Götz / Lemberger | Prekär arbeiten, prekär leben | Buch | 978-3-593-38872-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 290 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 371 g

Götz / Lemberger

Prekär arbeiten, prekär leben

Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen
2. Auflage 2009
ISBN: 978-3-593-38872-4
Verlag: Campus

Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen

Buch, Deutsch, 290 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 371 g

ISBN: 978-3-593-38872-4
Verlag: Campus


Prekäre Arbeitsverhältnisse machen es vielen Menschen unmöglich, von nur einem Job zu leben oder gar langfristig zu planen. Die Autorinnen und Autoren untersuchen die unterschiedlichen Perspektiven in der öffentlichen Diskussion über diese Thematik und analysieren in Fallstudien, was unsichere Arbeitsund Lebensbedingungen für die Betroffenen bedeuten und wie diese ihre Situation gestalten.
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Inhalt

Prekär arbeiten, prekär leben: Einige Überlegungen zur Einführung
Irene Götz, Barbara Lemberger

I. Positionierungen im sozialen Raum: Die Bearbeitung von Prekarität und Prekarisierung in Wissenschaft, Politik und Medien

Prekarisierung der Arbeits- und Lebenswelt - Kulturwissenschaftliche Reflexionen zu Karriere und Potenzial eines Interpretationsansatzes
Manfred Seifert

Klassengesellschaft in der Krise. Von der integrierten Mitte zu neuen sozialen und politischen Spaltungen
Michael Vester

Wo ist "drinnen", wo ist "draußen"? Die Wirkung sozialpolitischer Integrationsinstrumente, widerständige Erwerbslose und wie die Medien diese disqualifizieren
Katrin Lehnert

Wegschließen, Ausschließen, Einschließen. Problematisierte Jugendliche und die Rolle des Wohlfahrtssystems: Gouvernementale Perspektiven
Gerlinde Malli

Working Poor in Japan: "Atypische" Beschäftigungsformen im aktuellen Diskurs
Julia Obinger

II. Akteursperspektiven: Kreative Haltungen in und anstatt prekärer Verhältnisse

"Wir nennen es Kreativität": Inszenierungen von "alter" und "neuer" Arbeit in Werbebildern
der Informations- und Kommunikationstechnologie
Manuela Barth

Ein neuer Habitus des Geistes- und Kulturwissenschaftlers: Über die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses
Lutz Musner

Ausgliederung unternehmerischer Sozialverantwortung in einer Schweizer Großbank - Ethnographie widersprüchlicher Logiken von Stellenabbau und Krisenmanagement
Andrea Buss Notter

Postsozialistisches Markttreiben - Überlebensökonomien im transnationalen Raum
Regina Bittner

Prekäre Subsistenz: Eine historische Rückschau auf dörfliche Bewältigungsstrategien im Umbruch zur Industrialisierung
Andrea Hauser

Autorinnen und Autoren


Prekär arbeiten, prekär leben
Einige Überlegungen zur Einführung
Irene Götz, Barbara Lemberger

"Prekarität ist überall"

Pierre Bourdieu betonte bereits 1998 in seinem Essay "Prekarität ist überall" die demoralisierende Wirkung der zunehmenden Prekaritätserfahrung, die Zeit- und Planungshorizonte der Akteure verkürze. Zehn Jahre später ist die öffentliche Rede über neue Armut und die Abstiegsängste, von denen die mittleren Schichten ebenfalls zunehmend erfasst werden, in der Politik und Wissenschaft auch hierzulande angekommen. Ungesicherte und kurzfristige Arbeitsverhältnisse, die immer häufiger nicht zum Lebenserhalt reichen, und ihre ökonomischen und psychosozialen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft werden dabei im öffentlichen Raum aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Die Auseinandersetzung mit der Perspektivität der Diskussion bildet einen Leitfaden des vorliegenden Bandes, der auf eine interdisziplinäre Vortragsreihe über "Prekariat und Prekarisierung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive" am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München im Wintersemester 2007/08 zurückgeht.

