E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Gleixner / Heitzmann Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VII/4 Winter 2013
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-64991-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die spinnen
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-406-64991-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Die spinnen" - die Zeitschrift für Ideengeschichte widmet sich in der Winterausgabe einer alten Idee: dem Kult des Netzes und der ständigen Vernetzung. Schon lange vor Big Data und der Digitalisierung unserer Lebenswelt beschrieben Vernetzungen und gedankliche Verknüpfungen die Praxis des Polyhistors. Gerade die Frühe Neuzeit war geprägt von Gruppenkulturen mit ihren Verflechtungen von Regeln, Normen und Werten. Überall waren Netze, und über Kontinente wurde sie gesponnen. Von den Gelehrtenrepubliken in den amerikanischen Kolonien über die politisch bukolischen Geheimbotschaften eines Helmstedter Professors bis zur Lagebeschreibung der modernen Philosophie spürt diese Ausgabe wirkmächtigen intellektuellen Netzen in den letzten Jahrhunderten nach.
Es schreiben Anthony Grafton, Bruno Latour, Stefan Laube, Martin Mulsow, Ina Schabert und viele weitere.
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STEFAN LAUBE
Tückische Transparenz
Überlegungen vor und hinter dem Netz Das Netz – kaum ein Wort ist in seinen Assoziationen so expandiert. Heute denkt man vornehmlich an das allgegenwärtige Verbindungsmedium für Milliarden Nutzer, an das global ausgreifende und kommunikativ engmaschige Gewebe des Internets. Weniger präsent ist den Digital Natives das althergebrachte Instrument für Mensch und Tier: Das Netz des Fischers, das Netz des Jägers sowie das Netz der Spinne. Netz und Netzwerk sind zu Leitmetaphern von Kommunikation, Gesellschaft und Wissenschaft geworden. Wo auch immer Menschen sind, das Global Village des Internets verbindet sie. Menschen in ihrer digitalen Dimension, «Netizens», sind zu beweglichen Knoten im Netz der Netze geworden, überall und jederzeit erreichbar. Die Welt hat sich verschoben: Der unmittelbaren Wahrnehmung, die weitgehend ohne technische Hilfsmittel auskommt, steht die Dominanz des digitalen Netzes gegenüber. Diese zweite Welt bildet die erste nicht nur ab, sondern schafft selbst neue Welten – bis der Unterschied zwischen Realität und Virtualität keine Aussagekraft mehr entfaltet. Früher verbarg sich im Vernetztsein ein eher unfreiwilliger und temporärer Akt der Verstrickung, heutzutage ist dieser Zustand permanent; er wird bejaht und geht mit einer Entfesselung medialer Möglichkeiten einher. Als ein «der Spinne verlängertes Selbst, ihren Raub zu erhalten», so charakterisiert Johann Gottfried Herder (1744–1803) das Spinnennetz.[1] Als ein «verlängertes Selbst» der Menschheit erscheint auch das Word Wide Web, dessen Potenzial über die üblichen prothetischen Extensionen der bisherigen Medien weit hinausgeht. Die Zukunft hat bereits begonnen: Das Wissen ist nicht mehr länger zwischen Buchdeckeln gefangen, es fluktuiert frei im Netz und steht ungeahnter kombinatorischer Vielfalt offen. Das Netz im elektronischen Verständnis hat den Gehalt des materiellen Netzes als eines der ersten Hilfsmittel, das der Mensch zu seiner Selbsterhaltung herzustellen lernte, fast vollständig absorbiert. Dabei können Netze auch heute noch ihre dingliche Konsistenz entfalten: Ohne ein Geflecht aus Knoten und Verbindungen wären die Beutezüge eines Hochseefischers unergiebig, die Kunststücke eines Trapezkünstlers lebensgefährlich, der Schlag eines Tennisspielers umstritten. Das Netz oszilliert in seiner Ambivalenz zwischen Schützen und Fangen, Sichtbarkeit und Verhüllung. Netze schützen – als Tarnmedium beim Militär, vor Moskitos beim Schlafen, vor den Speichen beim Radfahren. Netze halten den Menschen in der Hängematte, das Gepäck in alten Zügen, die Lebensmittel im Supermarkt. Verderben bringt das Netz, sobald man sich in ihm verfängt. In der römischen Antike ist der Netzmann, der «retiarius», ein Gladiator ohne Schwert. Leicht gepanzert und mit Netz und Dreizack die Waffen eines Fischers tragend, bestand seine Aufgabe darin, sein Netz so geschickt zu werfen, dass sich sein Gegner darin verfing und sich selbst behinderte. Kaum eine andere Erfindung ist so simpel und gleichzeitig so vielseitig wie das Netz. Das gewirkte und geknotete Material umhüllt nicht nur, sondern gibt auch den Blick frei auf das, was in ihm ist – ein Reiz, den sich bis heute die Damenstrumpfbranche zunutze macht. Beim Netz herrscht zwischen Innen und Außen das Prinzip gleichzeitiger Sichtbarkeit. In seiner Durchsichtigkeit avancierte es zum Medium der Überprüfbarkeit par excellence – gerade auch im Fußball, ist doch erst mit Hilfe des Netzes zweifelsfrei festzustellen, ob ein Ball über oder unter der Latte geflogen ist. Abb. 1 Netzbild eines Frauenakts, Albrecht Dürer, Underweysung der messung (1525) Kategorie von Bild und Raum
