E-Book, Deutsch, Band 6105, 325 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Graf / Meier Politik und Religion
2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-406-71484-9
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zur Diagnose der Gegenwart
E-Book, Deutsch, Band 6105, 325 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-71484-9
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Politik und Religion' ist wieder ein zentraler Gegenstand der öffentlichen Debatte. Nach langen Jahren, in denen viele Sozialwissenschaftler
die Erwartung hegten, der religiöse Glaube werde im Gefolge des 'Modernisierungsprozesses' allmählich ausgezehrt und schließlich absterben, wird heute das 'Ende
der Säkularisierungsthese' erörtert. Die Religion erweist ihre Bedeutung für die Politik weltweit im Guten wie im Bösen. Die Meinung, Politik und Religion ließen sich schiedlichfriedlich trennen, hat sich als Illusion herausgestellt. Mit der Religion ist auch in Zukunft zu rechnen, und das heißt mit dem politischen
Sprengstoff, den sie in sich birgt. Das Buch enthält die überarbeiteten und erweiterten Beiträge einer Vortragsreihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung
in München, die große Beachtung fand. International renommierte Wissenschaftler und führende Intellektuelle behandeln u. a. die Oszillationen von Politik und Religion in
den USA und in Rußland, das lange Streben nach einem islamischen Staat, das Konzept der Theokratie, Judentum und die Antike. Sie analysieren den Prozeß der Sakralisierung
und Entsakralisierung und formulieren grundsätzliche Positionen zur Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Religion aus der Sicht der Theologie und der Philosophie.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Politik, Religionsfreiheit
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politik & Religion, Religionsfreiheit
Weitere Infos & Material
HANS ULRICH GUMBRECHT
Religion und Politik in den Vereinigten Staaten
Über die Geschichtlichkeit einer kulturellen Invariante
Zum europäischen intellektuellen Standard und zu den Konventionen der sich als anspruchsvoll ansehenden Medien gehört eine entschlossene, meist negative Meinung zum Verhältnis von Religion und Politik in den Vereinigten Staaten. Doch eine ernsthafte Analyse des Phänomens muß – ganz unabhängig von Beistimmung oder Ablehnung – mit dem Verweis einsetzen, daß die solchen Meinungen zugrundeliegenden Urteile fast immer die Komplexität der Lage unterschätzen, die sie ins Auge fassen. Amerikanische Wahlkämpfe vor allem geben in Europa oft Anlaß zur Sorge oder gar Entrüstung angesichts des Eindrucks, daß die religiöse Orientierung von Bewerbern einen sachfremden Ausschlag bei politischen Entscheidungen geben könnte. Noch im Frühjahr 2012 wurden im Blick auf die republikanischen Präsidentschaftsvorwahlen die Erfolge des früheren Senators Rick Santorum, eines radikal-konservativen Katholiken, bei den evangelikalen Wählern der Südstaaten international immer wieder hervorgehoben, bis sich herausstellte, daß Santorum gerade an der Mehrheit der katholisch-republikanischen Wähler scheiterte, die den politisch und religiös viel gemäßigteren Mormonen Mitt Romney unterstützten; und kaum hatten in den ausländischen Kommentaren die ebenfalls durch seinen Glauben bedingten Bedenken gegen Romney zu dominieren begonnen, als deutlich wurde, wie sich ausgerechnet die Religion als eine Belastung für den Herausforderer von Barack Obama auswirkte. Wenn sich allerdings europäische Befürchtungen über religiösen Extremismus als politische Erfolgsbedingung in den Vereinigten Staaten kaum je erfüllen, bedeutet dies nicht schon, daß die einschlägigen amerikanischen Verhältnisse denen in Europa ähneln. Zwar dokumentiert die Erhebung «Beliefs About God Across Time and Countries» des International Social Survey Program, daß der Glaube an Gott zwischen 1991 und 2008 auch in Amerika – wie in den allermeisten christlich geprägten Ländern – zurückgegangen