Buch, Deutsch, Band 28, 228 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 292 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
Krankenversicherungsreformen in Deutschland und den Niederlanden
Buch, Deutsch, Band 28, 228 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 292 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
ISBN: 978-3-593-50630-2
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Gesundheitsökonomie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Public Health, Gesundheitsmanagement, Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Krankenversicherung
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Umwelt- und Gesundheitspolitik
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Inhalt
Vorwort 7
1 Einleitung 9
1.1 Zentrale Forschungsbegriffe 11
1.2 Stand der Forschung 14
1.3 Vorgehensweise und Methodik 21
2 Theoretischer Rahmen 25
2.1 Funktionalistische Ansätze 26
2.2 Interessenorientierte Ansätze 30
2.3 Institutionalistische Ansätze 33
2.4 Synthese 35
3 Rahmenbedingungen 39
3.1 Politisches Institutionengefüge 39
3.2 Parteien und Koalitionen 45
3.3 Ärzteschaft 51
3.4 Abgrenzung im dualen System 55
3.5 Struktur der sozialen Absicherung 71
3.6 Struktur der privaten Krankenversicherung 84
3.7 Zwischenfazit 93
4 Deutschland: Überwindung der berufsständischen Gliederung 97
4.1 Enquete-Kommission setzt Agenda, 1987/88 97
4.2 Geeintes Deutschland, gegliederte Kassen, 1989/90 102
4.3 Konsens gewonnen und zerronnen, 1991-97 103
4.4 Kassenwettbewerb tritt in Kraft, 1996-98 109
4.5 Große Erwartungen, kleine Reformen, 1998/99 112
4.6 Kampf gegen die Risikoentmischung, 1999-2002 114
4.7 Einmal privat, immer privat, 1999-2002 118
4.8 Bürgerversicherung versus Kopfpauschale, 2003-05 122
4.9 Überwindung der Gliederung, 2005-09 126
5 Niederlande: Überwindung der Dualität 135
5.1 Dekker-Report: Bereitschaft zur Veränderung, 1987 135
5.2 Veränderung doch nicht versichert, 1988/89 141
5.3 Simons-Plan scheitert auf halber Strecke, 1990-94 143
5.4 Stillstand mit viel Bewegung, 1995-2000 147
5.5 Der Weg zur großen Systemreform, 2001-06 150
5.6 Implementation und erste Revisionen, 2006-10 159
6 Vergleich der Reformpfade 165
6.1 Reformagenda 166
6.2 Frühe Reformphase 172
6.3 Späte Reformphase 177
6.4 Erklärungsmodell 182
7 Schluss 189
7.1 Fazit: Something old, Something new… 189
7.2 Ausblick auf die deutsche Dualität 196
Abkürzungsverzeichnis 201
Abbildungen und Tabellen 205
Interviewpartner 207
Quellen 211
Literatur 213
1 Einleitung
Der Forschungsgegenstand dieses Buches ist ein empirisches Puzzle. Zu Beginn der 1980er-Jahre sicherten die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Niederlande als einzige Staaten der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) die allgemeine Gesundheitsversorgung mit einem dualen Krankenversicherungssystem sicher. Während die Mehrheit der Bevölkerung gesetzlichen Krankenkassen angehörte, konnten Beamte, Selbstständige und höhere Angestellte substituierende Privatversicherungen abschließen. Diese unterschieden sich fundamental in ihrer Finanzierungs- und Vergütungssystematik. In den folgenden drei Jahrzehnten ist in beiden Ländern ein Hybridisierung beobachtbar. Diese äußerte sich einerseits in einer Vermarktlichung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch Kassenwettbewerb. Andererseits erfolgte eine Indienstnahme der privaten Kranken-versicherung (PKV) für soziale Belange durch Eingriffe in ihre Vertragsfreiheiten.
In den Niederlanden kulminierte dieser Prozess 2006 in einer vollstän-digen Konvergenz beider Sphären durch die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung mit privater Rechtsform für die gesamte Bevölkerung. In Deutschland bleiben GKV und PKV dagegen weiterhin getrennt. Die forschungsleitende Frage dieses Buchs lautet daher:
Welche politischen, ideellen und institutionellen Faktoren können den zum gegenwärtigen Zeitpunkt unterschiedlichen Stand hinsichtlich der Dualität des deutschen und des niederländischen Krankenversicherungssystems erklären?
Zur Beantwortung dieser Frage wird ein historisch-institutionalistischer Ansatz gewählt. In der vergleichenden Gesundheitssystemforschung ist dieser Ansatz eng mit Ellen Immerguts wegweisender Monografie Health Politics verbunden. Sie führte die unterschiedliche Entwicklung der Gesundheitssysteme Schwedens, Frankreichs und der Schweiz während der wohlfahrtsstaatlichen Expansion auf die Geschlossenheit beziehungsweise Fragmentierung der jeweiligen politisch-administrativen Systeme zurück. Demnach begünstigten instabile parlamentarische Mehrheiten in der französischen Nationalversammlung oder das fakultative Referendum in der Schweiz das Vetopotenzial der organisierten Ärzteschaft.
"Political institutions do not predetermine policies. Instead, they are an integral part of the strategic context in which political conflicts take place. Political institutions set boundaries within which strategic actors make their choices" (Immergut 1992: 242).
Dadurch ergänzte Immergut die akteursorientierte Vetogruppentheorie (Godt 1987; Mayntz 1990), die in der vergleichenden Gesundheitssystemforschung vor allem auf die Ärztemacht fokussiert ist, um einen politisch-institutionellen Rahmen, in dem diese Interessengruppen agieren.
Dieses Buch entwickelt Immerguts Heuristik weiter, indem die Struktur des Krankenversicherungssystems in den Mittelpunkt rückt. Studien zur Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen setzen zumeist nicht erst beim Gesetzgebungsprozess, sondern bereits bei den Reformoptionen an (Starke 2007: 29ff.). Frühere sozialpolitische Entscheidungen erzeugen Pfadabhängigkeiten, die den Gestaltungsspielraum begrenzen. Dies kann durch prohibitiv hohe Kosten begründet sein, die ein struktureller Wandel implizieren würde. Ein Beispiel hierfür ist die Umstellung einer umlagefinanzierten Altersversorgung auf Kapitaldeckung (Myles/Pierson 2001). Mit Blick auf die Gesundheitspolitik argumentiert David Wilsford, dass großer Wandel auf äußerst seltene "windows of exceptional opportunity" (1994: 252) beschränkt sei. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen schaffen zudem ihre eigenen gesellschaftlichen Unterstützungsgruppen, die von kollektiv finanzierten sozialen Leistungen profitieren.
"Maturing social programs produce new organized interests, the consumers and providers of social services, that are usually well placed to defend the welfare state" (Pierson 1996: 175).
Politische Präferenzen relevanter Akteure werden somit nicht mehr als exogene Faktoren aufgefasst, stattdessen wird eine stärker endogene Sichtweise bei der Formierung von Interessen eingenommen. Dieser Forschungsperspektive liegt somit eine deutlich flexiblere Interpretation institutioneller Verharrungskräfte zu Grunde. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen determinieren nicht die Wandlungsprozesse, aber verändern das strategische Interesse relevanter Akteure.
Somit dient die unterschiedliche Ausgestaltung der dualen Krankenversicherungssysteme in Deutschland und den Niederlanden im Zu-sammenspiel mit dem fragmentierten politischen Institutionengefüge der Erklärung verschiedener Interessenkonstellationen während des Reformprozesses. Das gegenwärtig unterschiedliche Politikergebnis ist daher ein empirisches Zeugnis dafür, wie vergleichsweise kleine Strukturunterschiede im Zeitverlauf eine große Wirkung entfalten können.
1.1 Zentrale Forschungsbegriffe
Um überhaupt die entscheidenden Bestimmungsfaktoren eines Reform-prozesses identifizieren zu können, bedarf es zunächst einer Definition der zentralen Begriffe dieser Untersuchung. Dazu zählt an erster Stelle der Forschungsgegenstand dieses Buchs: das duale Krankenversicherungssystem. Obwohl dieser Terminus häufig im politischen und wissenschaftlichen Diskurs verwendet wird, hat sich bisher keine allgemein anerkannte Definition durchgesetzt. Die folgenden Ausführungen basieren daher auf einer Arbeitsdefinition. Demnach liegt ein duales Krankenversicherungssystem vor, wenn signifikante Teile einer mehrheitlich versicherten Bevölkerung zwei verschiedenen Versicherungsformen für die medizinische Grundversorgung unterliegen. Zum besseren Verständnis dieser kompakten Begriffsbestimmung bietet es sich an, ihre einzelnen Elemente näher zu erläutern. Im Folgenden werden dazu vier zentrale Aspekte genauer beleuchtet.
Erstens fokussiert diese Definition auf die finanzielle Absicherung der medizinischen Grundversorgung. Daher sind für die Feststellung eines dualen Gesundheitssystems lediglich Absicherungsformen von Interesse, die für ihren betreffenden Bevölkerungskreis den Großteil der Kosten für personengebundene, kurativ-medizinische Leistungen tragen. Ausgaben für Langzeitpflege oder populationsbezogene Präventionsprogramme fallen somit nicht unter diese Definition. Ergänzende Finanzierungskomponenten wie Zusatzversicherungen, Selbstbeteiligungen oder Steuerzuschüsse werden ebenfalls nicht berücksichtigt.
Zweitens kann gemäß der Arbeitsdefinition ein duales Krankenversicherungssystem nur bei einer mehrheitlich versicherten Bevölkerung auftreten. Somit muss mindestens die Hälfte der Bevölkerung einem Risikokollektiv angehören, das eine Kostenübernahme im Krankheitsfall an direkte oder mittelbare Beiträge seiner Mitglieder knüpft. Dieses sogenannte Versicherungsprinzip (siehe Schräder 2008: 59f.) ist auch dann eingelöst, wenn zahlungssäumige Mitglieder weiterhin Anspruch auf lebensrettende oder schmerzstillende Notfallbehandlungen haben. Fürsorge- und Versorgungssysteme fallen allerdings nicht unter diese Kategorie, da bei ihnen der Anspruch auf medizinische Versorgung ohne monetäre Vorleistung aufgrund nachgewiesener Bedürftigkeit beziehungsweise sozialer Rechte durch die Staatsbürgerschaft besteht.
Drittens muss sich diese mehrheitlich versicherte Bevölkerung auf zwei verschiedene Versicherungsformen verteilen. Eine Versicherungsform zeichnet sich durch ein gemeinsames ordnungspolitisches Grundprinzip aus. Die wissenschaftliche Literatur differenziert zumeist zwischen Solidar- und Individualprinzip (siehe Neubauer/Birkner 1984: 37; Klingenberger 2001: 77; Böckmann 2011: 67). Zu den Merkmalen zählt die Finanzierungssystematik, bei der zwischen einkommensabhängigen, nominalen und risiko-äquivalenten Beiträgen unterschieden wird. Eine zentrale Rolle spielt das Ausmaß der Vertragsfreiheit, die der Staat durch Versicherungspflicht, Kontrahierungszwang, Familienmitversicherung und festgelegte Leistungskataloge einschränken kann. Die Versicherungsform manifestiert sich auch in der Honorierung von Leistungserbringern, welche auf der Basis des Sachleistungs- oder Kostenerstattungsprinzips erfolgen kann. Darüber hinaus unterscheiden sich Versicherungsformen noch hinsichtlich ihrer zulässigen Rechtsformen, zu denen beispielsweise Körperschaften öffentlichen Rechts, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit oder profitorientierte Kapitalgesellschaften zählen. Auf Grundlage real existierender Krankenversicherungen wird daher zumeist zwischen Sozial- und Privatversicherungen unterschieden. Diese bilden hinsichtlich ihrer idealtypisch überhöhten Merkmalsausprägungen ein.
Viertens und letztens liegt nur dann ein duales Krankenversicherungssystem vor, wenn sich signifikante Teile der Bevölkerung auf die beiden Versicherungsformen verteilen. Hierzu wird im Folgenden die pragmatische Bedingung gewählt, dass beide Versicherungsformen jeweils mindestens fünf Prozent der Bevölkerung absichern müssen, damit ein duales Krankenversicherungssystem vorliegen kann.
Im Gegensatz zum bisweilen synonymen Gebrauch der Begriffe duales und gegliedertes Krankenversicherungssystem wird in diesem Buch eine klare Trennung favorisiert. Ein duales Krankenversicherungssystem besteht wie bereits dargelegt aus einer Privat- und einer Sozialversicherung. Allerdings kann letztere ihrerseits wiederum in unterschiedliche Versicherungsarten gegliedert sein, wenn sich der darin abgesicherte Bevölkerungskreis kraft Zuweisung auf unterschiedliche Risikokollektive mit eigener Finanzierungs-verantwortung verteilt. Von zentraler Bedeutung ist somit die staatliche Zuweisung von gesetzlich Versicherten zu einem einzelnen oder einer begrenzten Zahl von Kostenträgern auf Grundlage externer Merkmale wie Alter, Beruf oder Region. Für die daraus resultierenden Unterschiede in der Risikostruktur müssen die Kostenträger die Finanzierungsverantwortung tragen, was sich in unterschiedlichen Beitragssätzen widerspiegeln kann. Eine Sozialversicherung wird im Folgenden erst als demografisch, berufsständisch oder geografisch gegliedert angesehen, wenn mindestens fünf Prozent der gesetzlich Versicherten nach dem entsprechenden Merkmal einem oder einer begrenzten Zahl von Kostenträgern zugewiesen wurden.
Während Dualität einen Zustand beschreibt, steht ein weiterer zentraler Begriff dieses Buchs - die Hybridisierung - für einen Prozess. Da Hybridisierung geradezu ein wissenschaftliches Modewort geworden ist, das in zahlreichen Disziplinen mit unterschiedlichster Bedeutung Anwendung findet, bedarf es auch hier einer genaueren Begriffsbestimmung für den Kontext dieses Buchs. Im Hinblick auf den Forschungsgegenstand "duale Krankenversicherungssysteme" liegt Hybridisierung vor, wenn Versicherungsformen aufgrund gesetzgeberischer Akte atypische Merkmalsausprägungen annehmen. Auch diese Definition erfordert detaillierte Erläuterungen, wobei im Folgenden auf drei Aspekte näher eingegangen wird.
Erstens ist für einen Hybridisierungsprozess die Annahme atypischer Merkmalsausprägungen erforderlich. Diese treten auf, wenn eine Versicherungsform einzelne Merkmale der jeweils anderen übernimmt oder die Funktionsweise ihrer Merkmalsausprägungen graduell in die Richtung der jeweils anderen Versicherungsform verändert. Ein Beispiel für den ersten Fall wäre eine allgemeine Versicherungspflicht für eine ansonsten weiterhin der individuellen Risikoäquivalenz folgenden PKV. Dagegen ist die Einführung begrenzter freiwilliger Selbstbehalte in einer überwiegend einkommensproportional finanzierten Sozialversicherung ein Beispiel für eine graduelle Annäherung in Richtung Risikoäquivalenz.
Zweitens sind ausschließlich Veränderungen der Versicherungsformen von Interesse, die auf gesetzgeberische Akte zurückgehen. Verhaltensänderungen, die nicht direkt auf staatlich-regulative Eingriffe zurückzuführen sind, werden daher nicht berücksichtigt. Hierzu zählen zum Beispiel freiwillige Selbstverpflichtungen innerhalb der PKV oder Veränderungen in der Organisationskultur gesetzlicher Krankenkassen.
Drittens ist von zentraler Bedeutung, dass die Versicherungsformen, die auf regulative Eingriffe zurückgehenden, atypischen Merkmalsausprägungen annehmen. Diese Differenzierung zwischen einer verabschiedeten Reform und ihrer praktischen Umsetzung kommt insbesondere dann zur Geltung, wenn der Gesetzgeber Möglichkeiten für intendiertes Verhalten schafft, aber beispielsweise Anreize oder Kontrollen fehlen.
1.2 Stand der Forschung
Während die Monografie The Three Worlds of Welfare Capitalism (Esping-Andersen 1990) einen regelrechten Boom politikwissenschaftlicher Studien zu wohlfahrtsstaatlichen Transferleistungsprogrammen entfachte, wurden soziale Dienstleistungen wie Gesundheit, Pflege, Bildung oder Kindererziehung in der Folgezeit vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Jens Alber zählte sie daher zur "vernachlässigten Dimension" (1995: 277) der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. Diese Einschätzung findet sich auch in der englischsprachigen Literatur wieder. Carsten Jensen spricht mit Blick auf die weiterhin geringe wissenschaftliche Beachtung sozialer Dienstleistungen unumwunden vom "transfer-bias" (2008: 160). Michael Moran packt diese Kritik in diplomatischere Worte:
"Many of the major contributions [.] have had health policy at the corner of their eye rather than in the centre of their vision" (2000: 136).
Zumindest für die vergleichende Gesundheitssystemforschung hat sich dies mit der Jahrtausendwende gewandelt. Dazu trugen zum einen Datenbanken wie die OECD Health Data oder die Health for All Database der Weltgesundheitsorganisation bei. Zum anderen schuf das European Observatory on Health Systems and Policies mit der Reihe Health Systems in Transition einen standardisierten Rahmen für qualitative Beschreibungen nationaler Gesundheitssysteme. Von dieser verbesserten Datengrundlage für vergleichende gesundheitspolitische Studien profitieren auch die beiden ausgewählten Untersuchungsländer. Die Wandlungsprozesse im deutschen und niederländischen Gesundheitssystem stoßen in der jüngeren politikwissenschaftlichen Forschung auf reges Interesse. Dabei steht vor allem die Transformation des korporatistischen Sozialversicherungsmodells zu marktwirtschaftlichen Koordinierungsformen im Mittelpunkt der zumeist deskriptiven aber auch vereinzelt explanativen Studien (Brown/Amelung 1999; Giaimo/Manow 1999; Hacker 2004a; Altenstetter/Busse 2005; Helderman u.a. 2005; Hassenteufel/Palier 2007; Vaillancourt Rosenau/
Lako 2008; Gerlinger 2009a; Götze u.a. 2009; Haarmann u.a. 2010; Leiber u.a. 2010; Verspohl 2012).
Eine gleichzeitige Betrachtung der Wandlungsprozesse im dualen Krankenversicherungssystem ist für den niederländischen Fall häufig unumgänglich, bildet allerdings selten den Untersuchungskern. Insbesondere Veränderungen der PKV stoßen selten auf politikwissenschaftliches Forschungsinteresse. Das kann einerseits an der empirischen Relevanz liegen, da weniger als eine Hand voll westlicher Industriestaaten überhaupt eine substituierende PKV kannten und diese wiederum nur Teile der Bevölkerung absicherte. Andererseits mag es auch Ausdruck einer disziplinären Ignoranz sein, indem sich die Wohlfahrtsstaatsforschung auf staatliche oder korporatistische Erscheinungsformen der sozialen Sicherung kon-zentriert und Veränderungen privater Vorsorgeformen den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften überlässt. Angesichts der Deutungshoheit der Nachbardisziplinen in der Forschung zur deutschen PKV ist dieses sozialpolitische Feld daher für Roman Böckmann weiterhin ein "blinder Fleck der Politikwissenschaft" (2011: 23).
Zu den wenigen vergleichenden Studien, die das duale Krankenversicherungssystem in das Zentrum ihrer Forschung stellen, gehört die Monografie Two Centuries of Solidarity (Companje u.a. 2009). Diese Arbeit zeichnet die Einführu
g und Entwicklung des belgischen, deutschen und niederländischen Krankenversicherungswesens seit dem späten 18. Jahrhundert nach. Die unterschiedliche Entwicklung der drei Gesundheitssysteme führen Companje u.a. (2009: 370f.) auf einen spezifischen historischen Kontext bei der Konstituierung des Krankenversicherungswesens und lang anhaltende institutionelle Verharrungskräfte zurück. Die jüngsten Reformen - wie das kurz vor der Buchveröffentlichung in Kraft getretene deutsche GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - konnten jedoch nicht mehr berücksichtigt werden.
Das Zustandekommen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes steht wiederum im Mittelpunkt einer Studie zum grenzüberschreitenden politischen Lernen zwischen Deutschland, Österreich und den Niederlanden (Leiber u.a. 2010). Der Aufsatz dokumentiert anhand von Experteninterviews zwar einen begrenzten Einfluss der niederländischen Reform auf das zentrale gesundheitspolitische Vorhaben der Großen Koalition in Deutschland, unterstreicht aber den Stellenwert nationaler Faktoren. Grenzüberschreitendes politisches Lernen beschränkte sich somit auf den Bereich der politics statt der policies (Leiber u.a. 2010: 561). Eine jüngere Studie von Leiber u.a. (2014), die auch die Entwicklung seit den frühen 1990er-Jahren behandelt, bestätigt dieses Ergebnis. Bei den größeren Strukturreformen spielten die Erfahrungen des Nachbarlandes keine entscheidende Rolle. Dafür finden die Autoren Hinweise für politischen Austausch zwischen Deutschland und den Niederlanden bei eher techni-schen Reforminhalten wie beispielsweise die Verbesserung des Risiko-strukturausgleichs (Leiber u.a. 2014: 12f.).
Weitere Arbeiten zum dualen Krankenversicherungssystem thematisieren zwar lediglich die Entwicklung eines Untersuchungslandes, bieten dafür aber eine umfangreiche Analyse des Reformprozesses. Für Deutschland tragen insbesondere die Dissertationen von David Klingen-berger (2001) und Roman Böckmann (2011) zu einem hohen Erkenntnisgewinn bei. Klingenberger beschäftigt sich intensiv mit der historischen Entwicklung und rechtlichen Fundierung der "Friedensgrenze" zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Seinen Ausführungen zufolge bestimmten bereits kurz nach der Geburtsstunde der deutschen PKV - zur Zeit der Hyperinflation von 1923 - stetige Grenzkonflikte das Verhältnis der beiden Versicherungsformen. Die versicherungspflichtigen Personenkreise, die Höhe der Einkommensgrenze und die Frage, ob sie eine Option oder einen Zwang zum GKV-Austritt zur Folge hat, waren bis in die 1970er-Jahre hinein ein fester Bestandteil politischer Auseinandersetzungen. Einen Interessenausgleich stellte die Dynamisierung der Versicherungspflichtgrenze unter der sozialliberalen Koalition im Jahre 1971 dar, die einerseits der PKV Planungssicherheit durch ein gesetzlich garantiertes Marktsegment gab und andererseits die Inklusion unversicherter Bevölkerungskreise in die GKV ermöglichte. Den zwei Jahrzehnte später einsetzenden Hybridisierungsprozess erklärt und bewertet Klingenberger mit seiner "Unvereinbarkeits-Hypothese":
"Die Systeme von GKV und PKV dienen unterschiedlichen Zwecken und unterliegen verschiedenen Logiken. Daher sollte eine Vermischung der Systeme möglichst unterbleiben. Jeder Versuch, Wesensmerkmale des einen Systems auf das andere System zu übertragen, beeinträchtigt zwangsläufig das funktionale Zusammenspiel zwischen der Produktionslogik, der Verteilungslogik und der Steuerungslogik des jeweiligen Systems, womit zugleich der ›institutionelle Sinn‹ der Systeme untergraben wird. In der Folge muss die Politik laufend korrigierend eingreifen, um das System zu stabilisieren. Diese politischen Korrekturen stellen in aller Regel auf eine Verstärkung und nicht auf eine Rücknahme systemfremder Regulierungselemente ab" (Klingenberger 2001: 131).
Während Klingenberger den Beginn der Hybridisierung auf politisch gewollten, aber ordnungspolitisch zweifelhaften Systemwettbewerb zurückführt, folgt für ihn der anschließende Reformprozess einer funktionalen Eigendynamik (siehe hierzu auch Götze u.a. 2009). Die Vermischung bei-der Sphären bewertet er eindeutig negativ und empfiehlt stattdessen eine Rückkehr zu idealtypischen Merkmalsausprägungen.
Im starken Kontrast dazu plädiert Böckmann für eine weiterführende Hybridisierung bis hin zur Systemkonvergenz. Neben Gerechtigkeitsaspekten rekurriert er vor allem auf ordnungspolitische Gründe. Die Angleichung beider Versicherungsformen ist für ihn kein Ausdruck einer parteipolitisch motivierten Störung einer ordnungspolitisch sauberen Teilung der Gesellschaft in "schutzbedürftige" GKV-Mitglieder und "eigenverantwortliche" PKV-Versicherte. Genau das Gegenteil sei der Fall. Demnach sieht Böckmann in der stärkeren Regulierung der PKV eine politische Antwort auf die beiden Paradoxien, dass erstens nennenswerte Teile der Privatversicherten weitaus schutzbedürftiger als das durchschnittliche GKV-Mitglied sind und zweitens zwischen den gesetzlichen Krankenkassen ein deutlich schärferer Wettbewerb als im PKV-Markt herrscht (Böckmann 2011: 199ff.). Während diese beiden Aspekte die Input-Legitimation der privaten Krankenversicherung untergraben würden, stelle ihre hohe Ausgabendynamik zunehmend auch ihre Output-Legitimation infrage. Das bisherige Geschäftsmodell der substitutiven PKV ist dieser Logik zufolge nicht mehr zukunftsfähig und bedarf daher einer Neuausrichtung auf eine gemeinsame Wettbewerbsordnung, der gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherer unterliegen.
Trotz gegensätzlicher Empfehlungen ähneln sich diese beiden umfas-senden Arbeiten zur Entwicklung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland in ihrem normativ-präskriptiven Aufbau und ihrem funktionalistischen Erklärungsansatz. Andere Arbeiten, die einzelne zentrale Gesetze des Hybridisierungsprozesses betrachten, stellen hingegen die Rolle von Parteien und Verbänden im politischen Entscheidungsprozess stärker in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Christiane Perschke-Hartmann (1994) geht in ihrer Monografie "Die doppelte Reform" umfassend auf die Entstehung der "Blüm"- und "Seehofer"-Reform ein. Holger Pressel (2012) zeichnet wiederum mit Hilfe zahlreicher Experteninterviews die Genese des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes nach.
Für die Niederlande liegen ebenfalls detallierte Studien zur Entwicklung des dualen Systems vor. Zu den ergiebigsten Werken zählen die Monografien Ziekenfonds of particulier von Eric Bassant (2007) und Convergerende belangen von Karel-Peter Companje (2001). Letzterer ist auch Herausgeber des Sammelbands Tussen volksverzekering en vrije markt (Companje 2008c), der das umfangreichste Werk zur Entwicklung des niederländischen Krankenversicherungssystems darstellt und Companjes frühere Ausführungen um Erkenntnisse zur großen Systemreform ergänzt.
Bassant (2007) beschreibt und kommentiert in seinem Buch den zwei Jahrzehnte andauernden Reformprozess beginnend mit dem Einsetzen der Dekker-Kommission im Jahre 1986 bis zum Inkrafttreten der großen Systemreform 2006. Kräfteverhältnisse von Parteien und Verbänden, wechselnde Allianzen und das taktische Geschick von Einzelakteuren stehen bei ihm im Vordergrund. Demnach war die große Systemreform von 2006 ein Zusammentreffen von mehreren begünstigenden Faktoren: einer über 20 Jahre andauernden Debatte, ausreichender fiskalischer Mittel zur Finanzierung umfangreicher Steuertransfers, einem wohlgesonnenen EU-Kommissar zur Einführung des Systems auf privater Rechtsform und schließlich einem engagierten Gesundheitsminister, der aus seiner Erfahrung als Leiter des Finanzressorts schöpfen konnte. Gerade hinsichtlich des letztgenannten Erklärungsfaktors sollte berücksichtigt werden, dass die Publikation im Auftrag des niederländischen Ministeriums für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport erstellt wurde.
Auch bei der Monografie von Companje (2001) handelt es sich um eine Auftragsarbeit für den Verband der niederländischen Krankenversicherer, wobei sich dies jedoch lediglich im Schreibstil, nicht aber im Inhalt widerspiegelt. In diesem Buch nimmt er vor allem die Organisation der Krankenkassen und der Privatversicherer in den Blick. Hier sind sowohl die Vereinheitlichung der Verbandsstrukturen innerhalb der beiden Sphären von Interesse als auch die konfliktreiche Annäherung der beiden Versicherungsformen, die schließlich 1995 im gemeinsamen Dachverband Zorgverzekeraars Nederland mündete. Companje zeichnet somit eine Konvergenzentwicklung nach, die auf organisatorischer Ebene bereits die eine Dekade später folgende institutionelle Zusammenführung vorwegnahm. Zentrale Erklärungsfaktoren sind hierfür die "Entsäulung" der niederländischen Gesellschaft, bestehende Kooperationen zwischen Krankenkassen und Privatversicherungen sowie das gegenseitige Vertrauen einzelner Verbandsfunktionäre während des Fusionsprozesses.
Im erwähnten Sammelband kommt Companje zu dem Schluss, dass die große Systemreform von 2006 durch drei Faktoren stark begünstigt wurde. Erstens hatte das Gesetzespaket aus seiner Sicht einen stark konsensualen Charakter, so dass es lediglich bei den äußerst linken Parteien auf totale Ablehnung stieß. Zweitens hatten die Interessengruppen deutlich an Einfluss eingebüßt und wichtige Schlüsselstellen im Verbändewesen waren mit Parteifreunden der Mitte-rechts-Koalition besetzt. Drittens hatte sich die öffentliche Meinung gegen das duale Krankenversicherungssystem gewendet (Companje 2008d: 605ff.).
Eine umfassende englischsprachige Dokumentation der ersten Reformdekade liefert die Dissertation von Kieke Okma (1997). Sie beleuchtet die Einführung des Basistarifs für die niederländische Krankenversicherung, die ersten Reformen auf Grundlage des Dekker-Plans und die weitgehende Entmachtung des Verbändekorporatismus im Gesundheitswesen. Okma führt als zentralen Erklärungsfaktor die Hegemonie neoliberaler Ideen nach dem Höhepunkt der "holländischen Krankheit" (siehe Corden 1984) an, die sogar weit in die politische Linke ausstrahlte. Die große Akzeptanz marktwirtschaftlicher Lösungen begünstigte zusammen mit dem kulturell tief verwurzelten staatsfernen Kollektivismus die Einführung hybrider Versicherungsformen und die Formulierung des Dekker-Plans. Die Parteiinteressen spiegelten sich anfänglich nur in Ausgestaltungsdetails des Reformvorhabens wider, aber nicht in einer grundsätzlich anderen Ausrichtung. Okma führt den zwischenzeitlichen Stopp des Reformprozesses in den frühen 1990er-Jahren vielmehr auf die erfolgreiche Opposition einflussreicher Interessengruppen wie Arbeitgeber, Ärzte und Privatversicherer zurück. Die anschließende violette Koalition (siehe Abschnitt 3.2) aus "roten" Sozialdemokraten und "blauen" Rechtsliberalen nahm wegen un-überbrückbarer Gegensätze zwar keine weitere Strukturreform der Kran-kenversicherung vor, reduzierte aber dafür den Einfluss korporatistischer Akteure in der Gesundheitspolitik.
Für Helderman u.a. (2005) nimmt die violette Koalition daher eine Schlüsselposition in der Erklärung des Reformprozesses ein. Aus der Sicht der Autoren verzögerten die gegensätzlichen sozialpolitischen Positionen von Sozialdemokraten und Rechtsliberalen zwar zunächst eine große Systemreform, aber dafür schuf sie überhaupt erst die institutionellen Grundlagen für die später erfolgreich durchgesetzte Zusammenführung der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung.
Zahlreiche weitere Studien zu jeweils einem der beiden Unter-suchungsländer decken sich weitgehend mit diesen zentralen Ergebnissen. Eine Mischung aus Interessen, Institutionen und Ideen spielt dabei in vielen Erklärungen zu einzelnen Reformen oder Reformphasen eine wichtige Rolle. Eine Einschätzung, welcher dieser Faktoren beziehungsweise welche spezifische Konstellation von mehreren Faktoren den größten Einfluss auf das spätere Ergebnis hat, ist allerdings innerhalb eines Falles schwer zu beurteilen. Daher leistet dieses Buch einen Beitrag zum bisher überschaubaren komparativen Literaturstrang, der die jüngere Entwicklung der dualen Krankenversicherungssysteme in Deutschland und den Niederlanden zum Kern des Forschungsinteresses macht.
Die vergleichende Perspektive eröffnet Erkenntnisgewinne im Hinblick auf drei Aspekte. Erstens kann der Einfluss einzelner Erklärungsfaktoren auf den Reformprozess beider Untersuchungsländer besser eingeordnet und dadurch entscheidende Konstellationen identifiziert werden. Zweitens liefert das in diesem Buch gewählte empirische Beispiel einen Diskussionsansatz für den breiteren theoretischen Diskurs zum Zusammenspiel von Akteursinteressen und Institutionen. Drittens und letztens erlaubt der Vergleich mit den niederländischen Erfahrungen einen Ausblick auf die Möglichkeiten und Hürden einer Systemkonvergenz in Deutschland.
1.3 Vorgehensweise und Methodik
Dieses Buch stützt sich auf einen Paarvergleich qualitativer Fallstudien zum deutschen und niederländischen Krankenversicherungssystem. Nach Mills Differenzmethode teilen die Nachbarländer viele Gemeinsamkeiten bei den unabhängigen Variablen wie politische oder wohlfahrtsstaatliche Institutionen, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der abhängigen Variable: Einführung einer einheitlichen Krankenversicherung für die gesamte Wohnbevölkerung. Dies erlaubt die Identifikation relevanter Unterschiede auf Seiten der unabhängigen Variablen, die zu diesem unterschiedlichen Politikergebnis beigetragen haben.
Der gemeinsame Untersuchungszeitraum beginnt mit der Dekker-Kommission, die im März 1987 ihren Abschlussbericht vorstellte. Im gleichen Jahr hielt in Deutschland die Enquete-Kommission "Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" ihre konstituierende Sitzung ab. Beide arbeiteten einen Kompromiss für eine umfassende Strukturreform des jeweiligen Krankenversicherungssystems aus und markieren damit den Beginn der Reformphase. Die darin definierte Agenda konnte in den Niederlanden allerdings erst mit der großen Systemreform von 2006 eingelöst werden. In Deutschland vollendete das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das zum Beginn des Jahres 2009 in Kraft trat, die ursprüngliche Reformagenda. Daher erstreckt sich der Untersuchungszeitraum über die Jahre 1987 bis 2009.
Dieses Buch beschränkt sich allerdings nicht darauf, die Ausprägungen der jeweiligen Erklärungsfaktoren für das Jahr 1987 zu beschreiben. Stattdessen bedient es sich der historisch-genetischen Methode, welche die Entstehung scheinbar gegebener Institutionen kritisch hinterfragt. Somit erfolgt ein Perspektivwechsel, indem Strukturen, die zu Beginn des Untersuchungszeitraums existierten, als historische Entscheidungen angesehen werden. Um nicht den Fokus zu verlieren, wird die historisch-genetische Methode nur für endogene Erklärungsfaktoren angewendet. Mit Blick auf den Forschungsgegenstand dieses Buchs zählen hierzu die Strukturmerkmale des dualen Krankenversicherungssystems.
Für die Genese dieser institutionellen Erklärungsfaktoren werden schriftlich fixierte Primärquellen wie Gesetzesbegründungen, Parlamentsprotokolle sowie Standpunktpapiere genutzt. Zur Verdeutlichung einiger Sachverhalte werden deskriptive Statistiken hinzugezogen. Darüber hinaus spielt Sekundärliteratur eine wichtige Rolle. Diese Datenquellen kommen im eigentlichen Untersuchungszeitraum ebenfalls zum Zuge. Zudem stützt sich dieser Teil der Analyse auf die Aussagen von 22 leitfadengestützten Experteninterviews, die nicht oder unzureichend dokumentierte Hintergrundinformationen zu internen Meinungsbildungsprozessen, Problemwahrnehmungen, Verhandlungsstrategien oder informellen Absprachen liefern. Zu den Gesprächspartnern zählen Vertreter von politischen Parteien, Ministerien und Interessengruppen sowie wissenschaftliche Beobachter (Liste der Interviewpartner im Anhang). Die direkten Gespräche wurden zwischen 2009 und 2014 in deutscher und englischer Sprache geführt, aufgezeichnet und transkribiert. Die aufgeführten direkten und indirekten Zitate sind von den Interviewpartnern zur Veröffentlichung mit namentlicher Nennung autorisiert worden.
In die Dokumentena
alyse werden Koalitionsverträge, Regierungser-klärungen, Gesetzesbegründungen, Standpunktpapiere von Parteien und Verbänden, höchstrichterliche Urteilsbegründungen sowie Pressekom-mentare führender Tageszeitungen miteinbezogen. Um die Zahl der zu untersuchenden Dokumente einzugrenzen, werden für beide Länder nur Gesundheitsreformen intensiv betrachtet, die seit den 1980er-Jahren einen Einfluss auf das duale Krankenversicherungssystem hatten.
Das statistische Datenmaterial besteht einerseits aus der für internationale Vergleiche standardisierten OECD Health Data (2013) und anderer-seits aus nationalen Statistiken, die von zuständigen Ämtern und Verbänden zur Verfügung gestellt werden. Um die Auswirkungen des deutschen Kassenwettbewerbs besser einordnen zu können, wurde eine eigene Datenbank - die Kassendaten 1.6 - aufgebaut. Diese enthält Angaben zu Beitragssatz, Mitgliedergröße, Öffnung und Fusionen sämtlicher Kranken-kassen, die seit dem Inkrafttreten der freien Kassenwahl (1. Januar 1996) existierten (siehe Götze 2013).
Dieses Buch ist wie folgt aufgebaut (siehe Abbildung 1). Auf die Einleitung folgt im zweiten Kapitel der theoretische Rahmen. Dieser beinhaltet sowohl eine Vorstellung der drei grundlegenden Theorieschulen der ver-gleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung (Funktionalismus, Machtressourcen, Institutionalismus) als auch ihre Adaption für gesundheitspolitische Fragestellungen. Zum Abschluss des Kapitels erfolgt eine Synthese, bei der mehrere Erklärungsansätze im Sinne des akteurszentrierten Institutionalismus zu einer Forschungsheuristik kombiniert werden.
Im dritten Kapitel werden die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen des Reformprozesses beleuchtet. Dabei wird zwischen exogenen und endogenen Erklärungsfaktoren unterschieden. Zu exogenen Faktoren zählen das politische Institutionengefüge, Parteien und ihre Koalitionen sowie die Organisation der Ärzteschaft. Bei ihnen setzt die Darstellung erst mit dem Beginn des Untersuchungszeitraums im Jahr 1987 ein. Die endogenen Erklärungsfaktoren decken Strukturmerkmale der dualen Krankenversicherung ab. Hierbei wird unterschieden zwischen der Abgrenzung von GKV und PKV, der Struktur der GKV und der Struktur der PKV. Im Sinne der historisch-genetischen Methode werden hierbei nicht nur die Merkmalsausprägungen im Jahr 1987 sondern auch deren zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse nachgezeichnet. Ein Zwischenfazit fasst die Ergebnisse zusammen.
Das vierte und das fünfte Kapitel behandeln den gut zwei Jahrzehnte andauernden Reformprozess in Deutschland und den Niederlanden. Sie geben die gesundheitspolitischen Entscheidungsprozesse seit dem Einsetzen der beiden Kommissionen wieder, wobei Gesetzesvorhaben im Mittelpunkt stehen, die entweder die Grenze zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung oder ihre jeweiligen Strukturmerkmale berühren. In diesem Zusammenhang werden pro Untersuchungsland zwei Reformen besonders intensiv betrachtet. Bei der deutschen Fallstudie wird näher auf das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 eingegangen. In der niederländischen Fallstudien stehen der Simons-Plan Anfang der 1990er-Jahre und die große Systemreform von 2006 im Mittelpunkt.
Im sechsten Kapitel erfolgt der Vergleich der beiden Reformpfade, um die entscheidenden Erklärungsfaktoren herauszuarbeiten. Zum besseren Überblick wird der Reformprozess anhand des Politikzyklusmodells in drei Phasen eingeteilt, die zunächst gesondert analysiert werden. Die einzelnen Ergebnisse werden schließlich zu einem Erklärungsmodell zusammengeführt. Dieses liefert eine historisch-genetische Erklärung für das gegenwärtig unterschiedliche Politikergebnis der beiden Untersuchungsländer hinsichtlich der Dualität ihrer Krankenversicherungssysteme.
Das abschließende Fazit im siebten Kapitel fasst die Hauptergebnisse zusammen und verortet diese im allgemeinen Diskurs der vergleichenden Gesundheitssystemforschung. Zudem liefert der Schlussteil einen Ausblick auf Entwicklungspotenziale der untersuchten Länder - insbesondere im Hinblick auf eine Überwindung der Dualität in Deutschland - und gibt Hinweise auf weiterführende Forschungsfragen.