E-Book, Deutsch, 259 Seiten
Reihe: Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst.
Geyer / Thorwarth / Baumann Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-89971-639-9
Verlag: V&R unipress
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
. E-BOOK
E-Book, Deutsch, 259 Seiten
Reihe: Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst.
ISBN: 978-3-89971-639-9
Verlag: V&R unipress
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;9
2;Vorwort;11
3;Kerstin Thorwarth Einleitung;13
4;Klaus Borchard Grußwort des Altrektors zur Eröffnung des Kolloquiums » Petrarca heute « ( 20. Juli 2004);21
5;Uwe Baumann Grußwort des Dekans: Anmerkungen zu Petrarca in der englischen Renaissance;25
6;Rudolf Lill Zur politischen und sozialen Geschichte des Trecento;33
7;Andreas Kablitz Aufbruch zur Neuzeit? Petrarca und das Ende des Mittelalters;47
8;Marco Santagata Trägheit, aegritudo, Depression: Modernität eines mittelalterlichen Dichters;61
9;Winfried Wehle Im Labyrinth der Leidenschaften. Zur Struktureinheit in Petrarcas Canzoniere;75
10;Paul Geyer Petrarcas Canzoniere als Bewusstseinsroman;111
11;Karlheinz Stierle Ein poetisches Manifest – Petrarcas Canzonensequenz RVF 125– 129;159
12;Rainer Zaiser Dichterische Selbstreflexion in den Einleitungsgedichten von einigen italienischen Renaissance- » Canzonieri «;185
13;Pasquale Guaragnella Figuren der Melancholie und (Wieder-)Verwendung petrarkischer Zitate in den Dialoghi von Torquato Tasso;207
14;Anna Dolfi Petrarca, Leopardi, Ungaretti und der Roman des Canzoniere;233
15;Bildnachweis;257
16;Verzeichnis der Autorinnen und Autoren;261
"Paul Geyer
Petrarcas Canzoniere als Bewusstseinsroman (S. 109-110)
0. Einleitung
Worin liegt der Grund des Vergnügens an Petrarcas Gedichtzyklus, seinem Canzoniere, was ist der Grund für dessen über 600-jährige nachhaltige Wirkung? Meine These ist, dass der Canzoniere uns heute noch in Staunen versetzen, ja faszinieren kann durch Petrarcas Weise der Arbeit am Bewusstsein und durch seine Arbeit am Begriff des Bewusstseins. Der Canzoniere kann uns gerade deshalb noch so direkt ansprechen, weil seine jahrhundertelange Rezeption die Bewusstseinsform des modernen Menschen wesentlich mitgestaltet hat. Andererseits kann es auch sein, dass wir uns eines Tages nicht mehr in Petrarca verstehen, weil die Petrarkische Bewusstseinsform – wie jede Bewusstseinsform – vergänglich ist. Solches Vergehen ereignet sich aber nicht nur zufällig, wie mancher mit Foucault meint. Es ist auch eine Machtfrage. Die vorherrschende Petrarca-Forschung jedenfalls trägt machtvoll zur Antiquarisierung Petrarcas und des modernen Menschen bei. Dagegen will ich mit dieser von Hugo Friedrich, Marco Santagata und Karlheinz Stierle inspirierten Studie die Aktualität der Petrarkischen Bewusstseinsform behaupten.
Ich gehe in der Analyse gleichsam von außen nach innen vor, von der raum-zeitlichen Strukturierung des Werks (Kap. 1) über seine thematische Struktur (Kap. 2) bis zum innersten Bereich einer im Werk implizit angelegten Systematik und Dialektik der Seelenvermögen (Kap. 3), wodurch Petrarca einen atemberaubenden Sprung aus dem Mittelalter in die Moderne vollführt. Kapitel 4 bis 6 analysieren dann, wie Petrarca explizit an den Begriffen und Themenbereichen der Liebe, des Ichs und des lyrischen Ichs eine moderne Dialektik des Selbstbewusstseins und eine dialektische Poetik inszeniert. Kapitel 1 und 2 handle ich einleitend relativ kurz ab, da hier genügend Vorarbeiten vorliegen. Gerade Santagata hat ja gezeigt, wie man den Canzoniere als autobiographischen Roman lesen kann.
1. Raum-zeitliche Struktur
Auffällig ist die explizite zeitliche Struktur des Canzoniere. Schon die Zahl von 366 Gedichten verweist auf die säkulare Zeitmessung eines Jahres. Darüber hinaus wird der Canzoniere geradezu rhythmisiert von präzisen Zeitangaben: Am 6. April 1327 begegnete das lyrische Ich erstmals der von ihm besungenen Laura1, am 6. April 1348 starb sie2, wohl ohne seine Liebe erwidert zu haben; allerdings ist von gelegentlichen Blick- und Wortwechseln die Rede.3 Immer wieder nimmt das lyrische Ich im Verlauf des Gedichtzyklus auf diese beiden Eckdaten Bezug:
»Vor sieben Jahren habe ich sie zum ersten Mal gesehen; jetzt befinde ich mich im 10./11./14./15./16./17./18./20. Jahr meiner (fast) hoffnungslosen Liebeskrankheit; jetzt ist sie, nach 21 Jahren, gestorben; jetzt ist sie schon seit drei Jahren/seit mehreren/seit vielen Jahren tot.«4 Die letzte dieser Zeitangaben findet sich im vorvorletzten Gedicht5, wo das lyrische Ich rückblickend sagt, dass es sich zunächst 21 Jahre im Liebesfeuer verzehrt habe und dass es der toten Laura seit nunmehr zehn Jahren nachweint. 1358 endet also die fiktive innere Chronologie des Werks. Neben diesen ganz präzisen Zeitangaben stehen andere, eher ungefähre Zeitangaben, die sich aber auch zu relativer Konkretheit formen, zunächst das Alter des lyrischen Ichs und Lauras betreffend.
Des Öfteren (z. B. 214, 1–9) wird erwähnt, dass sich das lyrische Ich zum Zeitpunkt seines innamoramento in der dritten Lebensphase, Laura aber in der zweiten befunden habe. In Anlehnung an antik-mittelalterliche Periodisierungen lässt sich für die zweite Lebensphase das Alter von 7 bis 17 Jahren, für die dritte das Alter von 17 bis 30 Jahren ansetzen. Laura wird also 1327 zwischen 14 und 17 Jahre alt gewesen sein, das lyrische Ich, wenn wir seine Lebensdaten einmal spekulativ mit denen Petrarcas gleichsetzen, zwischen 22 und 23. Bei ihrem Tod 1348 war Laura dann Mitte, Ende dreißig, das lyrische Ich 43 oder 44, und beim Abschluss der fiktiven Chronologie des Canzoniere, zehn Jahre nach Lauras Tod, ist das lyrische Ich Anfang, Mitte 50."