E-Book, Englisch, Band 84, 275 Seiten
Reihe: Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft
Gonnermann / Schuhmaier / Schwander Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8233-0283-4
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert
E-Book, Englisch, Band 84, 275 Seiten
Reihe: Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft
ISBN: 978-3-8233-0283-4
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die Epochen hinweg haben sich literarische Werke und Genres explizit oder implizit mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Doch gerade die vergangenen Jahrzehnte, in welchen der Kapitalismus nach Mark Fisher zum ausweglosen Vorstellungshorizont avanciert ist, zeugen von einer vermehrten Infragestellung des Kapitalismus in der literarischen Produktion sowie der Literaturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund vereint der interdisziplinäre Sammelband Beiträge aus der Germanistik, Romanistik, Amerikanistik und Anglistik, die den Blick auf verschiedene zeitgenössische Manifestationen des globalen Kapitalismus und deren literarische oder filmische Repräsentationen richten.
Annika Gonnermann, Sina Schuhmaier und Lisa Schwander promovieren und lehren am Anglistischen Seminar der Universität Mannheim.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus
Kapitalismus, Moral und Ökologie: kritische Darstellungen der italienischen Gegenwart in Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006)
Stephanie Neu-Wendel 1. Literatur als Medium von Wirtschafts- und Gesellschaftskritik
Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Darstellung der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens in der zeitgenössischen italienischen Literatur. Als Beispiele dienen zwei nach wie vor aktuelle Bestseller: der Kriminalroman Nelle mani giuste (2007), ins Deutsche übersetzt als Schmutzige Hände (2011), in dem der Richter, Schriftsteller und Journalist Giancarlo De Cataldo den Aufstieg Silvio Berlusconis thematisiert, sowie die „Dokufiction“ Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra1 (2006) des Journalisten Roberto Saviano, die als Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra (2007) ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde.2 In Gomorra schildert Saviano in einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion die Strukturen und Geschäfte der kriminellen Organisation Camorra3 und ihre Verbindungen zu Politik und Wirtschaft. Den Leitfaden der folgenden Analyse bildet eine der Fragen, die von den Organisatorinnen der Ringvorlesung, auf der die folgenden Ausführungen basieren, formuliert wurde: „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur?“ Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf dem Themenfeld ‚Kapitalismus und Moral‘, das insbesondere in Nelle mani giuste im Zusammenhang mit dem darin geschilderten Aufstieg Berlusconis eine zentrale Rolle spielt. Dieser Themenkomplex wird ergänzt durch einen Exkurs zu ‚Kapitalismus und Ökologie‘; hier liegt der Fokus auf Praktiken der illegalen Müllentsorgung, wie sie Saviano in Gomorra eindrücklich vor Augen führt. Der Auseinandersetzung mit den literarischen Beispielen geht eine kurze theoretische Einführung voraus, in der dargelegt wird, welche Aspekte der Kapitalismuskritik als Folie für die Analyse dienen und welche Bezugspunkte sich konkret zu den beiden gewählten Werken ergeben. Die Betrachtung der beiden Textbeispiele kreist schließlich im Wesentlichen um die Frage, welche Möglichkeiten gerade literarische – und vor allem fiktionale – Texte bieten, Kritik an wirtschaftlichen und politischen (Fehl-)Entwicklungen zu üben, sei es durch eine Mischung von Fakten und Fiktion oder durch die Charakterisierung der Figuren.4 In Bezug auf die grundsätzliche, viel diskutierte Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Literatur bei der Darstellung gesellschaftlicher ‚Realitäten‘ lässt sich an Überlegungen des Schriftstellers und Journalisten Enno Stahl anknüpfen, dem zufolge die literarische Darstellung der ‚Wirklichkeit‘ eine (vom Autor interpretierte/analysierte) Version der gesellschaftlichen Realität anbietet und so überhaupt erst kritisches Potential entfalten kann. Um eine blanke Abbildung der Wirklichkeit kann es heute also nicht mehr gehen, weder wirkungs- noch produktionsästhetisch. (108, Hervorhebung im Orig.) Stahl bringt explizit die ‚empirischen‘ Autorinnen und Autoren als ‚Interpreten der Wirklichkeit‘ ins Spiel; vergleichbare Überlegungen finden sich ebenfalls in den Ausführungen der Narratologin Liesbeth Korthals Altes, die sich – in Anlehnung an Aristoteles – mit dem auktorialen ethos auseinandersetzt.5 Korthals Altes zufolge sei verstärkt eine Selbstdarstellung von Autorinnen und Autoren zu beobachten, für die soziales, gesellschaftliches Engagement und eine kritische, engagierte Haltung zentral seien: In reaction, it seems, to what was perceived as postmodern ‚anything goes‘ irony and disengagement, writers, like their fellow artists working in other mediums, have voiced their social or ethical commitment through their literary works, often alongside forms of