E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Geßner Der blaue Fisch
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-947508-91-4
Verlag: Innenwelt Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über den Zeitgeist
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-947508-91-4
Verlag: Innenwelt Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer oder was ist eigentlich der Zeitgeist? Man kann ihm wohl nicht direkt in die Augen schauen. Jedoch spiegelt er sich in der Art, wie wir uns selbst und die Welt wahrnehmen: in unserem Bewusstsein. Geßner beleuchtet in seinen Texten einige machtvolle Annahmen des modernen Bewusstseins, die uns häufig wie von unsichtbarer Hand im täglichen Leben leiten. Beim Thema Pandemie ist es z. B. ,die Wahrheit': »Das prominenteste Opfer einer Pandemie ... ist die Wahr heit. Nicht etwa, weil nie- mand sie hören will, sondern weil alle danach suchen. Je mehr sie verfolgt wird, umso ungreifbarer wird sie. Je unerbittlicher sie verteidigt wird, umso unausweichlicher verschwindet sie.« Geßners präzises Denken und Schreiben ermöglichen es, einen Schritt zurückzutreten und das eigene wie das kollektive Leben klarer zu sehen. Bei aller Ernsthaftigkeit erlaubt er sich dabei das eine oder andere Augenzwinkern.
Geboren 1964 in Halle (Saale), wuchs Thomas Geßner als »Pfarrerskind« in einer musikalisch und literarisch interessierten Umgebung auf. Durch die kritische Haltung seiner Familie gegen das System der früheren DDR war ihm die alltägliche Zugehörigkeit zu den Altersgenossen verwehrt. Er wollte Medizin studieren, wurde jedoch wegen verweigerter Jugendweihe nicht zum Abitur zugelassen. So lernte er zunächst das Tischlerhandwerk, holte später die Hochschulreife nach und studierte Theologie. Er war 20 Jahre lang evangelischer Pfarrer, bevor er sich 2011 nach gründlicher Ausbildung ganz dem Aufstellen zuwandte. Heute arbeitet er freiberuflich als Lehrtherapeut (DGfS) für Systemaufstellungen und als Berater, so- wohl in seiner Geburtsstadt Halle (Saale) als auch deutschlandweit und in vielen europäischen Ländern.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Über dieses Buch
1. Gesehen werden
2. Über den Zeitgeist
3. Große graue Hunde
4. Pandemie und Wahrheit
5. Trauma, Illusion und Wahrheit
6. Das Menschliche und das Fremde
7. Von der Reinheit
8. Soll und Sein und Glück
9. Glückliche Zeiten
10 Vom Sehen
11. Von der Ohnmacht
12. Du darfst deinem Leben erlauben
13. Symbiose, Psyche und Versöhnung
2.
ÜBER DEN ZEITGEIST
Manchmal komme ich mir vor wie jener blaue Fisch in der Südsee, von dem Sie vielleicht schon gehört haben. Sein Nachbar fragte ihn morgens, wie er denn heute das Wasser finden würde. Der blaue Fisch antwortete erschrocken: „Welches Wasser?“ Er trifft damit die Voraussetzungen für meinen Versuch über den Zeitgeist und seine Rolle im Zusammenspiel von Kollektivem und Individuellem. Wir werden das Wasser für kurze Momente verlassen müssen, um ein klein wenig vom uns umgebenden Zeitgeist wahrnehmen zu können. Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal auf Ihr Smartphone geschaut haben? Vor zehn Sekunden, vor zwei Minuten oder gestern? Ich gerade eben. Ich wollte wissen, wie kalt es draußen ist. Sieben Grad Plus. Und ich musste nachschauen, ob ich am nächsten Wochenende tatsächlich frei habe. Kalender, Mails, Nachrichten, WhatsApp, Blutdruck-App, 1.000 Stunden Musik, 27 Fotoalben inklusive der letzten erinnerungspflichtigen Mahlzeiten, ein Fotoapparat, eine Videokamera, ein Diktiergerät, YouTube, Hunderte von Adressen, amerikanische Militärtechnik (GPS) und ihre Anwendungen in Landkarten und Stadtplänen, Ortungsdiensten und Bewegungsprofilen, das Internet mit seinen Cookies (die mir noch immer Gemüseschäler auf den Minibildschirm zaubern, nachdem ich vor zwei Wochen einmal einen solchen gesucht hatte), eine Fitness-App (unbenutzt), mein Bahnfahrplan inklusive Tickets und Verspätungsmeldungen, ein Stimmgerät, eine Lupe, eine Taschenlampe, einen Wecker – und ein Telefon: tatsächlich. Was ich meinem Smartphone noch immer übel nehme, ist, dass man sich nicht damit rasieren kann. Ein integrierter Föhn wäre ebenfalls praktisch. Das Smartphone: Symbol der Freiheit und Suchtmittel zugleich, gestaltgewordene Unabhängigkeitserklärung und der feuchte Traum aller Geheimdienste in einem. Mein Tor zur Welt und genau darin der Schlussstein jener unsichtbaren Wand, die mich rettungslos von der Welt separiert. Das Smartphone bereitet mir in der Verbundenheit mit allem und jedem die höchsten Wonnen der Symbiose. Gleichzeitig lässt es mich mutterseelenallein zurück, denn die Verbundenheit ist virtuell, sie besteht nur in meiner Vorstellung, im technisch-abstrakten Raum des Digitalen. Sie ist eine Illusion. In Wirklichkeit sitze ich allein mit mir und starre auf einen viel zu kleinen Bildschirm. Ich könnte sogar mit ihm reden. Das Smartphone antwortet mit sanfter Stimme, aber da lebt niemand. Oder vielleicht doch? GEIST UND ZEIT
Eine präzisere Illustration zum Zeitgeist als das Smartphone und seinen allumfassenden Platz in unserem Alltag finde ich nirgends. Daher könnte ich jetzt schon mit meiner kleinen Untersuchung aufhören. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass ich mit dem bloßen Gebrauch des Smartphones nichts über den Zeitgeist aussage, sondern ihn vollziehe. „Der Zeitgeist bin ich“, sozusagen, in Abwandlung einer Ludwig XIV. zugeschriebenen Staatsdefinition. Ich kann nichts anderes sein als der Zeitgeist, ich kann nichts über ihn schreiben, ohne dass er selbst mir die Finger führt. Denn ich und Sie und wir alle hier sind seine Geschöpfe, während wir ihn immerfort mit unserem Alltagsleben herstellen und ausgestalten. Ich müsste einen Ort außerhalb der Zeit finden, um etwas über die aktuelle Zeit und über ihren Geist, über das, was sie belebt und beseelt, aussagen zu können. Es gibt diesen „Ort“, er ist immer da, dazu jedoch später. Vorher schaue ich genauer auf jene beiden Begriffe, aus denen sich der „Zeitgeist“ zusammensetzt, auf „Zeit“ und auf „Geist“. Zu „Geist“ fällt mir ein hebräisches Wort ein: „Ruach“, der „Geist Gottes“. „Ruach“ schwebte zu Beginn der Genesis „über den Wassern“, als die Erde noch „wüst und leer“ war. Gott pustete dem Menschen, welchen er später aus Lehm geformt hatte, seinen „Ruach“ in die Nase, und „so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen“. Als dann in der Antike die griechische Sprache nötig wurde, um den Hintergrund des hebräisch-aramäischen Jesus in Europa einordnen zu können, verstand man den „Ruach“ Gottes mithilfe des griechischen Wortes „Pneuma“. Es bezeichnet wie sein hebräisches Pendant eine Mischung aus Eigenschaft und Tätigkeit: „lebendig“ und „atmen“. Die deutsche Übersetzung von „Pneuma“ heißt „Geist“, im Sinne von: „atmende Lebendigkeit“. Die Frage nach dem aktuellen „Zeitgeist“ verändert sich nun: „Wo, wie und auf welche Weise hat diese Zeit ihre atmende Lebendigkeit?