Gißibl / Löhr | Bessere Welten | Buch | 978-3-593-50613-5 | sack.de

Buch, Deutsch, 405 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 436 g

Gißibl / Löhr

Bessere Welten

Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-593-50613-5
Verlag: Campus

Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften

Buch, Deutsch, 405 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 436 g

ISBN: 978-3-593-50613-5
Verlag: Campus


Kosmopolitismus, ein Kernbegriff der europäischen Aufklärung, gehört zu den akademischen Modebegriffen der vergangenen Jahre. Dieses Buch lotet erstmals das heuristische Potenzial des Kosmopolitischen für die Geschichtswissenschaften aus. Im Zentrum stehen das konfliktbeladene Aushandeln von Zugehörigkeiten, Ansprüchen und Rechten, die Begegnung mit dem Anderen sowie die normative Reflexion dieser Begegnungen in einer prinzipiell von Ungleichheit und Machtasymmetrien geprägten Welt. Der Band plädiert für Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzt.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort 7

Die Geschichtswissenschaften vor der kosmopolitischen Herausforderung 9

Isabella Löhr und Bernhard Gißibl

I. Kosmopolitismus als Konflikt: Grenzziehung, Inklusion, Exklusion

Zwischen Selbstverständnis und Stigma: zur ambivalenten Beziehungsgeschichte von Kosmopolitismus und Judentum 46

Mirjam Thulin

Von der Offenheit der Geschichte: Der Umgang mit Staatenlosigkeit und die weltbürgerliche Idee 70

Miriam Rürup

Farbiger Kosmopolitismus? - Die Asiatisch-Afrikanische Konferenz von Bandung (1955) 102

Jürgen Dinkel

II. Der Umgang mit dem Anderen: Kosmopolitismus als Haltung und Kompetenz

Kosmopolitische Praktiken? Katholische Frauenkongregationen im 20. Jahrhundert 130

Katharina Stornig

"une institution cosmopolite"? Rituelle Grenzziehungen im freimaurerischen Internationalismus um 1900 163

Joachim Berger

Kosmopolitisches Freidenkertum? Ideen und Praktiken der Internationalen Freidenkerkonförderation von 1880 bis 1914 189

Daniel Laqua

III. Cosmobilities

Verbriefte Identität, regulierte Mobilität: Pässe als kosmopolitische Dokumente 219

Andreas Fahrmeir

Seltsam, weiblich, aus bescheidenem Haus: Gabriela Mistral und die Herausforderungen eines kosmopolitischen Lebens 247

Corinne Pernet und Isabella Löhr

Imperial, atlantisch, europäisch, kosmopolitisch? Globales Bewusstsein in Duala im frühen 19. Jahrhundert 275

Stefanie Michels

IV. Kosmopolitismus als Governance

Kosmopolitismus als Governance: Das Beispiel des Osmanischen Reiches 310

Nora Lafi

Die internationalen Netzwerke des Aga Khan Development Network: Möglichkeiten und Grenzen eines muslimischen Kosmopolitismus 336

Soumen Mukherjee

Kosmopolitische Geschichtsschreibung und die Kosmopolitik des UNESCO Weltkultur- und Naturerbes 366

Andrea Rehling

Autorinnen und Autoren 396


Vorwort

Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen zurück auf einen Workshop, der im Herbst 2013 nach dem heuristischen Mehrwert von Kosmopolitismus für die Geschichtswissenschaften fragte. Was hat es eigentlich genau mit diesem "neuen" Kosmopolitismus auf sich, der in so vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Konjunktur hat? Ist es sinnvoll, den Begriff in den Geschichtswissenschaften wieder zu aktivieren? Oder wäre dies gleichbedeutend damit, eine Disziplin, die sich anschickt, eurozentristische Perspektiven zu überwinden, zurück in eines der ältesten Konzepte europäischer Geistesgeschichte zu drängen? Wie könnte eine zeitgemäße Verwendung von Kosmopolitismus insbesondere für die Globalgeschichte aussehen? Diese Fragen waren Gegenstand des Workshops, der gemeinsam vom Europainstitut der Universität Basel und dem Leibniz-Institut für europäische Geschichte (IEG) in Mainz ausgerichtet wurde.

Wir danken den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, sich auf die Frage nach dem analytischen Mehrwert von Kosmopolitismus für ihre eigenen Forschungen so neugierig und bereitwillig eingelassen zu haben. Für uns bedeutete dies eine Fülle an kontroversen und produktiven Diskussionen, in denen wir eine Menge von den Autoren und Autorinnen gelernt und gemeinsam unser Verständnis von Kosmopolitismus geschärft haben. Diese intellektuellen Auseinandersetzungen wurden möglich dank der großzügigen Unterstützung durch das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz und das Europainstitut der Universität Basel. Unser besonderer Dank gilt daher Madeleine Herren und Johannes Paulmann, den Direktoren der beiden Institute, die uns in unserem Vorhaben bekräftigten und mit Rat und Tat zur Seite standen.

Danken möchten wir an dieser Stelle auch Malte Fuhrmann, Richard Hölzl, Fabian Klose, Cornelia Knab, Carolin Kosuch, Daniel Maul und Amalia Ribi Forclaz, die uns in Mainz durch Vorträge, Diskussionsbeiträge oder als Panel Chairs halfen, Thema und Probleme zu präzisieren. Magdalena Nowicka brachte uns mit ihrer Keynote Lecture die sozialwissenschaftliche Perspektive nahe; der jüngst verstorbene Rupert Neudeck gewährte uns in seinem Abendvortrag Einblicke in den gelebten Kosmopolitismus eines humanitären Aktivisten. Die Fertigstellung des Manuskripts profitierte von der umfangreichen Unterstützung durch Manuel Dinkel und Corinna Schattauer und dem prüfenden Blick der Lektoren Joe Paul Kroll im IEG und Jürgen Hotz beim Campus Verlag. Für kritische Lektüre und wertvolle Hinweise zur Einleitung danken wir Gregor Feindt, Dietmar Müller und Klaus Oschema.