Einige Beiträge, besonders im ersten Teil des Buches, dekonstruieren hierfür den Umgang mit "Prekariat" und "Prekarisierung" als Interpretament und Instrument im sozialen Raum. Sie verfolgen die Frage, wie Prozesse und Erfahrungen der "Prekarisierung" in den Feldern der Wissenschaft, der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, gezielter Unternehmensstrategien oder im Feld der Medien erzeugt und bearbeitet werden. Generell verweisen "Prekariat" und "Prekarisierung" auf strukturelle Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft, wo die verstärkte Marktsteuerung mit ihrer flexibilisierten Arbeit ehemals Angestellte zunehmend zu "Unternehmern" in Sachen Selbstvermarktung ihrer eigenen Arbeitskraft macht. Hier wird der ungebundene Berater zum Leitbild, verkörpert beispielsweise von Finanzdienstleistern und Versicherungsmaklern. Analog dazu macht der Sozialstaat im Umbau den Bürger zum Kunden. Selbstöko nomisierung und Subjektivierung gehen in der "Kultur des neuen Kapitalismus " (Sennett 1998) oft mit sozialen Desintegrationsprozessen und mit verletzter Würde einher, und Leitbilder des Fordismus werden dysfunktional: Verlässlichkeit, Berufserfahrung, einmal erworbene Qualifikationen und handwerkliches Können sorgen nicht mehr unbedingt dafür, dass man Arbeit hat und behält. Die pyramidenförmige bürokratische Organisation des fordistischen Unternehmens mit klaren Hierarchien und den von Max Weber einst identifizierten quasi-militärischen Befehlsketten des "stahlharten Gehäuses", in dem der einzelne Routine erfuhr - im positiven Sinn von Sicherheit und klaren Karrierewegen wie im negativen Sinn der Monotonie und Stagnation - löst sich in fluideren, projektorientierten und netzwerkartigen Arbeitszusammenhängen auf (vgl. z. B. Boltanski/Chiapello 2003: 142-202)1: Der Angestellte - oder immer häufiger der "freie Mitarbeiter" - wird zum "Drifter" in unberechenbaren und wechselhaften Beschäftigungsverhältnissen mit diffuseren Verantwortlichkeiten einer schwer auszumachenden "Zentrale". Diese äußeren Bedingungen "entbetten " ihn (oder sie), erschweren Planungs- und Zukunftsorientierung oder auch Familiengründungen, erzwingen räumliche und permanente geistige "Beweglichkeit" als Grundvoraussetzung für die vom "flexiblen Menschen " stets neu unter Beweis zu stellende employability. Soziale Spaltungen und Brüche in den Biografien sind häufig beklagte Folgen (Schultheis 2007, Seifert/Götz/Huber 2007).

Im Gegensatz zu diesen eher kulturpessimistischen Betrachtungen von Kapitalismuskritikern wie Richard Sennett wird dagegen in neoliberalen Diskursen von der "neuen Selbständigkeit" als Wegbereiter weg von einer, wie es heißt, den Aufschwung blockierenden Erwartungshaltung, hin zu einer neuen Global Entrepreneurship-Mentalität gefeiert. Wer Kreativität und Eigenverantwortung zeigen will, entscheidet sich aktiv für die Selbständigkeit: So werben nicht nur einschlägige mediale Partizipationsdiskurse, sondern so feiert etwa auch die sogenannte digitale Bohème, eine junge urbane Szene Kulturschaffender, ihr von multiplen Entgrenzungen und Stilisie rungen geprägtes Lebensmodell als Abgesang auf das Joch der lebenslangen Festanstellung (Friebe/Lobo 2006).

Ein weiterer Diskussionsstrang rund um postoperaistische Theoretikerinnen und Theoretiker2 der neuen Linken begreift Prekarisierung nicht nur "als die Ausbeutung der Arbeitskraft", sondern versteht darunter die "Ausbeutung eines diskontinuierlichen, mehr oder weniger zumutbaren Alltags" (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2009: 342).3 Den Ausgangspunkt dieser Debatte bildet ein umfassender Begriff von Arbeit und Produktivität, der über "Erwerbsarbeit" und "materielle Produktionsgüter" hinausgeht. Sie wendet sich insbesondere gegen eine "falsche" Dichotomisierung von Prekarität, die, verkürzt gesagt, ein "abgehängtes Erwerbslosen-Prekariat " auf der einen Seite und die selbstbestimmten Akademikerinnen und Akademiker als "Luxusprekarisierte" (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2009: 343) auf der anderen Seite konstruiert.

Zusammengefasst: Wie Prekarisierung und Prekarität thematisiert, definiert, bewertet und erfahren wird, ist von vielen Faktoren wie Alter, Milieu, sozialer, regionaler und politischer Herkunft und vorhandenen Kapitalsorten, insbesondere auch von traditionalen Orientierungen, etwa hierzulande häufig an einem "Normalarbeitsverhältnis" des fordistischen Wohlfahrtstaates, abhängig. Hier, bei der Perspektivität und Mehrdimensionalität dieser Problematik, kommt eine Stärke kulturwissenschaftlichen Arbeitens ins Spiel, die exemplarisch in verschiedenen Facetten zu erkunden Ziel dieses Bandes ist. Sie vermag die Innenseite des Geschehens zu erhellen und in Einzelfallstudien die Akteursperspektiven auszuloten. Aus diesen Innensichten heraus erschließt sich das individuelle und je nach Milieu und Wertehorizont anders erfahrene und "kreativ" bearbeitete Verhältnis von Zwang und Chance, das den ungesicherten und kurzfristigen Arbeitsverhältnissen prinzipiell innewohnt.