“ Um davon etwas sehen zu können, schauen wir auf den anderen Teil von „Zeitgeist“: Was ist „Zeit“? Im physikalischen Sinne scheint „Zeit“ ein Ausdruck des Energieerhaltungssatzes zu sein, und zwar in seiner Grundfunktion der Entropie (ruhig weiterlesen, es ist nicht das, wonach es aussieht): Energie entspannt sich immer von einem höheren, konzentrierteren Niveau in ein niedrigeres, weniger konzentriertes Niveau. Ein Beispiel: Gerade eben stellt mir der Kellner frischen Kaffee hin, heiß und dampfend. Diesem Kaffee würde es niemals einfallen, noch heißer zu werden, indem er seiner Umgebung, etwa der Kaffeehausluft, Energie entzieht. Er tut das Gegenteil: Er passt sich der Umgebung an, gibt Wärme-Energie ab und erreicht langsam die Lufttemperatur hier im Raum. Um das zu schaffen, braucht er unfassbar viele winzige Momente hintereinander. In jedem dieser Momente gibt mein Kaffee ein kleines Quäntchen Energie ab, während die umgebende Luft (oder mein Magen) dieses Quäntchen übernimmt. Meinem Magen wird dabei wärmer, der Luft im Café ebenfalls. Genau diese Abfolge von Momenten des Energieausgleichs nennen wir „Zeit“. Die physikalische Zeit entspringt seit dem Urknall dem Phänomen des Energieausgleichs, und sie geht immer in Richtung Entspannung. Eine weitere Funktion des Energieflusses von der Konzentration zur Entspannung heißt „Raum“. Sie ergibt den Platz für die Bewegung des Energieausgleichs. Auch der Raum „fließt“ in Richtung Energie/Entspannung: Das Universum dehnt sich mit wachsender Geschwindigkeit offenbar immer weiter aus. Zeit und Raum sind die Bedingungen, innerhalb derer überhaupt etwas da sein kann, wir Menschen zum Beispiel und unsere Welt. „Zeitgeist“ wäre damit auf unsere „atmende Lebendigkeit“ in dem aktuellen Raum-Zeit-Fenster des knapp vierzehn Milliarden Jahre alten Universums eingegrenzt. Nun sind „atmende Lebendigkeit“ und „physikalische Zeit“ zwei „Dinge“, die verschiedenen Welten angehören. Physikalische Zeit ist (wie der physikalische Raum) Grundbaustein der Welt der Formen, also dessen, was da ist. Atmende Lebendigkeit ist formlos, sie ist nicht da, sondern entfaltet sich in dem, was da ist: etwa in uns Menschen. Die Momente, in denen ich wahrnehme, wie der Kaffee meine Zunge trifft und seine Wärme meinem Magen schmeichelt, finden außerhalb der Zeit statt. Sie sind mein „Leben“, nicht meine „Zeit“. „Zeit“ (und „Raum“) sind physikalische Vorgänge. Die Lebendigkeit ist das, was diese Vorgänge wahrnimmt und in ihnen oder durch sie stattfindet. Anders gesagt: „Lebendigkeit“ ist meine Essenz, „Zeit und Raum“ bilden meine aktuelle Form: ein mittelalter, männlicher Mitteleuropäer. Wenn man unmittelbar lebt, ist man im „Jetzt“, das ist außerhalb der Zeit. „Zeit“ und „Raum“ sind tatsächlich etwas anderes als unsere „atmende Lebendigkeit“ selber. Sie können diesen Unterschied wahrnehmen, wenn Sie sich von etwas vollkommen in Anspruch nehmen lassen, ohne dabei bewusst nachzudenken, wenn also Ihre atmende Lebendigkeit sich in etwas gerade Aktuellem verlieren, verströmen und wiederfinden kann. Dann spüren Sie keine Zeit, sie ist einfach weg, im Nu verflogen. Sei es im Zusammensein mit einem geliebten Menschen, sei es mit einem guten Buch, sei es bei einer spannenden Tätigkeit, sei es mit Gedanken, Ideen, Gefühlen, Körperwahrnehmungen usw. Die moderne Wissenschaft nennt dieses Phänomen „Flow“, die meisten spirituellen Schulen nennen es „Leben“. ABHÄNGIGKEIT UND KONTROLLE
Wo haben nun die kollektiven Erscheinungen unserer Gegenwart ihre Essenz, ihre Lebendigkeit, ihr Beseeltsein, und wie wirken sie in unser individuelles Leben hinein? Anders gefragt: Was macht der Zeitgeist mit uns? Nach meinem Eindruck hat unser Zeitgeist seine Lebendigkeit, sein Beseeltes im Reich des Virtuellen. Er lebt in gedanklichen Bildern, in kollektiven Vorstellungen über uns selbst, über die anderen und die Welt. Der Geist unserer Zeit gibt uns ein klares Ziel vor: die möglichst umfassende Kontrolle über uns selbst, über die anderen und die Welt. Seine Vorstellungen (und damit die Vorstellungen der meisten heute lebenden Menschen) über das Dasein leiten sich aus diesem Ziel der umfassenden Kontrolle ab. Außerdem hat unser...