"But if you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere. You don't understand what citizenship means". Diese im Okto-ber 2016 von der britischen Premierministerin Theresa May gebrauchte Formulierung zeigt, dass die Politik der Gegenwart unsere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Kosmopolitismus eingeholt hat. Was 2013 für uns in erster Linie eine fachwissenschaftliche Diskussion war, hat sich seit der rapiden Zunahme von Flüchtlingen in Europa 2014/2015 und den seitdem heftig tobenden politischen Auseinanderset-zungen innerhalb der Europäischen Union sowie in den einzelnen Mitgliedsstaaten in eine handfeste politische Krise gewandelt, die eine Zäsur in der europäischen Nachkriegspolitik bedeuten könnte. Der Zugang zu Rechten unabhängig von nationalstaatlicher Zugehörigkeit sowie Gastfreundschaft als zentraler kosmopolitischer Wert sind innerhalb wie außerhalb Europas heftig umkämpft. Kulturelle Vielfalt als Realität und gesellschaftliche Orientierung sieht sich konfrontiert mit der Forderung nach eindeutigen Identitäten. Zur Disposition steht ein offener Umgang mit Differenz und dem Anderen.

Vor diesem Hintergrund verstehen wir unseren Band auch als eine kritische Reflexion über die Frage, mit welchen Themen, Konzepten und Perspektiven die Geschichtswissenschaften im frühen 21. Jahrhundert historisches Orientierungswissen für gegenwärtige Debatten bereitstellen können. Dies kann, so unsere Überzeugung, nur über eine historischkritische Analyse der unterschiedlichen Normen, Werte und Bezugshorizon-te funktionieren, in denen sich unsere Gegenwart abspielt.



Mainz und Leipzig, im Oktober 2016

Bernhard Gißibl und Isabella Löhr





Die Geschichtswissenschaften vor der kosmopolitischen Herausforderung

Isabella Löhr und Bernhard Gißibl



"Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!" - Weltbürger aller Länder, noch ein Versuch! Mit dieser Abwandlung des berühmten Schlusssatzes des Kommunistischen Manifests adressierte der französische Philosoph Jacques Derrida im März 1996 einen Kongress der Fluchtstädte, der sich beim Europarat in Straßburg versammelt hatte. Derridas Aufruf für eine neue Internationale der Kosmopoliten ist vor dem Hintergrund der aktuellen, sogenannten Flüchtlingskrise in Europa auch 20 Jahre nach seinem Erscheinen politisch relevant. Denn der französische Philosoph forderte damals nicht weniger als eine Neuausrichtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik nach den Grundsätzen kosmopolitischer Gastfreundschaft. Bemerkenswert daran ist, dass sich Derrida explizit den Begriff der Gastfreundschaft aus Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 zu eigen machte, die er über das von Kant vorgesehene bloße Besuchsrecht hinaus zu einem dauerhaften Gastrecht erweitert wissen wollte. Einer der wichtigsten Denker der Postmoderne, der sein intellektuelles Leben daran gesetzt hatte, die philosophischen und epistemologischen Grundlagen der europäischen Aufklärung zu dekonstruieren, bezog sich also zustimmend auf den "Geist der Aufklärung" und artikulierte politische Reformforderungen mit Hilfe eines ihrer Kernbegriffe. Offenbar unterschied Derrida zwischen der theoretischen Dekonstruktion philosophischer Weltanschauungen einerseits und dem öffentlichen politischen Diskurs mit dem Ziel der Gewährleistung konkreter Rechte andererseits.

Derridas Vorschlag einer Reform der europäischen Asylpolitik gehört in eine Reihe von Interventionen prominenter Denker, die sich seit 1989/90 mit Rekurs auf die Begrifflichkeit des Kosmopolitismus um die normative Ausgestaltung der gegenwärtigen Welt- und Gesellschaftsordnung bemühen. Diese Debatten, die seit den späten 1990er Jahren als "Neuer Kosmopolitismus" geläufig sind, nahmen ihren Ausgang in den akademischen Welten Europas und der Vereinigten Staaten. Seit gut zwei Jahrzehnten sind daran Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle jeder weltanschaulichen Couleur sowie aus allen Kontinenten und Disziplinen beteiligt - mit Ausnahme der Geschichtswissenschaften, die sich bisher auffallend schweigsam verhalten. Intellektuelle, die ihre kosmopolitischen Entwürfe explizit in den Denkzusammenhang der europäischen Aufklärung stellen wie Kwame Anthony Appiah, Daniele Archibugi, Ulrich Beck, Charles Beitz, Seyla Benhabib, Gerard Delanty, Jürgen Habermas, David Held, Martha Nussbaum, Thomas W. Pogge oder jüngst Timothy Garton Ash finden sich ebenso wie postkoloniale oder dekonstruktivistische Kritiker dieser europäischen Tradition wie Etienne Balibar, Homi K. Bhabha, Paul Gilroy, David Harvey, Bruno Latour, Walter Mignolo, Rahul Rao oder Gayatri Chakravorty Spivak. Das Themenspektrum des neuen Kosmopolitismus ist breit; ebenso seine geographische Reichweite sowie Adressaten und Kontexte. Was die Appelle dieser public intellectuals eint, ist die Verquickung von politischer und akademischer Diskussion, das Kreisen um Fragen sozialer und globaler Gerechtigkeit sowie die normative Ausgestaltung des "Zusammengeworfenseins" in einer globalisierten und ungerechten Welt.

Während der neue Kosmopolitismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften teils begeistert aufgegriffen wurde, fanden die Debatten in den Geschichtswissenschaften erstaunlicherweise bislang kaum Resonanz. Insbesondere transnationale und Globalgeschichte, die sich innerhalb des Faches prominent mit grenzüberschreitenden Beziehungen bzw. globalen Ordnungsentwürfen beschäftigen, haben das Begriffsfeld des Kosmopolitischen bisher weitgehend gemieden und auch nicht die Potenziale ausgelotet, die diese transdisziplinäre Diskussion für die historische Analyse birgt. Hier setzt unser Buch an. Die versammelten Beiträge erproben den heuristischen Wert eines viel diskutierten intellektuellen und wissenschaftlichen Paradigmas für die Geschichtswissenschaften. Anhand von Beispielen aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts fragen die Aufsätze nach dem Kosmopolitischen in so verschiedenen Kontexten wie katholischen Missionen, im UNESCO-Welterbe, im Rahmen des transkontinentalen humanitären Engagements des ismailitischen Aga Khan-Netzwerkes und in so konflikthaften Zusammenhängen wie den jüdischen Erfahrungen in der europä-ischen Moderne. Sie analysieren Kosmopolitismus als Haltung und Kompetenz, untersuchen Governance-Konstellationen und fragen nach den Bedingungen und Grenzen kosmopolitischer Mobilität. Die Beiträge arbeiten empirisch heraus, dass Inhalte, Reichweite und Materialisierungen von Kosmopolitismen immer zeit- und raumspezifisch sind.

