E-Book, Deutsch, Band 65, 375 Seiten
Reihe: Campus Historische Studien
Gerster Friedensdialoge im Kalten Krieg
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-593-41838-4
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957-1983
E-Book, Deutsch, Band 65, 375 Seiten
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-41838-4
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges veränderte das Denken und Sprechen über Krieg und Frieden.
Daniel Gerster untersucht, welche Beiträge die Katholiken der Bundesrepublik in diesen öffentlichen Debatten geleistet haben. Gleichzeitig zeichnet er die grundlegenden Transformationen nach, die die katholische Gemeinschaft in der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 durchlief. Dabei wird deutlich, dass katholische Akteure bei der Gestaltung der politischen Kultur der Bundesrepublik eine zentrale Rolle spielten.
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Inhalt
1.Einleitung7
1.1Fragestellung: Umcodierungen, Umstrukturierungen, Grenzverschiebungen7
1.2Analytische Rahmenbedingungen: Diskurse, Methoden, Quellen12
1.3Forschungsrelevanz: Religion, Politik, Kalter Krieg22
2.Zögerliche Aufbrüche: Katholiken und die Kontroversen um Atomwaffen, 1957-196531
2.1"Verteidigung allerhöchster Güter": Öffentliche Zurückhaltung westdeutscher Katholiken ungeachtet moraltheologischer Diskurssetzung32
2.2"Katholisches Gewissen": Kritik an der Atombewaffnung als Bestandteil kirchenkritischer Gegendiskurse56
2.3"Christi Frieden im Reich Christi": Wallfahren für den Frieden statt Protestieren gegen Atomwaffen76
2.4"Frieden auf Erden": Die Transnationalisierung katholischer Friedensdialoge im Umfeld des Zweiten
Vatikanischen Konzils100
3.Zahlreiche Umbrüche: Friedensdialoge um Vietnamkonflikt, Befreiungstheologie und Terrorismus, 1965-1977125
3.1"Testfall für die Glaubwürdigkeit": Politisierungsschübe westdeutscher katholischer Friedensgruppen durch
den Vietnamkrieg?126
3.2"Heilsdenken ignoriert die Belange dieser Welt":
Der Beitrag des Vietnamkriegs zur Transformation der katholischen Studentenschaft150
3.3"Entwicklung, der neue Name für Frieden": Verflechtungen von Diskurswandel und institutioneller Transformation während
der "langen sechziger Jahre"172
3.4"Dem Terrorismus eine tragfähige Alternative entgegensetzen": Verhaltene Resonanz der Gewaltfrage im katholischen Raum194
4.Zaghafte Ausbrüche: Katholisches Friedensengagement und der NATO-Doppelbeschluss, 1977-1983220
4.1"Kehrt um - Entrüstet Euch": Katholiken und ihre
Zurückhaltung gegenüber den Protestaktionen
der Friedensbewegung221
4.2"Verzicht auf Sicherheitsdenken": Umcodierungen katholischer Friedensvorstellungen während der frühen achtziger Jahre245
4.3"Sicherung des Friedens in Freiheit": Defensiven und Angriffe katholischer Nachrüstungsbefürworter in den Friedensdiskussionen267
4.4"Gerechtigkeit schafft Frieden": Die katholischen
Friedensdebatten ab 1983 zwischen Konsenssuche und Pluralisierung290
5.Fazit315
Dank326
Abkürzungen328
Quellen und Literatur331
Personen- und Sachregister367
"Wie heiß wird er sein, der Herbst 1983? Wird er erträglich sein? Gefährlich? Oder am Ende gar produktiv?" So fragte Walter Dirks im Sommer desselben Jahres in den Frankfurter Heften. Im Rückblick wissen wir, dass der Herbst 1983 für die Auseinandersetzungen um den NATO-Nachrüstungsbeschluss Höhe- und Wendepunkt zugleich war. Einerseits brachten die Proteste noch einmal zahlreiche Bürger auf die Straße und damit die Argumente gegen eine Nachrüstung zu Gehör, andererseits ebbte die öffentliche Unterstützung mit der Stationierung der Mittelstreckenraketen nicht abrupt, aber doch nach und nach ab. Konsequenterweise fanden auch Diskussionen um Krieg und Frieden 1983 kein unvermitteltes Ende. Dennoch bildete das Jahr eine Zäsur, insofern die öffentliche Relevanz des Themas nachweislich zurückging. Insbesondere die Gefahren der nuklearen Rüstung gerieten zusehends aus dem Blickfeld, zumal mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986 vermehrt die sogenannte "friedliche Nutzung der Kernenergie" im Mittelpunkt der Kritik stand und das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 schließlich öffentliche Debatten um Nuklearwaffen auf ein Minimum reduzierte. Das Jahr 1983 markiert dementsprechend einen geeigneten Schlusspunkt für meine Studie katholischer Friedensdialoge. Im Folgenden werden abschließend die zentralen Transformationsebenen akzentuiert, welche die Untersuchung zutage gebracht hat.