social activism. Motivations for writing, such as wanting to make suppressed voices heard, to disclose history’s forgotten facets, or to defend causes such as homosexuality, are now widely recognized as central concerns of literature, rather than as exogenous, ‚heteronomous‘ ones. An author’s protestations about his or her social mission usually require as a backing that she or he radiate a convincing ethos of sincerity, experience-based authority, and so on. (9) Sowohl De Cataldo als auch Saviano melden sich auch außerhalb ihrer gesellschaftskritischen Romane zu Wort. So wird De Cataldo beispielsweise in einem Artikel in der ZEIT explizit als Streiter für demokratische Werte vorgestellt;6 Saviano wiederum erscheint durch die unmittelbaren Folgen des Erscheinens von Gomorra – Morddrohungen durch die Camorra und ein ständiges Leben unter Polizeischutz an versteckten Orten – als besonders glaubwürdig; zudem äußert er regelmäßig in Zeitungsartikeln oder auch im Fernsehen Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen in Italien.7 Die in außerfiktionalen Zusammenhängen zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Positionierungen können entsprechend auch auf die Rezeption der (fiktionalen) Werke zurückwirken; besonders deutlich wird dies am Beispiel von Gomorra, in dem die Grenze zwischen Erzähler- und Autorfigur bereits von der Anlage des Textes her durchlässig ist und sich fiktionale Erzählstrategien mit konkreten biographischen, faktenbezogenen Anteilen mischen. 2. Kritik am Kapitalismus in Nelle mani giuste und Gomorra: theoretische Bezugspunkte
Wie in der Einleitung skizziert, spielt vor allem in Nelle mani giuste die Verflechtung von Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ließe sich die Frage stellen, ob die Darstellung dieser Allianz dem entspricht, was der Soziologe Johannes Berger als „Herrschaftskritik“, verstanden als „Kritik der politischen Herrschaft im Staat“ (33), beschreibt.1 Wie Berger unter Bezugnahme auf marxistische Theorien erläutert, zeichnet sich dieser Aspekt der Kapitalismuskritik durch die Annahme aus, dass „[…] der Staat […] nichts anderes als ein ‚Instrument der herrschenden Klasse‘“ sei (33). Berger selbst steht dieser Sichtweise skeptisch gegenüber und bringt Argumente vor, die dagegen sprechen, „[…] im Staat nur den direkten oder indirekten Agenten des Kapitals zu erblicken“ (34). Er kommt zu dem Schluss, dass „die gegenwärtige Lage des Staats in westlichen Gesellschaften […] insgesamt eher durch ‚Herrschaftsverlust und Sanktionsverzicht‘ gekennzeichnet zu sein [scheint] als durch zunehmende Repression“ (34). Bergers Einwände erwecken den Eindruck einer idealtypischen Beschreibung demokratisch organisierter Staaten; im Gegensatz dazu zeigen Romane wie Nelle mani giuste auf, dass auch in Demokratien Regierungen sehr wohl – zum Beispiel durch die Wahl eines Vorzeige-Kapitalisten wie Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten – einer wirtschaftlich privilegierten Elite in die Hände spielen können. In diesem Sinne lässt sich De Cataldos Roman durchaus als „herrschaftskritisch“ bezeichnen. Eine besondere Rolle kommt, wie bereits angedeutet, in diesem Zusammenhang auch der Frage nach Moral und Unmoral im kapitalistischen System zu; hierzu zähle laut Berger „die Betrachtung der Auswirkungen der kapitalistischen Expansion auf die soziale und natürliche Umwelt des Wirtschaftssystems“ (37). Kritik, die im Zusammenhang mit den Folgen für die „soziale Umwelt“ geäußert wird, ziele in erster Linie darauf ab, das kapitalistische Wertesystem unter moralischen Gesichtspunkten zu beleuchten und auf Entwicklungen hinzuweisen, die als negativ wahrgenommen werden: Das Argument vom Gemeinschaftsverlust (oder Moralverlust) als Folge der Expansion der Marktwirtschaft tritt in mehreren Varianten auf. Es ist z.B. präsent in den Befürchtungen der christlichen Kirchen, dass materialistische Einstellungen überhand nähmen und andere, höherwertige moralische Orientierungen (‚Solidarität‘) verdrängten. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine breite Strömung der Kritik am Konsumismus und Hedonismus einer kapitalistisch geprägten Kultur, die an die Stelle älterer und höher geschätzter Lebensformen und Wertorientierungen träten. (38) Deutlicher und plakativer als Berger, der Kritik am kapitalistischen System zwar darstellt, aber nicht zwangsläufig teilt,2 äußert sich der Philosoph Michael J. Sandel zum Einfluss der Wirtschaft auf die Gesellschaft, insbesondere zum Übergang von einer „market economy“ zu einer „market society“:3 to decide where the market belongs, and where it should be kept at a distance, we have to decide how to value the goods in question – health, education, family life, nature, art, civic duties, and so on. These are moral and political questions, not merely economic ones. […] The difference is this: A market economy is a tool – a valuable and effective tool – for organizing productive activity. A market society is a way of life in which market values seep into every aspect of human endeavor. It’s a place where social relations are made over in the image of the market....