Der Band plädiert für eine kritisch-reflektierte Aktivierung von Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzen kann. Die hier vorgeschlagene Perspektive nimmt das Spannungsfeld von Differenz und Gleichheit jenseits seiner räumlichen Ausprägungen in den Blick. Sie interessiert sich insbesondere für Momente der Grenzziehung und -überschreitung und fragt nach dem sich in diesen Situationen offenbarenden Umgang mit Diversität, Differenz und dem Anderen. Soziale Interaktionen interessieren also vor allem hinsichtlich ihrer ›Welthaltigkeit‹, das heißt der in ihnen eingelassenen universalen Kontexte und Bezugsrahmen. Gefragt wird nach den damit verbundenen Prozessen der Inklusion und Exklusion, der Öffnung und Schließung sowie nach der Aushandlung individueller und kollektiver Zugehörigkeiten und Rechte. Eine so verstandene kosmopolitische Perspektive operiert nicht im Rahmen eines räumlichen, sondern eines moralischen Imperativs, der ›Menschheit‹ in den konkreten Ausprägungen interpersonaler Beziehungen und der herausfordernden Präsenz des Anderen untersucht.

Im Folgenden stellen wir dieses Forschungsprogramm en détail vor. Da die hier versammelten Autorinnen und Autoren ihre historischen Fallbeispiele im Kontext einer transdisziplinären Diskussion entwickeln, folgt zunächst ein Überblick über den neuen Kosmopolitismus in den verschiedenen Disziplinen. Anschließend problematisieren wir das Schweigen der Geschichtswissenschaften innerhalb dieser Debatte und plädieren für eine kosmopolitische Perspektive, die das Postulat einer konzeptionellen "Provinzialisierung Europas" als Herausforderung annimmt. Im letzten Abschnitt skizzieren wir den konkreten Mehrwert einer kosmopolitischen Erweiterung des konzeptionellen Instrumentariums von transnationaler und Globalgeschichte und diskutieren den Beitrag, den eine ›kosmopolitisierte‹ Geschichtswissenschaft in den transdisziplinären Dialog einbringen kann.

Der neue Kosmopolitismus in den Sozial- und Geisteswissenschaften

Der neue Kosmopolitismus hat in den verschiedensten Disziplinen intensive Diskussionen ausgelöst. Um das Potenzial dieser transdisziplinären Diskussionen für die Geschichtswissenschaften herauszuarbeiten, skizzieren wir in diesem Abschnitt die intellektuellen Auseinandersetzungen in Politik-wissenschaften und politischer Philosophie, in den Sozialwissenschaften, den Postcolonial Studies, in der Anthropologie sowie in den Medien- und Kommunikationswissenschaften. In diesen Disziplinen, und damit gewisser-maßen an den Rändern der Geschichts-wissenschaften, wird Kosmopolitismus als Konzept gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Erfordernissen angepasst und als post-euro-zentrisches Paradigma ›entprovinzialisiert‹. Dieser neue Kosmopolitismus, so unsere These, bringt einen Erkenntnisgewinn für die Geschichtswissenschaften und hier insbesondere für die Globalgeschichte: zum einen neue Verständnisse des Kosmopolitischen und zum anderen neue Themen für die historische Forschung.

In der politischen Philosophie und der internationalen politischen Theorie manifestierte sich der neue Kosmopolitismus unter anderem in Diskussionen über globale (Verteilungs-)Gerechtigkeit und die soziale sowie politisch-geographische Reichweite der Gültigkeit ethischer Gerechtigkeitsgrundsätze. Wem gegenüber müssen Individuen, Gesellschaften und Staaten ihr Handeln und dessen Konsequenzen legitimieren? Welche Pflichten haben sie gegenüber anderen und wem schulden sie Gerechtigkeit? Diese Debatten bilden zeitlich die tiefste Wurzel des neuen Kosmopolitismus. Sie entspannen sich als Antwort auf John Rawls' einflussreiche Theorie der Gerechtigkeit von 1971, die Gerechtigkeitspflichten in erster Linie innerhalb nationalstaatlich organisierter Kollektive als verbindlich annahm. Das Ende der Systemkonkurrenz nach 1989/90 und nicht zuletzt auch das 200-jährige Jubiläum der Kant'schen Friedensschrift im Jahr 1995 verliehen der philosophischen Diskussion um das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus sowie um die Vereinbarkeit von Nationalstaat und Kosmopolitismus zusätzlichen Schwung. Anders als Rawls vertreten beispielsweise Charles Beitz, Thomas W. Pogge oder Seyla Benhabib einen moralisch-universalistischen Ansatz, der jedem Individuum moralische Relevanz beimisst und entsprechend Gerechtigkeitsverpflichtungen gegenüber jedem einzelnen einfordert.

Die Diskussion um die Reichweite kollektiver sowie individueller Rechte und Verpflichtungen wurde mit besonderer Vehemenz in den USA geführt. Ihre Aneignung in der politischen Philosophie anderer Weltregionen führte zu einer kulturellen Ausdifferenzierung und machte sichtbar, dass das problematische Verhältnis von Kosmopolitismus, Individuum und (National-)Staat spezifisch für den transatlantischen Raum ist. Andernorts folgte das Nachdenken über Pflichten gegenüber dem Anderen ganz anderen Parametern. Intellektuelle mit afrikanischen Hintergrund diskutieren zum Beispiel seit einigen Jahren unter dem Schlagwort Afropolitismus über die moralische und kulturelle Position Afrikas in der Welt. Der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe versteht unter Afropolitanismus eine für die afrikanische Erfahrung charakteristische, transkontinentale "Zirkulation der Welten". Als Konsequenz dieser Zirkulation bezeichne Afropolitanismus eine spezifische "kulturelle, historische und ästhetische Empfindsamkeit", das Wissen um die "Verfugung des Hier mit dem Anderswo, das Wissen um die Gegenwart des Anderswo im Hier".

