E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Reihe: zur Einführung
Geyer Epikur zur Einführung
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96060-029-9
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-029-9
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3. Physik – Meteorologie – Ethik. Die Lehrbriefe
Ein Blick auf die vielgestaltigen Ausprägungen dessen, was seit dem klassischen griechischen Zeitalter Philosophie heißt, zeigt ungeachtet der Vielfalt der Interpretationen einen Grundtenor des Denkens und Argumentierens, der bis in die systematischen Überlegungen hineinreicht, die so genannte »Klassik« von anderen Formen des Philosophierens zu unterscheiden. Dieser Entwicklungsgang wird im Wesentlichen von zwei Größen bestimmt, die sich situativ je verschieden gewichtet mit den Stichworten der Weltdeutung und der Handlungsnormierung verbinden. Ihr unterschiedliches Zusammenspiel hat M. Weber rückblickend mit der Frage verbunden: »Wenn die Welt als Ganzes und das Leben im Besonderen einen ›Sinn‹ haben soll – welches kann er sein und wie muß die Welt aussehen, um ihm zu entsprechen?«15 Die philosophische Systematik versucht gemäß dieser Fragestellung die Welt als das Ganze in einer Weise zu rekonstruieren, dass sie vorgegebenen, vorausgesetzten oder angenommenen Sinnkonstruktionen entspricht. Diese Systematik erscheint immer dann als völlig schlüssig, wenn die Frage danach, was jeweils vorgängig sei, der unterstellte Sinn oder die Annahme der Welteinrichtung als einer sinnvollen, sich gar nicht erst stellt. Das Ineinander von Sein und Sinn verweist auf drei unterschiedliche Funktionen der Philosophie, die ihrerseits die Antwort auf ebenso viele Erwartungen darstellen, die an die Philosophie herangetragen wurden und werden, nämlich die Erklärungs-, die Deutungs- und die Trostfunktion von Philosophie. Wie sehr diese Funktionen von Philosophie in der Antike zusammengehörten und eine Einheit bildeten und gerade so zur Ausprägung dessen beitrugen, was wir seither mit dem Namen »Philosophie« belegen, wird bei kaum einem anderen Autor aus der Antike so deutlich wie bei Epikur. Seine kurze methodologische Reflexion im ersten Lehrbrief präzisiert dies und erhebt es zum Kennzeichen des Philosophierens schlechthin. Um sich bei philosophischen Erörterungen nicht im Unendlichen zu verlieren, empfiehlt Epikur, bei jedem Wort müsse der zugrunde liegende Gedanke »gleichsam mit den Augen geschaut [werden] und keines Beweises bedürfen«: Die Prinzipien der wissenschaftlichen Erklärung müssen evident sein. Erst diese Evidenz ermöglicht die Deutung, denn es gilt, »die sinnlichen Wahrnehmungen genau festzuhalten, sowie die dabei sich einfindenden Anregungen des Denkvermögens oder sonst welcher Beurteilungsinstanz, in gleicher Weise aber auch die begleitenden Affekte, auf daß wir daran einen Anhalt haben für die Deutung des Kommenden und Unbekannten. Ist man darüber ins Reine gekommen, so gilt es, über das Unbekannte seine Ansicht zu bilden.« (DL X, 38 [240]) Implizit wird damit auch der Aspekt des Trostes angesprochen, hinsichtlich dessen für Epikur feststeht, »daß man nicht aufgrund klarer Begriffe, sondern in überlegungsloser Seelenverfassung in diese Stimmung gerät, woher es denn kommt, daß, wenn man dem Schreckhaften keine Grenze setzt, man zu der gleichen oder noch gesteigerten Gemütsstörung gelangt. […] Die Gemütsruhe aber stellt sich ein, wenn man sich von alledem freigemacht hat.« (DL X, 81 [260]) Ausgehend von der Physik als wissenschaftsanaloger Prinzipienlehre findet Epikur zu einer Einheit von Selbstvergewisserung und Weltdeutung, die ein Denken im Spannungsfeld von Weisheit und Wissenschaft vorbereitet, das angesichts des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses und der modernen Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften vor allem anderen darin aktuell ist, dass es auf einer Weisheitsdimension von Philosophie beharrt, die auf den drei Ebenen der Naturlehre, der Meteorologie und der Ethik entfaltet wird. Die Naturlehre