Erstens ließen sich weitreichende und dauerhafte, inhaltliche Umcodierungen offenlegen, die allerdings weder homogen noch linear vonstattengingen. Hierbei fällt als Erstes ins Auge, wie stark sich Inhalt und Stellung der traditionellen katholischen Lehre vom Gerechten Krieg im Zuge des atomaren Wettrüstens wandelten. Unter Pius XII. bemühte sich das kirchliche Lehramt zunächst vehement, die Lehre zeitgemäß umzuformulieren, indem es das Recht auf staatliche Selbstverteidigung herausstellte. Anhand des westdeutschen Beispiels konnte allerdings veranschaulicht werden, dass dieser Wandel auf nationaler Ebene zunächst nur eingeschränkt nachvollzogen wurde. Während der sechziger Jahre trat das Konzept des Gerechten Krieges in katholischen Äußerungen zu Krieg und Frieden dann generell in den Hintergrund, ohne dass es - wie das Konzilsdekret Gaudium et Spes beispielhaft belegt - freilich aufgegeben wurde. Vielmehr behielt die Vorstellung eines staatlichen Selbstverteidigungsrechts unter möglicher Verwendung nuklearer Waffen im katholischen Raum seine Bedeutung. Das ließ sich unter anderem anhand der Aussagen von Nachrüstungsbefürwortern und -gegner der frühen achtziger Jahre belegen. Es wurde jedoch vermieden, diese Auffassung als "Lehre vom Gerechten Krieg" zu bezeichnen.
Im Gegenzug trat verstärkt ein erweitertes und dynamisches Friedensverständnis in den Vordergrund. Es verstand Frieden nicht länger ausschließlich als Nicht-Krieg, der einzig durch militärische Maßnahmen zu sichern sei. Frieden galt in wachsendem Maße vielmehr als die fortdauernde Aufgabe, sich für eine gerechtere und sozialere Welt zu engagieren. Solche Friedensvorstellungen konnten vereinzelt bereits für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden, eine weitreichende Schwerpunktverschiebung vollzog allerdings erst Papst Johannes XXIII. Er betonte in seinen Schriften, insbesondere in der Enzyklika Pacem in Terris von 1963, die Bedeutung von friedensfördernden Maßnahmen wie die Durchsetzung von Menschenrechten und die Intensivierung von Entwicklungshilfe und -politik. Das Zweite Vatikanische Konzil schloss sich diesem Friedensverständnis an und versuchte, es mit der Lehre vom Gerechten Krieg in Einklang zu bringen. Die Würzburger Synode, welche die Beschlüsse des Konzils in die pastorale Praxis der Bundesrepublik übertragen sollte, schrieb dieses Spannungsverhältnis Mitte der siebziger Jahre für den katholischen Raum Westdeutschlands fest.
Mit der geschilderten konzeptionellen Entwicklung korrespondierte ein grundlegender Wandel der katholischen Friedenspraxis, der im vorliegenden Buch auf mehreren Ebenen nachgezeichnet werden konnte. Am deutlichsten trat er in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit zutage, deren stark missionarischer Charakter seit den fünfziger Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt war und die während der sechziger und siebziger Jahre eine weitreichende institutionelle und inhaltliche Umgestaltung erfuhr. Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit der Arbeit der Friedensgruppe Pax Christi auf die herausragende Bedeutung der Versöhnungsarbeit verwiesen, die westdeutsche Katholiken zunächst gegenüber Frankreich und später gegenüber Polen praktizierten. Im Kontext der katholischen Jugendarbeit erlangte ferner der Einsatz für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einen überragenden Stellenwert. Beide Entwicklungen wurden begleitet von einer Verwissenschaftlichung katholischer Friedensarbeit, die sich seit Ende der sechziger Jahre beispielsweise in den Äußerungen des Bensberger Kreises nachweisen ließ. Insbesondere im Kontext des Vietnamkriegs kam es schließlich, wie weiter unten noch eingehender diskutiert wird, zur Politisierung katholischer Friedensvorstellungen in einzelnen Studentengemeinden, linkskatholischen Gruppen und Teilen von Pax Christi.
Die Diskussionen und Proteste der frühen achtziger Jahre bestätigten letztlich die umfassenden Umcodierungen katholischer Kriegs- und Friedensvorstellungen. So lag sämtlichen Diskursbeiträgen ein erweitertes und dynamisches Friedensverständnis zugrunde, ohne dass freilich im Sinne eines radikalen Pazifismus ein staatliches Selbstverteidigungsrecht gänzlich aufgegeben worden wäre. Innerhalb des gemeinsamen diskursiven Rahmens waren jedoch divergierende Einstellungen darüber zu finden, wie die katholischen Friedensvorstellungen in eine konkrete politische Praxis umzusetzen seien. Diese Gegensätze korrespondierten weitgehend mit Spannungen im zeitgenössischen Sicherheitsverständnis, wurden jedoch öffentlich als grundlegende Meinungsverschiedenheiten unter den westdeutschen Katholiken wahrgenommen. Tatsächlich fußte die anhaltende Pluralität katholischer Friedensbeiträge jedoch auf einem gemeinsamen Fundament, von dem es, wie die Widerstands- und Pazifismusdiskussionen des Jahres 1983 gezeigt hatten, nur in geringem Maße grundlegende Abweichungen gab.