Entsprechend stellt vor allem der zweite Teil des Bandes - mit Schwerpunkt auf der Mikroperspektive - Akteurssichten und unterschiedlich ausgeprägte ambivalente Haltungen gegenüber den prekären Arbeitsverhältnissen am Beispiel unterschiedlicher Tätigkeitsprofile und Qualifikationsniveaus vor. Der Beitrag von Andrea Hauser setzt sich mit den Lebensverhältnissen von Lohnarbeitern im Frühkapitalismus auseinander und fragt, inwieweit sich aus historischer Perspektive - und hier auch in der ländlichen Gesellschaft - von Prekarisierungserfahrungen sprechen lässt und inwieweit Prekariat und Prekarisierung überhaupt neue Phänomene sind. Verweisen manche der neuen ungesicherten Arbeitsbedingungen und im Besonderen die Tätigkeitsbricollagen (vgl. Warneken 2006: 121-125) nicht geradezu zurück auf die im Frühkapitalismus üblichen Unsicherheiten, Bewältigungsstrategien und zur "Bearbeitung" von Prekarität schon damals geschaffenen Institutionen?

Neben der für die kulturwissenschaftliche Perspektive wichtigen historischen Dimensionierung werden, in zwei weiteren Beiträgen andere Regionen thematisiert. Die räumliche Ausweitung auf das Phänomen des "Working poor" in Japan (Julia Obinger) und auf das "postsozialistische Markttreiben" im transnationalen Raum (Regina Bittner) gibt den Blick darauf frei, dass Prekarität als Diskurs- und Praxisgegenstand zentral von den wirkenden traditionalen wie auch rezenten makro- und mikrokontextuellen Strukturen diesseits und jenseits des Nationalstaats geformt wird und sich der Blick nicht auf das Modell des westlichen Kapitalismus mit seinen Varianten verengen lässt, auch wenn letzterer den Bezugsrahmen für die meisten Beiträge dieses Bandes bildet.

Die Herausgeberinnen begnügen sich bei ihrer thematischen Einführung im Folgenden mit diesen wenigen kursorischen und schlaglichtartigen Anmerkungen zur gewandelten postfordistischen Arbeitsgesellschaft als generellem Rahmen für die Betrachtung von Prekarität und Prekarisierung des Arbeitens und Lebens von immer mehr Menschen unterschiedlichster Herkunftsmilieus. Denn über diese tiefgreifenden Veränderungen ist ohnehin schon viel - mit jeweils anders akzentuierten setzenden Theoriekonzepten - geschrieben worden, die von der Sozialstrukturanalyse (Michael Vester in diesem Band), über Arbeiten zum "neuen Geist des Kapitalismus" (Boltanski/Chiapello 2003) reichen, oder die, ebenfalls in der Tradition Bourdieus (1997), Akteure zu ihrem alltäglichen Leiden an einer "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" (Schultheis/Schulz 2005, Katschnig-Fasch 2003) zu Wort kommen lassen. Andere Ansätze - wie die der Industriesoziologie - fokussieren dagegen den Wandel der Arbeitskraft, der sich in Subjektivierungs- und Entgrenzungskonzepten als Folgen und Begleiterscheinungen des Postfordismus ausdrückt (z. B. Gottschall/Voß 2003, Moldaschl/Voß 2002), oder rekurrieren - gemäß dem Sinnbild "die Fabrik kommt in die Gesellschaft" und kapitalisiert alle Lebensbereiche - auf die postoperaistischen Konzepte der neuen Linken über die in allen gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern zu findende immaterielle oder affektive Arbeit. Andere hingegen wenden sich erneut gezielt den "Unterschichten" und neuen Prozessen der In- und Exklusion zu.

Diese Einleitung will nicht näher in die Diskussion eines vielfältigen neueren Forschungsstandes einsteigen, auch eine genaue Begriffsbestimmung überlassen wir dem folgenden ersten Beitrag von Manfred Seifert, der die "Karriere" und insbesondere auch das kulturwissenschaftliche Potenzial von "Prekarität und Prekarisierung als Interpretationsansatz" analysiert. Diese Einführung kann sich deshalb auch darauf beschränken, die hier vorgestellten Beiträge noch einmal aus einem weiteren - bezüglich Teil I makroperspektivischen und bezüglich Teil II mikroperspektivischen - Blickwinkel zu kommentieren. Hierdurch, hinsichtlich des zweiten Teils unter Zuhilfenahme des Konzepts der "Kreativität", soll das Spezifische kulturwissenschaftlicher Ansätze mit ihrem multiperspektivischen Blick und ihrer Subjektorientierung herauspräpariert werden. Dies sind insbesondere die Möglichkeiten einer mit ethnografischer Methodentriangulation arbeitenden miniaturartigen Einzelfallorientierung, die komplementär zu den großen sozialwissenschaftlichen Panoramen Differenzierung und Tiefenschärfe erlaubt und dabei stets mit dem Makrokontext des Gesellschaftlichen verzahnt bleibt.


Götz, Irene
Irene Götz ist Professorin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der LMU München.

Lemberger, Barbara
Barbara Lemberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der LMU München.

Irene Götz ist Professorin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der LMU München. Barbara Lemberger ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.



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