E-Book, Deutsch, Band 9, 140 Seiten
Goldmann / Mazohl Die bedeckte Halsgrube
mit zahlreichen s/w-Abb.
ISBN: 978-3-7030-6557-6
Verlag: Universitätsverlag Wagner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erinnerungen aus den Jugendjahren einer Südtirolerin. Herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Brigitte Mazohl
E-Book, Deutsch, Band 9, 140 Seiten
ISBN: 978-3-7030-6557-6
Verlag: Universitätsverlag Wagner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hanna Dalvai, verehelichte Goldmann, geboren am 18. Februar 1920 in Salurn an der südlichen Grenze der Provinz Bozen, hat in späteren Jahren als reife Frau ihre Erinnerungen an ihre kargen Kindheits- und Jugendjahre im Südtiroler Unterland (u.a. bei der gestrengen Tante Lora) niedergeschrieben. Sie erzählt anschließend auch von ihren Erfahrungen „fern von daheim“ (u.a. als „donna di servizio“ in Mailand) und berichtet über ihre abenteuerliche Reise – nach dem Zweiten Weltkrieg – über den Brenner zu ihrem in Österreich lebenden Mann. Dort standen beide allerdings vor dem Nichts und waren gezwungen, fünf Jahre lang in einem Flüchtlingslager in Eichat bei Absam mit ihren inzwischen zwei Kindern zu leben. Über diese schweren Jahre schreibt Hanna Goldmann ebenso eindrucksvoll wie über ihre unsagbare Freude, dann in Innsbruck in der Heilig-Jahr-Siedlung endlich eine Unterkunft zugewiesen bekommen zu haben, wo sie ihr weiteres Leben verbrachte.
Brigitte Mazohl, em. Professorin für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck, hat diese Texte bearbeitet, mit Fußnoten versehen und im Anhang Auszüge aus zwei Interviews veröffentlicht, die sie im Jahr 2018 mit der damals 98-jährigen Hanna Goldmann geführt hatte.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Regional- & Stadtgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte
Weitere Infos & Material
Die bedeckte Halsgrube
Kindheit und frühe Jugend in Südtirol in der Zwischenkriegszeit (1920–1935)
[In diesem ersten Teil handelt es sich um Aufzeichnungen, die in den Jahren zwischen 1981 und 2000 verfasst wurden. Im Jahr 1981 legte Hanna Goldmann als erste Niederschrift ein Fotoalbum an, das sie bis 1986 fortführte; sie schilderte darin die Geschichte ihrer Herkunftsfamilien, insbesondere die der väterlichen Seite. Wenige Jahre später (im Jahr 2000) verfasste sie in einem fortlaufenden Text ihre Erinnerungen an ihre Jugendjahre anhand der Charakterisierung der wichtigsten ihr nahestehenden Menschen. Als Vorspann zu diesen Erinnerungen wurden im Folgenden auch Textbausteine aus dem Fotoalbum wiedergegeben bzw. eingebaut, da hier sehr anschaulich die väterliche Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg erzählt wird. Das Schicksal eines Bergbauernhofes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird auf diese Art und Weise sehr lebendig greifbar. Und auch die mütterliche Familie wird in diesem Album kurz vorgestellt. Es kommt dadurch gelegentlich zu zeitlichen Überschneidungen zwischen den beiden Texten; um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Fotoalbums stark gekürzt und es wurde, falls dadurch Lücken auftraten, auf die später geschriebenen Erinnerungen verwiesen.] [Aus dem Fotoalbum: Die Vaterseite – Der Röllhof und seine Bewohner]16:
Der Röllhof befindet sich in Unterstein – Gfrill17 bei Salurn18 an der Sprachgrenze. Das Dorf liegt 1336 m hoch und hat lange Winter und kühle Sommer; die wenigen Einwohner – es sind nur noch 50–60 Leute, die es dort aushielten, – sprechen einen italienisch gefärbten Südtiroler Dialekt – die Dörfer „über´n Berg“ sind schon italienisch – teils schon ladinisch. In meiner frühen Kindheit war ich öfter in Gfrill mit meiner Tant Lora19 und ich habe die romantischsten Erinnerungen an meines Vaters Geburtshaus. […]. Das Dorf war […] von der Welt so ziemlich abgeschlossen, von Salurn führte ein Karrenweg hinauf, von Laag20 ein Maultiersteig und man ging von dort gute drei Stunden bis Unterstein,21 und von da noch eine halbe Stunde bis auf den „Bichl“, wo die Kirche und das Schulhaus war[en], den Widum nicht zu vergessen. […] Eine meiner frühesten Erinnerungen ist der Herd mit dem großen flackernden Feuer in der Mitte, an welchem meine Tante22 Mus23 kochte, auf der Bank saßen „die Buben“, meine Vettern, sowie meine Schwester Rita24 und ich; rund um den Herd [versammelten sich auch] die Knechte, während die Cousinen in der Stube den Tisch deckten und mit Petroleumlampen25 und Geschirr eifrig hin und her liefen. Es herrschte dort auch ein strenges Patriarchat, es gab „Weiberarbeit“ und Männerarbeit, wobei die „Weiber“, die ein recht untergeordnetes und zweitrangiges Leben führten, natürlich viel zu kurz kamen. Sie mussten, wie alle Bäuerinnen, natürlich auch auf den Feldern arbeiten und daheim ging die Arbeit dann weiter, während die Paschas sich dann ausruhen konnten. […] Mein Großvater, den ich nie gekannt habe, war angeblich ein sehr strenger, frommer aber gütiger Mann und lebte mit der, nach Aussagen meiner Mutter, recht argen Großmutter in glücklicher Ehe. Meine Tant Lora [hingegen] sagte, ihre Mutter sei eine halbe Heilige gewesen – ich weiß es nicht. Sie hatte es in dem primitiven Haushalt gewiss nicht leicht, die vielen Kinder,26 der große Hof, der schwer zu bewirtschaften war; es standen ihr aber immer ausreichend Knechte und Mägde zur Verfügung und sie sagte immer, es sei keines ihrer Kinder in einer ungebügelten Windel gewickelt worden. Acht Kinder starben in jungen Jahren,27 einige als Säuglinge, eines fiel im Alter von drei Jahren von der Ofenbank, ein Hans verunglückte mit 20 Jahren auf der Jagd. Im Ersten Weltkrieg dienten vier Söhne bei den Kaiserjägern. Laut Ahnenpass haben die Großeltern am 3. Juni 1863 geheiratet,28 sie waren also 43 Jahre verheiratet. Nach Großvaters Tod übernahm der älteste Sohn, Karl,29 den Hof, samt allen Feldern, dem Wald und dem Hof in Laag mit den Weinbergen. Die anderen Söhne wurden mit sozusagen Nichts abgefertigt.30 [So ging es beispielsweise] Onkel Luis,31 Pächter am Nachbarhof, der einem Holzhändler gehört, wo er unter unbeschreiblichen Wohnverhältnissen mehr recht als schlecht (oder umgekehrt!) sein Leben fristete, mit einer kranken Frau (skrufulös?!),32 die ihm zehn oder zwölf, ich weiß nicht genau, Kinder gebar – er lebte in großer, aber mit Würde und Selbstverständlichkeit ertragener Armut. Dieser Hof, Eigentum eines gewissen G. aus Neumarkt, stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist jetzt nur noch eine bessere Ruine, der Stubenboden ist ganz abschüssig und schief, aber die Vertäfelung interessant, da sie durchaus mit Jagdszenen bemalt ist. Die Gfrillner Höfe waren ja früher fast durchwegs Sommersitze und Jagdhäuser der Salurner Adeligen und gingen dann wahrscheinlich im Laufe der Zeit in den Besitz der jeweiligen Pächter über. Ich vergaß, dass bei fast jedem Hof eine Hauskapelle dabei ist; beim Röllhof eine zum hl. Carl33 mit einigen wertvollen alten Bildern, welche leider durch den Unverstand der jetzigen Besitzer stark beschädigt wurden. [Ein weiterer Sohn] Eduard34 war Taglöhner und verdiente sein Brot bei härtester Arbeit, was ihn aber nicht daran hinderte, [seiner Frau] trotz bitterster Armut zehn Kinder zu bescheren, neun Buben und ein Mädchen. Onkel Eduard soll zu seiner Frau recht grob gewesen sein, so dass sie einmal in Verzweiflung davonlief zu einem Nachbarn. Die Tant Lora soll gesagt haben: „Ja hat er nicht einen Stecken genommen und sie heimgetrieben?