In den Sozialwissenschaften lag seit 1990 ein deutlicher Akzent auf Forschungen zur institutionellen Ausgestaltung einer gerechten Weltordnung. Besonders Soziologen begannen über Formen zukünftiger Weltregierung nachzudenken, was unter anderem Entwürfe kosmopolitischer Governance und mögliche Reformen des UN-Systems beinhaltete. Auch Organisation und Reform der Europäischen Union dienten als prominente Bezugspunkte für Modelle einer kosmopolitischen Demokratie. Darüber hinaus erweiterten einige soziologische Beiträge die Analyse kosmopolitischer Prozesse um konzeptionelle Überlegungen mit dem Ziel, die Grundlagen des Faches neu zu denken. Insbesondere der deutsche Soziologe Ulrich Beck verband die Diskussion über eine kosmopolitische Neugestaltung Europas eng mit einer Reform des methodischen Instrumentariums seiner Disziplin. Diese, so diagnostizierte Beck, sei unter anderem deshalb unfähig, Europa kosmopolitisch zu denken, weil ihre Analysen methodisch dem nationalstaatlichen Container verhaftet seien. Ein "kosmopolitischer Blick" sowie ein "methodologischer Kosmopolitismus" seien daher notwendig, um grenzüberschreitende Interaktion und die alltägliche Präsenz des kulturell und sozial An-deren wahrnehmen und kognitiv verarbeiten zu können.

Seit den 1990er Jahren waren es neben Ulrich Beck, Jürgen Habermas und Daniele Archibugi vor allem britische Soziologen - David Held, Gerard Delanty, Chris Rumford -, die sich für eine kosmopolitische Ausgestaltung Europas stark machten. Zentrale Themen waren dabei die Relativierung der Rolle der Nationalstaaten innerhalb der Europäischen Union durch die Stärkung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten ober- und unterhalb der nationalen Ebene, aber auch das Spannungsverhältnis zwischen der Ermöglichung von Freizügigkeit nach innen und zunehmender Abschottung an den Außengrenzen Europas. Diese Konzentration auf Europa brachte die Diskussionen um den neuen Kosmopolitismus deutlich voran. Sie bedeutete nämlich eine Abkehr von einem universalistischen Verständnis von Welt und Menschheit hin zur Analyse einer konkreten sozio-politischen Formation. Damit verbunden war allerdings eine Vermischung von wissenschaftlicher Analyse mit politischen Handlungsanweisungen, die idealistische Züge trug und durchaus problematisch werden konnte, sobald eine durch und durch positive Lesart von Kosmopolitismus Ungleichheiten und Machtasymmetrien ausblendete oder diese verschleierte. Viele der kosmopolitischen Analysen und Entwürfe in den Sozialwissenschaften waren nämlich beseelt vom Wunsch einer zukünftigen politisch-moralischen Führungsrolle Europas in der Welt. Das politische Projekt der Europäischen Union wurde so zum Laboratorium einer kosmopolitischen Demokratie, deren Umsetzung als weltpolitische Zukunftsaufgabe Europas nach dem Ende des Kalten Krieges verstanden wurde. Wenige gingen allerdings so weit wie Beck, der 2005 die politische Umgestaltung Europas zu einem gutartigen "kosmopolitischen Empire" vorschlug. Er imaginierte Europa als kooperative Struktur nach Innen und Außen, deren Zivilisierungsmission in der Verkündigung des "europäischen Wunders" friedlicher Konfliktbewältigung bestehen sollte - als expliziter Gegenentwurf zum US-amerikanischen evil empire und seinem weltweiten Feldzug gegen den islamistischen Terror nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Die Postcolonial Studies begegneten dem neuen Kosmopolitismus mit großer Skepsis. In ihren Augen ist der vermeintlich neue kein neuer, sondern der ›alte‹ europäische Kosmopolitismus. Dieser hatte bereits europäische Expansion und asymmetrische Machtstrukturen legitimiert und diene auch in seiner vermeintlichen Neukonfiguration - Homi K. Bhabha spricht idealtypisch von einem "globalen Kosmopolitismus" - nur als ethisches Feigenblatt für die Perpetuierung der Hegemonie des westlichen Kapitalismus unter marktliberalen Vorzeichen. Gleichwohl taucht der Begriff bei führenden postkolonialen Theoretikern wie eben Bhabha, Dipesh Chakrabarty, Walter Mignolo, Rahul Rao oder Gayatry Chakravorty Spivak nicht nur als neoliberales Schreckgespenst auf. Kosmopolitismus wird ernsthaft und konstruktiv diskutiert mit dem Ziel, westliche Begriffsverständnisse durch emanzipatorisch-subversive Anliegen zu dezentrieren. In einer wenig rezipierten Passage seines Klassikers The Location of Culture stellt Bhabha beispielsweise dem globalen Kosmopolitismus sein Ideal eines vernacular cosmopolitanism entgegen: Ein Kosmopolitismus der Flüchtlingsunterkünfte und Minderheiten, der geprägt ist, in den Worten Etienne Balibars, vom Anspruch auf ein "Recht auf Unterschiedlichkeit in Gleichheit". Differenz und der Umgang mit dem Anderen ist hier zentral, steht politisch aber unter den Vorzeichen einer radikalen Kritik an wirtschaftlichen Machtasymmetrien und kulturellen Essentialismen. Wie Sheldon Pollock, Homi K. Bhabha, Carol A. Beckenridge und Dipesh Chakrabarty im Jahr 2000 in einem manifestartigen Aufsatz Cosmopolitanisms formulierten, erscheinen Andersheit und Differenz nicht als Optionen. Als Folge der mit dem Kolonialismus gewaltsam über die Welt gebrachten westlichen Moderne sind sie zugleich alltäglich und existentiell. In dieser Lesart steht ein kulturelles Verständnis von Kosmopolitismus als Wertschätzung von Vielfalt im Verdacht einer Re-Essentialisierung von Kulturen. Die Betonung des Individuums als entscheidender Instanz in moralischen und rechtlichen Kosmopolitismus-Entwürfen wiederum beruht auf einem westlichen Individualismus, der mit anderen, auf Gruppenidentitäten basierenden Emanzipationsbewegungen in Konflikt stehen kann. Wenngleich Kosmopolitismus also im Verdacht steht, einer liberalen Fetischisierung des Individuums nach westlicher Prägung Vorschub zu leisten, birgt aber genau dieser Individualismus auch ein strategisches Potenzial zur Artikulation von Rechten. Das postkoloniale Projekt beschränkt sich damit nicht nur auf die Dekolonisierung und subversive Analyse von Kultur und den epistemischen Registern westlicher Welterfassung. Mit dem Kosmopolitismus verfügt es auch über eine Sprache zur Einforderung konkreter Rechte - grenzüberschreitend und innerhalb der Gesellschaften des globalen Südens. Die postkoloniale Aneignung des Begriffes bedeutet so das politische Unternehmen, Kosmopolitismus in einen Kampfbegriff für die eigene Sache zu verwandeln.

Die Geschichtswissenschaften können aus der postkolonialen Rezeption des neuen Kosmopolitismus zwei Aspekte für die eigene Forschung ziehen. Erstens verschieben die postkolonialen Denker den Blick von Zukunftsentwürfen für politische Gemeinwesen auf die faktische Präsenz und Unhintergehbarkeit von Differenz und daraus resultierender Formen von Ungleichheit. Ihr analytischer Schwerpunkt liegt auf der sozialen Wirkung von Ungleichheit und Machtasymmetrien. Kosmopolitismus beschreibt damit nicht nur normative oder institutionelle Dimensionen, sondern die permanente und konfliktreiche Verschiebung der Grenzen von Inklusion und Exklusion, die Individuen und Gruppen jeder sozialen, politischen, kulturellen oder religiösen Couleur gleichermaßen betrifft oder betreffen kann. Das heißt, ein postkolonial sensibilisierter Kosmopolitismus untersucht die Qualität von Beziehungen auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene, stellt die Produktion und Markierung von Differenz ins Zentrum und untersucht konkrete Praktiken von Emanzipation und Teilhabe. Damit geht zweitens eine konzeptionelle Erweiterung einher: Neben die empirische Analyse kosmopolitischer Phänomene oder Prozesse tritt Kosmopolitismus als Untersuchungsperspektive. Diese arbeitet rivalisierende Vorstellungen und Praktiken von Grenzziehungen, Teilhabe und Ausschluss heraus und analysiert soziales Handeln auf die darin eingelassenen universalen Ansprüche und Bezugsrahmen. Aus einem aufgeklärten Kosmopolitismus europäischer Prägung werden so polyzentrische, sich überlagernde und konfligierende kosmopolitische Praktiken, die immer zeit- und raumspezifisch sind.

Die postkoloniale Kritik am Kosmopolitismus erwies sich besonders für Ethnologie und Anthropologie als relevant. Deren Selbstverständnis als Experten für kulturelle Diversität und Fremdverstehen war im Zuge der Kritik an der kolonialen Komplizenschaft und dem statisch-homogenen Kulturverständnis des Faches seit den 1970er Jahren in eine tiefe Legitimationskrise geraten. Die Rezeption des neuen Kosmopolitismus traf in der Anthropologie auf ein nunmehr postkolonial dynamisiertes Kulturverständnis, das dem Fach die Rolle eines wichtigen transdisziplinären Korrektivs verlieh. Zudem rezipierten Anthropologen den Postkolonialismus nicht nur als subversive Kulturtheorie. Sie wiesen auf die rechtlichen Dimensionen zivilgesellschaftlicher Mobilisierung im globalen Süden hin und zeigten, dass für tansanische Maasai-Aktivisten, mexikanische Zapatisten oder für lateinamerikanische Nichtregierungsorganisationen, die sich für indigene Landrechte einsetzten, der Bezug auf universale Rechtsdiskurse ein zentrales Vehikel für Partizipationsforderungen war.

Diese Studien bieten wichtige Anknüpfungspunkte für eine geschichts-wissenschaftliche Analyse der Weltbezüglichkeit historischer Akteure, die das Postulat der Provinzialisierung europäischer Geschichte und Historiographie ernst nehmen will. Zum einen sind zentrale Elemente des Kosmopolitischen - Bürgerschaft, soziale und politische Rechte, Gleichheit, Anerkennung und ein offener Umgang mit Differenz - keine Privilegien des Westens und müssen gerade deswegen aus den politischen, sozialen und ökonomischen Kontexten und Erfahrungen nicht-westlicher Gesellschaften verstanden werden. Zum anderen betonen anthropologische Analysen die unbedingte Situiertheit kosmopolitischer Praktiken und Erfahrungen, indem sie diese mithilfe von Kompositbegriffen wie rooted cosmopolitanism genauer qualifizieren. Drittens arbeiten diese Studien heraus, dass jedes Handeln und Sprechen, das sich irgendwie auf soziale Strukturen und Gemeinschaftsbildung bezieht, implizit immer auf rechtliche, soziale oder politische Universalismen zurückgreift. Damit machen sie deutlich, dass Normen und Werte mit universalem Anspruch kein Privileg intellektueller Eliten oder der westlichen Welt sind.

Wichtige Impulse für die transdisziplinäre Kosmopolitismus-Forschung liefern Anthropologie und Ethnologie schließlich durch ihre Aufmerk-samkeit für Mobilitäten im Rahmen einer "multi-sited ethnography". An die Stelle der Analyse vermeintlich statischer und tief verwurzelter Kulturen traten Phänomene kultureller Hybridisierung, Diasporakulturen, Migration und andere Formen sozialer Mobilität. In den Blick gerieten dadurch ganz unterschiedliche soziale Mobilitäten, die auf ihren Umgang mit und ihre Offenheit gegenüber Andersartigkeit und Vielfalt hin befragt wurden. Anfänglich standen die Mobilitätspraktiken privilegierter westlicher Eliten im Fokus - Manager, Auslandskorrespondenten oder Missionsschwestern. Dies wurde bald um Studien ergänzt, die überraschende Kosmopolitismen vermeintlich immobiler Berufe beispielsweise von einheimischen Reiseführern herausarbeiteten, oder die die Mehrsprachigkeit, die Vertrautheit mit diversen kulturellen Codes sowie die grenzüberschreitenden sozialen Netzwerke pakistanischer Ölfeldarbeiter im Persischen Golf sichtbar machten. Letzteres wurde von Pnina Werbner als Beispiel eines Kosmopolitismus der Arbeiterklasse interpretiert. Kosmopolitische Erfahrungen und Haltungen, so zeigen diese Studien, beruhen nicht notwendig auf Mobilität, Freiwilligkeit oder sozialem Status, sondern sind bedingt durch soziale Disposition und politisch-ökonomische Kontexte. Dem Verdikt der wurzellosen Bindungs-losigkeit des Kosmopoliten stellen sie die Ausbildung multipler Zugehörigkeiten als definierendes Moment kosmopolitischer Haltungen und Erfahrungen entgegen.

In den Medien- und Kommunikationswissenschaften wird mit der Begrifflichkeit des Kosmopolitismus schließlich die Frage nach der medialen Repräsentation des fernen Anderen aufgeworfen. Am Anfang standen auch hier Formen sozialer und professioneller Mobilität, konkret die Unter-suchung der für die Vermittlung von Informationen und Weltbildern elementaren Gruppe der Auslandskorrespondenten und ihrer verschiedenen Berichterstattungswelten. Im Anschluss daran wurde die Frage nach kosmopolitischen Praktiken und Haltungen der Akteure und nach den potenziell kosmopolitisierenden Effekten der vermittelten Informationen auch an andere Formen journalistischer Grenzüberschreitung gestellt. Im Kern handelt es sich beim neuen Kosmopolitismus jedoch um ein Problem der Medienethik: Welche Rolle und welche Verpflichtungen haben (Massen-) Medien in einer globalisierten Welt? Problematisiert werden die Medialität sozialer Fernbeziehungen, die Ethik grenzüber-schreitender Repräsentationen und die zentrale Rolle von Medien als Erscheinungsraum des fernen Anderen. In einem Schlüsseltext entwarf der britische Medienwissenschaftler Roger Silverstone die Kosmopolis als Mediapolis und damit als einen von Medien geschaffenen kosmopolitischen Imaginationsraum mit kaum zu überschätzender Verantwortung für den gesellschaftlichen Umgang mit Differenz.

Inwieweit können die Geschichtswissenschaften von diesen teils mit großer Emphase ausgerufenen kosmopolitischen Wenden in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen profitieren? Einerseits gewinnen sie ein erweitertes Verständnis von Kosmopolitismus als empirische Prozesse und Phänomene und andererseits können sie Kosmopolitismus als heuristisches Werkzeug konzeptionell fruchtbar machen. Insbesondere die Postcolonial Studies sowie Anthropologie und Ethnologie brachten neue Themen von unmittelbarer gesellschaftspolitischer Relevanz auf: Es geht um rechtliche und politische Aspekte von Gesellschafts- und Weltordnungsentwürfen, um Differenz und Mobilität als Herausforderung für die geographische und soziale Verfasstheit von Gesellschaften und um die Frage nach den Repräsentationen des Anderen - alles Themen der Geschichts-wissenschaften. Zudem impliziert die Pluralisierung hin zu einer Vielzahl räumlich und zeitlich spezifischer sowie durchaus konfliktbeladener Kosmopolitismen eine konzeptionelle Erweiterung. Kosmopolitismus ist nicht nur Gegenstand der Analyse, sondern auch eine Untersuchungsperspektive, wenn es darum geht, warum und wie bestimmte Erfahrungen und Praktiken die Herstellung oder Verschiebung von Differenzkriterien sowie die Markierung von Andersheit prägten, beförderten oder behinderten. Vor allem aber bedeutet der neue Kosmopolitismus eine Abkehr vom alten Kosmopolitismus: Er ist nicht länger universale Utopie oder Ideal, sondern situierte Praxis; er ist nicht euro-, sondern polyzentrisch; nicht Räume, sondern Differenz und die Qualität von Beziehungen stehen im Vordergrund. Ein so verstandener neuer Kosmopolitismus bedeutet eine Herausforderung und viel mehr noch eine Chance für die Geschichtswissenschaften.

Die Geschichtswissenschaften und der Kosmopolitismus: eine Leerstelle?

In die geschichtswissenschaftliche Forschung ist der neue Kosmopolitismus zwar graduell eingesickert. Zu den konzeptionellen Debatten hat das Fach bislang allerdings geschwiegen und den Begriff auch nicht als Paradigma übernommen. Das ist schon deshalb problematisch, weil die anderen Disziplinen mit historischen Diagnosen und Narrativen operieren, die einer kritischen Intervention der Geschichtswissenschaften bedürfen. Das betrifft lineare geistes- und ideengeschichtliche Genealogien eines vermeintlich europäischen Kosmopolitismus von den Stoikern über Kant bis in die Gegenwart oder fragwürdige historische Entwicklungsmodelle. Ulrichs Becks These von der Ablösung einer ersten, nationalstaatlichen Moderne durch die zweite Moderne einer kosmopolitisierten Gegenwart beruht beispielsweise auf problematischen Zäsuren und Traditionslinien, die den Widerspruch der Geschichtswissenschaften herausfordern.

Über das Schweigen im interdisziplinären Gespräch hinaus ist die Zurückhaltung des Faches insofern bemerkenswert, als Teile der Disziplin seit den 1990er Jahren Gegenstände und Konzepte aufgebracht haben, die sich ohne weiteres als ›kosmopolitische Anliegen‹ verstehen lassen. Bei allen Differenzen hinsichtlich der Konzeption der Untersuchungseinheiten, der geographischen Reichweite oder dem Verhältnis von Strukturen und historischer agency teilen historischer Vergleich, Kulturtransfer, histoire croisée, transnationale und transkulturelle Geschichte, Imperienforschung und Kolonialgeschichte sowie Globalisierungs-, Global- und Weltgeschichte das Interesse an grenzüberschreitenden Interaktionen. Sie alle beschäftigt die Frage, wie diese Interaktionen über teils große Distanzen hinweg funktionierten, welcher Art sie waren und welche Bedeutung die damit verknüpften sozialen und kulturellen Grenzüberschreitungen für Selbst- und Fremdbil-der sowie für die Konstitution der modernen Welt hatten. Die Geschichtswissenschaften, so unsere These, haben sich in ihren Gegenständen und Fragestellungen also durchaus kosmopolitisiert. Dies wird von prominenten Vertretern des Faches auch bestätigt. Jürgen Osterhammel spricht beispielsweise von der Ausbildung "kosmopolitischer Aufmerksamkeitsstrukturen" als Grundlage einer transkulturell vergleichenden Geschichtswissenschaft, Sebastian Conrad attestiert der Globalgeschichte eine "kosmopolitische Absicht" und Patrick O'Brien bezeichnet in der ersten Ausgabe des Journal of Global History eine kosmopolitische Perspektive sogar als Voraussetzung für eine neue Globalgeschichte. Allerdings verlief diese Kosmopolitisierung ohne die analytische Aktivierung des Begriffsfeldes des Kosmopolitischen.

Ein Grund für die Zurückhaltung der globalhistorischen Forschung liegt sicherlich in der problematischen Begriffsgeschichte. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde Kosmopolitismus in verschiedenen politischen Kontexten als Ausgrenzungsbegriff zur Stigmatisierung vermeintlicher nationaler Unzuverlässigkeit verwendet. Die weitgehende Gleichsetzung von Kosmopolitismus mit Antisemitismus im Nationalsozialismus und Stalinismus hat dem Begriff zudem ein schweres erinnerungspolitisches Erbe aufgebürdet, das, wie Mirjam Thulin in diesem Band feststellt, in einer für Juden "lebensgefährlichen Beziehungsgeschichte zwischen Kosmopolitismus und Judentum" mündete. Die Jewish Studies tun sich daher bis heute schwer, den Begriff positiv auf die jüdische Diaspora anzuwenden.

Vor allem aber hat sich die Ablösung vom nationalgeschichtlichen Paradigma insbesondere in der Globalgeschichte unter anderen konzeptionellen Vorzeichen vollzogen. Im Zentrum standen Globalisierung und Raum, wodurch Austausch und Interaktionen über regionale und kulturelle Grenzen hinweg in den Blick kamen, weniger aber die normativen Dimensionen von Globalität. Einerseits wurde die neue Globalgeschichte lange als Geschichte der Globalisierung geschrieben. Bruce Mazlish, einer ihrer profiliertesten Theoretiker, bezeichnete Globalisierungsgeschichte sogar als "the heart and the novelty of global history". Die Geschichte der Globalisierung beschäftigte sich mit der vermeintlichen Verdichtung von Raum und Zeit und konzipierte Globalisierung als Zunahme von Beziehungen über Regionen und Kontinente hinweg. Obwohl die seit der Jahrtausendwende lauter werdende Kritik an diesem Fokus die "Positionalität und Perspektivität" von Forschungsdesigns stark macht, bleiben die normativen Dimensionen von Verdichtung und vermeintlicher Beschleunigung weltweiter Beziehungen, die für eine kosmopolitische Perspektive zentral sind, nach wie vor relativ unterbelichtet. Da es lange ausreichend schien, die Existenz grenzüberschreitender Verbindungen nachzuweisen, ihre Relevanz zu postulieren und Interaktionen in Verbundenheit aufzulösen, gerieten Antagonismen und Brüche, die chronische Präsenz von Ungleichheit sowie kulturelle Differenzen im Nahbereich tendenziell gar nicht ins Blickfeld.

Andererseits entstand die Globalgeschichte in ihren verschiedenen Ausprägungen in den 1990er Jahren aus der Einsicht heraus, dass die bi-polare Weltordnung den Raum als historische Kategorie in den Hinter-grund gedrängt hatte. Die Globalgeschichte und andere Formen der transnationalen Geschichte bedeuteten den Versuch, den Raum als historische Bedingung und historisches Agens wieder ins Bewusstsein zu bringen und analytisch produktiv zu machen. Dies resultierte in einer Vielzahl historischer Konzeptionen von Welt und Globalität, die sich zumeist in der Feststellung überschneiden, dass globale Geschichte relational und eine Geschichte der sozialen und kulturellen Grenzüberschreitungen ist. Im Zentrum stand die Überwindung von Raum und die Konsequenzen dieser Grenzüberschreitungen für die Verfasstheit sozialer Gemeinschaften in lokalen, nationalen oder transnationalen Handlungszusammenhängen.

Die besondere Aufmerksamkeit für den Raum und die Rolle von Distanz für die Ausgestaltung sozialer Beziehungen litt allerdings von Beginn an einer konzeptionellen Schieflage, nämlich der von Dipesh Chakrabarty prominent formulierten Kritik am europäischen Erbe der Geschichtswissenschaften, das über die Universalisierung von fachlichen und professionellen Standards das Denken und Sprechen über Geschichte gar nicht anders ermöglicht als in den Fahrwassern europäischer Geistesgeschichte:

"Concepts such as citizenship, the state, civil society, public sphere, human rights, equality before the law, the individual distinction between public and private, the idea of the subject, democracy, popular sovereignty, social justice, scientific rationality, and so on all bear the burden of European thought and history. One simply cannot think of political modernity without these and other related concepts that found a climatic form in the course of the European enlightenment and the nineteenth century."

Es ist daher wenig verwunderlich, wenn Kosmopolitismus einer post-eurozentrischen Globalgeschichte suspekt erscheint: Wird damit nicht die Alterität nicht-europäischer Erfahrung durch einen Leitbegriff der europäischen Aufklärung epistemisch kolonisiert? Chakrabartys viel zitierte These von der "Provinzialisierung Europas" zielt aber gerade nicht auf die Marginalisierung europäischer Konzepte und Begriffe, sondern auf ihre Beibehaltung, auf eine kontextsensible Auseinandersetzung und auf ihre Erneuerung "from and for the margins". Er argumentiert, dass Bürgerrechte, Staatsbürgerschaft oder soziale Gerechtigkeit wirkmächtige Kategorien und damit elementar sind für das Ziel, politische Emanzipation und Teilhabe in außereuropäischen Gesellschaften sowie im globalen Wettbewerb herzustellen. Wenn die Globalgeschichte das Begriffsfeld des Kosmopolitischen bisher vermieden hat, kommt dies also keiner Provinzialisierung eines universalistischen Aufklärungsdenkens gleich. Vielmehr wird damit Chakrabartys zentrale Forderung missachtet, die Provinzialisierung zentraler Begriffe praktisch umzusetzen.

Kosmopolitismus als analytischer Begriff für die historische Forschung bedeutet also, die Provinzialisierung eines Kernbegriffs europäischer Welt-erfassung aktiv zu betreiben. Europäische Genealogien kosmopolitischer Ideen und Praktiken sind damit nur noch eine spezifische Ausprägung unter einer Vielzahl von Kosmopolitismen. Auf diese Weise kann Kosmopolitismus als Perspektive und als Gegenstand der Analyse fruchtbar gemacht werden. Wir können alternative Formen des Umgangs mit Differenz identifizieren und fragen, in welchen lokalen Konstellationen Kosmopolitismen empirisch in Erscheinung treten; und wir können untersuchen, welche Rolle Ungleichheit und Machtasymmetrien im Umgang mit Andersartigkeit spielen und wie Kosmopolitismus als Haltung, Kompetenz oder subalterne Handlungsmacht in diesen Konstellationen in Erscheinung tritt. Schließlich kann die Rede vom ›europäischen Kosmopolitismus‹ mehrfach aufgelöst werden: zugunsten einer nuancierten Betrachtung räumlich und zeitlich konkreter und durchaus widersprüchlicher Kosmopolitismen sowie zugunsten der Frage nach den konkreten Verbindungen und Verflechtungen zwischen kosmopolitischen Haltungen und Praktiken innerhalb Europas sowie zwischen Europa und der außereuropäischen Welt.

Encore un effort!

Worin besteht nun der konkrete Mehrwert einer kosmopolitischen Erweiterung des konzeptionellen Instrumentariums der Globalgeschichte? Letztere stellt, wie oben beschrieben, Interaktionen und die räumliche Dimension in den Vordergrund. Eine kosmopolitische Perspektive betont dagegen das konfliktbeladene Aushandeln von Zugehörigkeiten, Ansprüchen und Rechten, die Begegnung mit dem Anderen sowie die normative Reflexion dieser Begegnungen samt der daraus entstandenen oder verweigerten Verpflichtungen in einer prinzipiell von Ungleichheiten und Machtasymmetrien geprägten Welt. Interaktionen über kulturelle und soziale Grenzen hinweg, wie sie für die verschiedenen Ausprägungen von Verflechtungsgeschichte elementar sind, bleiben damit zentral; sie erhalten aber eine andere Stoßrichtung. Es geht nicht nur um das Diagnostizieren, ob historische Akteure multiple Zugehörigkeiten ausbildeten und als Mediatoren oder Übersetzer kulturelle Vielfalt gestalteten, ob sie transnationale Solidaritäten aufbauten oder sich in komplexen Situationen bewegten. Die Begrifflichkeit des Kosmopolitischen stellt auf die Qualität von Interaktionen ab. Das heißt, eine kosmopolitische Perspektive konzentriert sich auf Umgangsweisen mit Differenz und normativ aufgeladene Haltungen zum Anderen. Das beinhaltet die Funktionen von Werten wie Toleranz, Offenheit und Weltläufigkeit in konkreten historischen Situationen, die Bedeutung universaler Bezüge und Identifikationen im Sprechen und Handeln der historischen Akteure und soziale Prozesse der Öffnung und Schließung anhand von Themen wie Staatsbürgerschaft, sozialer Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit. Analytisch bedeutet dies eine Konkretisierung globalgeschichtlicher Anliegen: Anstatt Raum, Distanz und den vielgestaltigen Praktiken zu ihrer Überwindung wird Differenz im Sinne der unauflösbaren Gegenwart des Anderen problematisiert, gegenüber dem man sich verhalten muss - ob im Nahbereich, in Fernbeziehungen, in Situationen translokaler Sesshaftigkeit oder grenzüberschreitender Mobilität.

Wesentlich für die hier vorgeschlagene kosmopolitische Perspektive ist also die Herausforderung durch Differenz in einer asymmetrisch strukturierten Welt. Jeder historischen Handlung sind Werte und Normen einge-schrieben, die "konfliktreiche Vorstellungen von und Ansprüche auf Universalismus" enthalten. Konkrete Projekte, Bezüge, Identifikationen und Indienstnahmen von ›Menschheit‹ sind damit Teil einer kosmopolitischen Perspektive. Wichtig ist dabei die Einsicht, dass diese Menschheit nicht in einem abstrakten Anderswo lokalisiert ist, sondern sich in kollektiven und individuellen Akteuren manifestiert und damit in konkreten interpersonalen und strukturellen Bezügen. Etablierte Themen wie Toleranz, Weltläufigkeit und Wertschätzung für andere Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen verschwinden damit nicht von der Forschungsagenda. Sie werden allerdings kritisch auf die in ihnen eingelassenen Inklusionen, Exklusionen und kulturellen Essentialisierungen hin untersucht.

Wie lässt sich dieses Programm in der historischen Forschung konkret umsetzen? Unser Band versammelt zwölf Studien zur europäischen und außereuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie jeweils exemplarisch den heuristischen Wert von Kosmopolitismus für die Analyse ihrer Gegenstände überprüfen. Das den einzelnen Aufsätzen zugrunde liegende Verständnis von Kosmopolitismus ist breit und spiegelt die Vielfalt der eingangs skizzierten transdisziplinären Auseinandersetzungen: Kosmopolitismus begegnet als Ideal und Haltung, als spezifische Art des Handelns, als inklusive Praxis im Sinne des Herstellens von Gemeinsamkeiten, als Vehikel für politische und rechtliche Emanzipation und als Frage nach dem normativen Stellenwert von Alterität und Differenz. In einigen Beiträgen taucht das Begriffsfeld in den Quellen auf, in anderen wird es als analytische Perspektive an den Untersuchungsgegenstand herangetragen. In allen Fällen legt das Begriffsfeld des Kosmopolitischen die historische Bedingtheit und die Grenzen universaler Bezugsrahmen offen.


Gißibl, Bernhard
Bernhard Gißibl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte an der Universität Mainz.

Löhr, Isabella
Isabella Löhr ist Professorin für internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der FU Berlin. Zugleich leitet sie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam die Abteilung 'Globalisierungen in einer geteilten Welt'.

Bernhard Gißibl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte an der Universität Mainz.
Isabella Löhr ist Professorin für internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der FU Berlin. Zugleich leitet sie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam die Abteilung 'Globalisierungen in einer geteilten Welt'.



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