In seinem Brief an Herodot, nach eigenem Bekunden die Kurzfassung seiner Schriften zur Naturlehre, entwickelt Epikur eine theoretische Naturbetrachtung, die den Anspruch auf eine »Gesamtsicht« der Welt erhebt, denn außer dem Ganzen gibt es nichts, was in das Weltall eindringen und es dadurch verändern könnte. (Vgl. DL X, 35 und 39 [239 und 241]) Dabei stützt er sich auf wenige, unmittelbar evidente Prinzipien, die als originelle Konkretionen des antiken Atomismus angesehen werden dürfen. Im Brief an Herodot warnt Epikur zugleich vor solchen Konzessionen an die Anschaulichkeit, etwa mit dem Hinweis darauf, dass die Atome zwar nicht schlechthin unendlich sind, eine Annahme, die mit dem Bekenntnis zum Materialismus unvereinbar wäre, dass sie aber auf einer solchen Höhe der Abstraktion anzusiedeln seien, die sie »für unseren Verstand unfaßbar« (DL X, 42 [242]) erscheinen lässt. Konkretisierende Beschreibungen rücken sie immer schon in die Nähe jener Gegenstände, die sich selbst erst aus den Atomen zusammensetzen, also aus jenen letzten allerkleinsten Einheiten, die von ihrem Begriff her nicht einmal als das beschrieben werden können, was sie sind. Sind die Atome, wie es bereits das Wort (a-tomos) nahe legt, unteilbar, so können auch Kategorien wie außen und innen, oben und unten nicht auf sie angewendet werden. Sie kennen kein Außen. Aus den modernen Naturwissenschaften, die den Begriff des Atoms in einem anderen Sinne verstehen, wissen wir, dass eine Endlichkeit der Materie ebenso wenig gedacht werden kann wie ihre Unendlichkeit. Für Epikur jedenfalls folgt aus den Bestimmungen des Atoms die These von der Unendlichkeit des Alls, die er auf folgende Weise begründet: »Und ferner ist das All unendlich, denn alles Begrenzte hat ein Äußerstes. Das Äußerste aber setzt immer etwas anderes neben ihm voraus, mit dem es verglichen wird (neben dem All aber gibt es nichts, was mit ihm verglichen werden könnte). Es hat also kein Äußerstes und demnach auch kein Ende. Hat es aber kein Ende, so muß es eben unendlich und nicht begrenzt sein. Und zwar muß diese Unbegrenztheit des Alls sich sowohl auf die Menge der Körper beziehen wie auf die Größe des leeren Raumes. Denn wäre der leere Raum unendlich, die Körper aber von endlicher Zahl, so würden die Körper nirgends zur Ruhe kommen, sondern zerstreut über den unendlichen Raum hin sich fortbewegen, da sie nichts finden, was ihnen Halt böte und durch den Aufprall sie zum Stillstand brächte. Und wäre andererseits der leere Raum begrenzt, so wäre für die unzähligen Körper kein Unterkommen vorhanden.« (DL X, 41f. [242]) Es ist weithin unbemerkt geblieben, dass Epikur hier auf eine Aporie aufmerksam macht, die erst in der Neuzeit von Kant einer Lösung zugeführt wurde, und zwar in der Kritik der reinen Vernunft in den einschlägigen Abschnitten zum Problem des Raumes und der Zeit. Ein endlicher Raum, so das angeführte Zitat, kann deswegen nicht gedacht werden, weil hinter ihm ein weiterer Raum, in dem der erste sich befindet, angenommen werden müsste, wobei wie bei der russischen Matroschka-Puppe immer weiter fortzuschreiten wäre. Ein unendlicher Raum mit unendlich vielen Atomen und unendlich vielen Bewegungen machte nicht nur jene Zusammenballungen unmöglich, die wir als identifizierbare Gegenstände wahrnehmen, er wäre auch begrifflich ein Widerspruch in sich. Andererseits verbindet sich mit dem Raumbegriff auch die Vorstellung von einer Grenze, weshalb Epikur auf eine Anfangslosigkeit verweist, der eine Endlosigkeit notwendig entspricht, »da die Atome und die Leere von Ewigkeit her sind« (DL X, 43 [243]). Was immer man sich unter dieser Leere im Letzten vorstellen mag – etwa einen Grenzbegriff, eine »Anschauungsform«, wie Kant sagen wird, welche die Anwendung der Kategorien des Verstandes auf die Erscheinungen in der Empirie notwendig begleiten muss, selbst jedoch weder kategorisierbar noch ein An-sich-Seiendes sein kann –, es kann sich nur um ein subjektives Vorstellen handeln. Die zweite dieser subjektiven Anschauungsformen ist die Zeit. Im Hinblick auf die Zeit rückt Epikur noch enger an die transzendentalphilosophische Deutung Kants heran, wenn er ausführt: »Die Vorstellung der ›Zeit‹ erfordert eine andere Untersuchungsweise als die übrigen Dinge, bei denen es sich um etwas zugrunde Liegendes handelt, das wir auf die in uns selbst erschauten Begriffe […] zurückführen; vielmehr muß man gerade das Moment der Anschaulichkeit in Betracht ziehen, auf das wir uns beziehen, wenn wir von langer oder kurzer Zeit reden […]. Vielmehr müssen wir uns mit unseren Erwägungen durchaus nur an das halten, was wir mit dieser Eigentümlichkeit als unmittelbar sie bedingend verknüpfen und woran wir sie messen, […] wobei wir als ein diesen Erscheinungen eigentümliches Merkmal wiederum eben dasjenige hinzudenken, dem gemäß wir uns des Ausdrucks ›Zeit‹ bedienen.« (DL X, 72f. [255f.]) Raum und Zeit sind nichts Substanzielles, sondern etwas bloß Hinzugedachtes, eine Einsicht Epikurs, die einen unmittelbaren Rückhalt in seinem sprachphilosophischen Konventionalismus findet. So wie seine Subjektivierung von Raum und Zeit die platonische Wesenheit (eidos, idea) in das Reich des...