“ Was ihr Mammas lebenslangen Zorn zugezogen hat. Er starb an einer Lungenentzündung, eine Woche nachdem er zum alljährlichen Holzhacken bei Tant Lora in Kurtatsch35 war. Sie hat sich lebenslange Vorwürfe gemacht, weil sie ihn so schlecht behandelt hat, weil er a bissl [ein bisschen] betrunken angekommen ist – das vertrug sie halt nicht. Dann war da noch der Onkel Friedl.36 Der machte sich rechtzeitig davon von der schweren Bergbauernarbeit, nachdem er ein Mädchen „ins Unglück“ gebracht hatte, die dann ihrerseits verstoßen wurde – ausbaden mussten es ja immer die Frauen. Als seine sechs Kinder schon erwachsen waren, erfuhren sie auf Umwegen von dem Halbbruder, der sich indessen zwölf (eheliche!) Kinder zugelegt hatte. Onkel Friedl ging zur Post, lebte während des Krieges in Franzensfeste37 und kam dann nach Hall,38 wo er bis zu seinem Lebensende als „Postunterbeamter“ (Geldbriefträger) lebte. Um die Schande zu kaschieren, die er über die Familie (natürlich in geringerem Maße, da ja ein Mann!) gebracht hatte, wurde ihm die Schwester vom Onkel Zuegg,39 bei dem Tant Lora lebenslang Köchin war, verkuppelt. Die arme Tante Klara! […] Das Patriarchat hatten die Söhne ja mit in die Wiege bekommen und keiner hätte je einen Finger gerührt, um seiner Frau zu helfen: „Weiberarbeit“! Man muss wissen, dass ich vor dem Zweiten Weltkrieg 56 Cousins u. Cousinen besaß – die kann man unmöglich alle kennen. Meinen Vater lass ich für zuletzt – so kommen jetzt noch die Tanten.40 Die weitaus interessanteste Persönlichkeit war wohl Tant Lora. Im Alter von 22 Jahren wurde sie zur Widumhäuserin41 von Onkel Zuegg, der damals als junger Gfrillner-Kurat42 fungierte. Es blieb natürlich nicht aus, dass die Leute redeten, und so musste Tant Lora gehen und an ihre Stelle kam seine Schwester Klara, eben dieselbe, die dann später dem Onkel Friedl angetraut wurde. Es zeigte sich aber, dass Tant Lora die einzige war, die des Herrn Kuraten Alkoholismus zu zügeln wusste. Der war ein seelensguter Mann, aber leider schon in jungen Jahren dem Alkohol verfallen, eine Folge, wie Tant Lora sagte, seiner Hungerjahre während des Studiums in Trient, wo billiger Wein noch am wohlfeilsten war. Also musste der Bischof 43 gute Miene zum bösen Spiel machen und das kleinere Übel wählen; Tant Lora wurde wieder Onkels Häuserin und blieb es bis an sein Lebensende als Benefiziat44 in Kurtatsch. Als Bedingung musste der gute Onkel aber immer ein Kind im Widum beherbergen. So kam es, dass wir Kinder abwechselnd einige Jahre unserer Jugend in Kurtatsch verbrachten. Ich war wohl am längsten dort, erstens war ich a bissl [ein bisschen] Tantes Liebling, weil ich ein sehr braves und ruhiges Kind war, und später, als junges Mädchen, arbeitete ich als Buchhalterin in der Weinhandlung Vigil P. und wohnte in dieser Zeit „bei der Tant“.45 Es war nicht immer ganz einfach, aber ich trage ihr, zum Unterschied zu meiner Schwester Maja,46 nichts nach – sie hat uns so gut gehalten, wie sie es eben verstand und von der eigenen Jugend...