Dass das Netz in Raumerfassung und bildlicher Wiedergabe unüberbietbar ist, zeigt allein schon unser Auge. Die Retina als komplexe Netzstruktur im Auge sorgt mit Hilfe des Gehirns dafür, dass die einfallenden Lichtstrahlen dreidimensionale Bilder zu erkennen geben. Gleichsam externalisiert erscheint dieser Mechanismus beim Perspektivgitter in der Renaissance, ohne das es kaum möglich gewesen wäre, exakte räumliche Tiefe auf einem Blatt Papier zu erzeugen, das heißt die Welt so abzubilden, wie wir sie mit unseren eigenen Augen sehen. Bereits Leon Battista Alberti (1404–1472) hat darauf hingewiesen, dass der Künstler die Natur mit einem imaginären Liniennetzwerk überzieht. Auf Albrecht Dürers sowohl Voyeure als auch Zeichner ansprechenden Holzstich Der Zeichner des liegendes Weibes ist deutlich das Gitter zwischen Objekt und Künstler zu erkennen. (Abb. 1) Der Künstler zeichnet das, was er von seinem festen Blickpunkt aus durch ein Netz sieht, direkt auf ein gerastertes Blatt, wodurch die Proportionen des Objekts gewahrt bleiben. Abb. 2 Die Erde unter einem imaginären Netzwerk, Giovanni Paolo Gallucci, Theatrum Mundi et Temporis (1588) Das Netz ist vor allem ein bild- und raumwissenschaftliches Phänomen. Es reicht, Grundrisse aus der Vogelperspektive zu betrachten – von den griechischen Städten im Zeitalter der Kolonisation bis zum expandierenden New York des 19. Jahrhunderts. Mit dem topographischen Netz war ein Ordnungsmuster etabliert, das – beliebig erweiterbar – im unbekannten Terrain ausgreifen konnte. Das Netz als Modell dient dazu, Ordnungsstrukturen zu generieren, die über die Reichweite des einzelnen Menschen weit hinausgehen. Das ptolomäische Koordinatensystem der Längen- und Breitengrade spannt über die kugelförmige Erde ein Gitternetz. (Abb. 2) Verknüpfungen zwischen scheinbaren Fixpunkten am Himmel entwickelten sogleich netzartige Konfigurationen. Im Zeitalter der Aufklärung sollte Nicolas Louis de la Caille (1713–1762) einer Sternenkonstellation im südlichen Himmelskreis den Namen «Rhomboidisches Netz» geben. Im Theatrum mundi et temporis (Venedig 1588) von Giovanni Paolo Gallucci (1538–1621), der als erster moderner Sternenatlas gilt, fügt sich das Geflecht von klassischen Sternkonstellationen in konkrete Sternbilder, die nicht schematisch, sondern naturalistisch dargestellt sind – vom Löwen, Schützen bis zum kämpfenden Herkules. Die Konstellation der Andromeda ist zu einer tänzelnden Frau im wallenden Kleid vervollständigt. Darüber hinaus leitet Gallucci aus dem Vernetzungspotenzial von Koordinatensystemen den Längen- und Breitengrad der Sternenfiguration ab, so dass deren genauer Ort abgelesen werden kann. Verbindungen und Knotenpunkte am Himmel fungieren seit jeher als Navigationssystem, aber auch als symbolische Form mythischer Kräfte. Der italienische Astronom verkörpert das spannungsvolle Ineinander von logisch-mathematischen Verfahren und dem Glauben an die magische Wirkmächtigkeit der errechneten Konstellationen – eine widersprüchliche Mischung, die Aby Warburg in seinem Aufsatz Heidnisch-antike Weissagungen in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1918/1920) zum Kern seines Kulturverständnisses machen sollte. Galluccis Himmelskunde mag hier als Vorbote der Schwerpunkte fungieren, die im Folgenden gesetzt werden. Der Fokus liegt in ferneren Zeiten, insbesondere in der frühen Neuzeit.[2] Da das Netz mehr mit Raum und Bild zu tun hat als mit Text und Zeit, wird eine raum- und bildwissenschaftliche Perspektivierung bevorzugt. Die Entfaltung des Netzes in seiner vielfältigen Semantik vollzieht sich auf drei Ebenen: Das Netz wird in seiner Gestalt als materielles Ding, in seinem Gehalt als symbolisches Emblem sowie in seiner Qualität, die Welt im Ganzen zu strukturieren, behandelt. In der zweiten Hälfte wird die Wissensliteratur von Renaissance und Barock zum Thema. Da das Netz abstrakte Relationen sogleich in räumliche Bilder zu verwandeln vermag, ist es sehr geeignet, als kategoriales Wissensprinzip zu fungieren. Derartige Netze erschließen sich nicht von selbst, sie müssen entziffert werden. Dabei wird deutlich, dass Netze als Wissenskategorie weder eindeutig der Gattung «Text» noch der Gattung «Bild» angehören. Sie scheinen ein Zeichensystem des In-between zu sein. Bedeutungsfäden
Die Netz-Semantik ist seit jeher weit gespannt. Es reicht von der buchstäblichen Bedeutung über metaphorische Sinnbezüge bis zur kosmologischen Aufladung. Die Wortgeschichte versetzt den Netzforscher in die griechische Mythologie. Arachne wagt in der Kunst der Weberei einen Wettstreit gegen Athene und besteht ihn erfolgreich. Aus Neid zerstört die Göttin Arachnes Netz und verwandelt die sterbliche Konkurrentin in eine Spinne.[3] Seither bezeichnet das Griechische die Spinnereien der Spinne als ein «arachnion», während die Flechtwerke des Fischers «thêratron» genannt werden.[4] Auch das Lateinische verfügt je nach Bedeutungsabsicht über mehrere Worte: «Nassa» oder «rete» legt den Akzent darauf, dass sich etwas verfängt, und bezieht sich vor allem auf Reusen und Fischnetze,[5] «nexus» meint ein bloß Zusammengebundenes, Verwobenes, «nodus» den Knoten oder die komplexe Verwebung. Es fällt auf, dass das Deutsche stets von...