen, rein positivistischen Gestalt, eine nur scheinbare ist. Um Zutritt zum Reich der echten Erkenntnis zu erlangen,um das Bürgerrecht in der Wissenschaft für sich zu sichern, müssen alle vorwissenschaftlichen Überzeugungen „sich entschliessen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen“. Das heißt, sie müssen aufhören, überhaupt noch Überzeugungen zu sein. Die strenge Zucht des „wissenschaftlichen Geistes [fängt] damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten“.
Dieser anscheinend ganz selbstverständliche Sachverhalt ist für Nietzsche alles andere als selbstverständlich. Es ist nicht besonders schwer einzusehen, dass dieser Anspruch auf Freiheit von aller Überzeugung in Wahrheit die in aller Erkenntnis und in jeder Wissenschaft herrschende Grundüberzeugung ist. Das heißt, die Wissenschaft ist nie voraussetzungslos. Auch sie beruht auf einem Glauben und einer Überzeugung, und zwar einer „so gebieterische[n] und bedingungslose[n], dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt“. Dieser jeder Wissenschaft vorangehendeundihr zugrunde liegende Glaubenbesteht in derAnnahme,dass die Wahrheit nottut und dass sie der hçchste Wert schlechthin ist. Der unbedingte Wille zur Wahrheit ist als notwendige Voraussetzung aller wissenschaftlichen Erkenntnis einzusehen.
Seinem leitenden Ansatz gemäß, nach dem „das Problem der Wissenschaft […] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“ kann (GT, Versuch einer Selbstkritik 2), geht Nietzsche über den wissenschaftlichen Horizont hinaus und fragt gleichsam rückläufig nach dem Recht des ihn entspringen lassenden und in ihm weiterhin herrschenden Entschlusseszur völligen Voraussetzungslosigkeit. Es ist zu fragen, woher die Wissenschaft selbst wissen kann, dass Wahrheit mehr wert ist als Unwahrheit und Überzeugungslosigkeit mehr als Überzeugung: „Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu kçnnen, ob der grçssere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des Unbedingt- Zutraulichen ist?“Wenn es so ist, dass dem Leben die Unwahrheit nicht weniger als die Wahrheit, das Misstrauen nicht weniger als das Zutrauen notwendig und förderlich ist – und für Nietzsche ist ebendies der Fall –, dann erweist sich die wissenschaftliche Wahrheit lediglich als die verhängnisvolle Vereinseitigung und Verkürzung der vollen und umfassenden Wirklichkeit bzw. ,Wahrheit‘, die Nietzsche hier wie auch sonst schlicht als „Charakter des Daseins“ bezeichnet. Wenn es aber darüber hinaus „den Anschein haben sollte, – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre“, dann kann man nicht umhin, im unbedingten Willen zur Wahrheit „ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip“ zu erkennen:
Es ist kein Zweifel,der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne,wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ,andre Welt‘ bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen?