E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Glaser Bühlerhöhe
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1375-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein lebendiger Gesellschaftsroman - so spannend wie ein Krimi!
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1375-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor dem Hintergrund der jungen Bundesrepublik erzählt Brigitte Glaser eine spannende Geschichte, die auf wahren historischen Ereignissen beruht. "Selten wurde so spannend und sprachlich präzise über die Gründungszeit der Bundesrepublik geschrieben." Verena Hagedorn, Barbara
Autoren/Hrsg.
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Vier Wochen vor der
Ankunft des Kanzlers
Omarim
Die zwei jungen Männer tauchten während der Orangenernte im Kibbuz auf. Sie stiegen aus einem ehemaligen britischen Militärjeep, die Fahrertür voller rostiger Einschusslöcher. Chajm, Jakob und Tamar liefen auf sie zu, redeten mit ihnen und riefen dann nach Rosa, die auf dem oberen Feld Orangen pflückte. »Bist du Rosa Silbermann?«, fragte der Größere der beiden, als sie zu ihnen getreten war, und fügte hinzu: »Oz Sharet will dich sprechen.« Die Männer ließen ihr keine Zeit zum Waschen oder Umziehen, nur Ben durfte sie schnell adieu sagen. Der Größere setzte sich hinter das Steuer, der Kleinere neben sie auf die Rückbank. »Was will Oz von mir?«, fragte Rosa, erhielt aber keine Antwort. Auch die Fahrt verlief schweigsam. Während der Jeep durch Hitze und Staub in Richtung Genezareth holperte, dachte Rosa an die Zeit, als Oz noch bei ihnen in Omarim gelebt hatte, und suchte nach einer Erklärung, warum er sie sprechen wollte. Wegen Rachel? Etwas anderes fiel ihr nicht ein. In Tiberias bog der Wagen in die Straße nach Tu ra’an ab. »Sagt mir wenigstens, wohin die Reise geht!« »Haifa«, antwortete der Mann am Steuer und verstummte wieder. In Haifa waren Rachel und sie vor fast zwanzig Jahren als Jugendliche angekommen. Rosa war seitdem nur selten in der Stadt gewesen, deshalb hätte sie nicht sagen können, in welches Viertel die beiden Männer sie brachten. Als sie endlich ausstiegen, konnte sie das Meer riechen, und ein frischer Seewind trieb Sandwolken durch die Straße. Die Männer begleiteten sie zu einem schmalen mehrstöckigen Wohnhaus. Im zweiten Stock baten sie sie, auf Oz zu warten. Ein Tisch, ein Stuhl, mehr stand nicht in dem winzigen Raum. Aus einem Schacht unterhalb der Decke fiel Licht auf den Tisch. Darauf lagen drei Fotografien. Rosa betrachtete auf der ersten das große zweiflügelige Herrenhaus, das nicht ganz mittig im Bild stand. Die Flügel waren durch einen breiten Turm miteinander verbunden. Vier Etagen, links und rechts fünf Fenster, zählte sie. Im Vordergrund links schroffer Fels, rechts Tannen und Buchen, ein Waldrand. Rosa kam das Haus bekannt vor, aber sie konnte es nicht einordnen. Das zweite Foto zeigte die Terrasse des Hauses. Drei in Decken gehüllte Frauen auf Liegestühlen, alle trugen Sonnenbrillen und Kopftücher, die modisch ums Kinn geschlungen und im Nacken gebunden waren. An das große Vogelhäuschen auf der Balustrade erinnerte sich Rosa plötzlich. Dahinter, ganz in Scherenschnittschwarz, die Spitzen von fünf Tannenbäumen, in weiter Ferne und in mattem Grau zwei sanfte Berghügel. Die Bühlerhöhe. »Hirschterrasse«, las sie auf der Rückseite. »Blick über die Rheinebene bis zu den Vogesen«. Das dritte Foto war ebenfalls auf dieser Terrasse aufgenommen. Eine Frau und ein Mann, beide wandten dem Fotografen den Rücken zu, beide hatten die Köpfe nach links gedreht und schauten in die Ferne. Das Profil der Frau lag in der Sonne, das des Mannes im Halbschatten. Die Frau war jung, sie lächelte, ihr lockiges Haar war am Hinterkopf zu einem weichen Knoten geschlungen. Der Mann hatte seinen linken Arm auf die Schulter der Frau gelegt. Sein Arm bildete ein Dreieck, aus dem die scherenschnittschwarzen Tannen zu wachsen schienen. Der Mann war viel älter als die Frau. Dünnes Haar, straff zurückgekämmt, große Ohren, eine markante Nase. Sie kannte sein Bild aus den Zeitungen: Konrad Adenauer, der ehemalige Oberbürgermeister ihrer Heimatstadt und erster Bundeskanzler der jungen Bundesrepublik Deutschland. Aber wer war sie? Seine neue Ehefrau? Seine Tochter? Rosa wusste es nicht. Für die Fotos fand sie genauso wenig eine Erklärung wie für das Treffen mit Oz. »Schalom, Rivka.« Oz sprach sie mit ihrem hebräischen Namen an. Vor Kraft strotzend, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und mit ausgebreiteten Armen stand er plötzlich vor ihr. Er war viel zu groß für den kleinen Raum. Mit der einen Hand griff er nach ihrem Arm, mit der anderen steckte er die Fotos ein. Energisch schob er Rosa vor sich aus dem Kabuff auf einen Flur und danach in ein größeres Zimmer, in dem man schon auf sie wartete. Oz bot ihr ein Glas Wasser und einen Platz am Tisch an und stellte ihr die versammelte Tafelrunde vor. Die Namen konnte sich Rosa auf die Schnelle nicht merken. Die auffälligste Person am Tisch war die einzige Frau: Sie war extrem dick und hielt einen winzigen Köter auf dem Schoß, den sie mit kleinen Matzestückchen fütterte. »Tilly Lapid, unsere Psychologin«, erklärte Oz. Die Berufe der Männer nannte er nicht. Militärs, vermutete Rosa, obwohl keiner von ihnen eine Uniform trug. Oz arbeitete seit einiger Zeit für den Mossad. Er legte die Fotos zu den anderen auf den Tisch. Dann erklärte er Rosa, weshalb er sie hatte kommen lassen. Aber Rosa verstand nicht, warum ausgerechnet sie diesen Auftrag erledigen sollte. »Auch ihr in Omarim wisst sicher, was für einen schweren Stand Ben Gurion wegen der sogenannten Wiedergutmachung hat«, holte Oz aus. »Menachem Begin hat in der Knesset geschäumt. ›Das wird ein Krieg auf Leben und Tod. Es gibt keinen Deutschen, der nicht unsere Väter ermordet hat. Adenauer ist ein Mörder. Jeder Deutsche ist ein Mörder‹, und so weiter. Seine Cherut-Anhänger haben versucht, die Knesset zu stürmen, es gab Straßenschlachten. Dieses Angebot der Deutschen spaltet unser Land. Auch Ben Gurion würde liebend gern auf das Geld der Deutschen verzichten, aber Israel braucht es.« Danach schwiegen alle und richteten ihre Blicke auf Rosa. »Wir sind mitten in der Orangenernte. Da werden alle Hände gebraucht«, versuchte Rosa weiter, sich entbehrlich zu machen. »Außerdem, wieso traut ihr dem Sicherheitsdienst der Deutschen nicht? Aufpassen können sie doch besser als alle anderen.« »Im Prinzip hast du recht«, erklärte Oz. »Aber Adenauers Sicherheitschef ist auf einem Auge blind. Er ist auf die Kommunisten fixiert. Die sind das neue Feindbild. Dass auch von radikalen Zionisten Gefahr droht, will er nicht wahrhaben.« Wieder blickten sie alle erwartungsvoll an. »Ich will nicht nach Deutschland zurück«, sagte Rosa und sah dabei nur Oz an. Oz schob krachend seinen Stuhl nach hinten, schnellte vom Sitz hoch und kam auf sie zu. »Wer will schon nach Deutschland? Außer …« Er sprach den Namen nicht aus. Rosa wusste auch so, dass er Nathan meinte. »Es ist deine Pflicht als überzeugte Israeli.« Oz wieder ganz ruhig. »Du hast in der Hagana gekämpft, du sprichst fließend Deutsch, du kannst dich in diesen bourgeoisen Kreisen bewegen und …« Rosa unterbrach ihn. »Das trifft in Israel auf viele zu. Es leuchtet mir einfach nicht ein, warum ausgerechnet ich da hinsoll.« »Glaub mir, wenn es eine Alternative gäbe, säßest du nicht hier.« Oz zauberte von irgendwoher ein Lächeln herbei, strapazierte es fast bis zum Reißen, beugte sich dann zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Nachtwachen in Omarim im Winter 1938? Du hast mir von den Ferien mit deiner Familie erzählt. Von der Bühlerhöhe, dem Hundseck und dem Bretterwald. Jeden Sommer deiner Kindheit hast du dort verbracht.« Laut, damit es alle hören konnten, fügte er hinzu: »Keiner hier in Israel kennt diese Ecke des Schwarzwaldes besser als du.« Doch, wollte Rosa antworten, Rachel. Ihre Schwester könnte diesen Auftrag viel besser erledigen. Aber Rachel war nach Tanger gegangen. Rosa sah Oz an, wusste, dass auch er an Rachel dachte. »Uns bleibt nicht viel Zeit«, meldete sich einer von Oz’ Männern zu Wort. »Wenn unsere Informationen stimmen, reist Adenauer schon im nächsten Monat auf die Bühlerhöhe.« »Ari, einer unserer erfahrensten Agenten in Europa, leitet die Operation«, schaltete sich die dicke Frau ein. Sie deutete auf die Fotos auf dem Tisch. »Er ist in Berlin aufgewachsen und kommt wie du aus gutbürgerlichem Haus. Ihr werdet euch verstehen, du kannst dich voll und ganz auf ihn verlassen.« »Wie soll das gehen?« »Als Ehepaar, ein Paar ist unauffälliger als ein einzelner Mann. In Baden-Baden trefft ihr euch, du reist als Rosa Goldberg, geborene Silbermann – Gold und Silber, das passt doch, findest du nicht? Davon abgesehen, Ari war noch nie im Schwarzwald, er ist auf dich angewiesen.« Die Psychologin lächelte aufmunternd. »Die Frau von einem Fremden?« Rosa schüttelte den Kopf. »Keine Angst, du musst nicht mit ihm ins Bett steigen, wenn du nicht willst. Ari ist ein Gentleman«, erklärte die dicke Frau, als sie Rosas Blick sah. »Wenn du allerdings für romantische Gefühle empfänglich bist, sei vorsichtig! Er ist ein attraktiver Mann und ein großer Charmeur. In Paris nennen sie ihn den schönen Artur.« Rosa überging die Bemerkung, nahm stattdessen ein Foto nach dem anderen in die Hand und betrachtete es. »Der Mann sieht auf jedem Bild anders aus. Gibt es etwas, woran ich ihn erkennen kann?«, fragte sie. »Sein Aussehen wechselt Ari schneller als das Hemd. Ihr erkennt euch über das Codewort.« Die Frau überlegte eine kleine Weile, dann fügte sie mit einem winzigen Augenzwinkern hinzu: »Falls du die Gelegenheit hast, ihn nackt zu sehen: Er hat eine Narbe auf der linken Schulter. Schussverletzung aus der Schlacht bei El Alamein.« Sie fütterten Rosa mit weiteren Informationen, beantworteten Fragen, zerstreuten Zweifel, bastelten an ihrer Legende, stimmten sie mit der von Ari ab. Sie schmeichelten Rosa mit ihrer Kampferfahrung in der Kibbuz-Verteidigung und im Unabhängigkeitskrieg...