ist. Doch er lag dort erstens mit 80,8 Prozent (gegenüber etwa 54,2 Prozent in Westdeutschland und 13,2 Prozent in Ostdeutschland) weiterhin in einer praktisch-politisch ganz anderen Dimension der Wirksamkeit; zweitens – und ich werde auf diese Beobachtung im Detail zurückkommen – sieht ein auffällig großer Teil der gläubigen Amerikaner das eigene Verhältnis zu Gott als eine persönlich geprägte Beziehung an (67,5 Prozent gegenüber 32 Prozent in Westdeutschland und bloß 8,2 Prozent in Ostdeutschland). Wie unangefochten der Gottesglaube weiterhin als eine solide Mehrheitsbedingung im amerikanischen Alltag fungiert, wird etwa an der Vielzahl von säkularen Ritualen spürbar, die – ganz ohne an potentielle Minderheiten gewandte Ankündigungen oder gar Vorwarnungen – mit Gebeten zu einem (eher vage umschriebenen) monotheistischen Gott beginnen, von akademischen Jahresabschlußfeiern bis zu Meisterschaftsempfängen im Berufssport. Kein Präsident der Vereinigten Staaten oder Gouverneur eines Bundesstaates könnte es sich in diesem Klima leisten, Zweifel an der eigenen oder an der christlichen Sonntagspraxis seiner Familie unwidersprochen aufkommen zu lassen. Dem aus europäischer Perspektive potentiell beruhigenden, weil «normalisierenden» Eindruck, daß zumindest die christliche Mehrheit in der amerikanischen Gesellschaft von der Säkularisierung erfaßt wurde und daß politischer Extremismus also gerade nicht – jedenfalls nicht mehr – eine politische Erfolgsbedingung ist, stehen aber Grundsatzentscheidungen des amerikanischen Rechtssystems aus der jüngeren Vergangenheit gegenüber, die für eine wachsende Bereitschaft sprechen, religiösen Institutionen politische Sonderbedingungen einzuräumen. Im Januar 2012 etwa bestätigte der Oberste Gerichtshof – gegen die Equal Employment Opportunity Commission der Bundesregierung – das Recht der lutheranischen Hosanna Tabor Kirche in Redford, Michigan, eine Lehrerin mit Teilzeitverpflichtungen im Religionsunterricht zu entlassen, weil sie die inhaltlichen Erwartungen der Gemeinde nicht erfüllte. Zu schützen sei, schrieb Chief Justice John G. Roberts, «das Recht religiöser Gruppen auf die Entscheidung, wer ihren Glauben predigen und ihre Sendung erfüllen könnte».[1] Zwar unterstrich Douglas Laycock, ein Rechtsprofessor der University of Virginia, der die Kirche aus Michigan vor dem Obersten Gerichtshof vertreten hatte, daß dieses Privileg religiöser Schulen nicht auf deren Lehrer in ausschließlich säkularen Fächern anwendbar sei, doch die Entscheidung hatte die über mehr als zwei Jahrzehnte dominierende einschlägige Tendenz der Rechtsprechung (im Sinne eines von der Glaubensposition unabhängigen Schutzes individueller Angestellter gegenüber religiösen Institutionen) umgekehrt – und wurde deshalb als Symptom eines neuerdings (oder weiterhin) wachsenden politischen und rechtlichen Einflusses der religiösen Institutionen bewertet. Insgesamt steht außer Frage, daß sich das Verhältnis von Religion und Politik in den Vereinigten Staaten langfristig von europäischen Normalerwartungen entfernt hat, doch über den Grad und die Konsequenzen dieses Unterschieds sowie über seine möglichen konvergenten oder weiter divergenten Dynamiken unserer Gegenwart besteht durchaus Unklarheit. Vor allem die besondere Geschichtlichkeit dieser bemerkenswerten Invariante in der amerikanischen Kultur ist erst noch zu ermitteln. Zugleich aber wächst die Komplexität in der europäischen Einschätzung des schon intern von neuen Spannungen aufgeladenen Verhältnisses zwischen Religion und Staat in Amerika deshalb, weil sich schon seit einigen Jahrzehnten die amerikanische Situation nicht einfach mehr in deutlichen Kontrast zu einer linear fortschreitenden Säkularisierung in Europa (zumal in Deutschland) setzen läßt. Jene profunde, aber längst noch nicht definitiv beschriebene Veränderung des gesellschaftlichen Stellenwerts religiöser Positionen und Praktiken, von der die meisten europäischen Nationen erfaßt worden sind, hat nicht allein Auswirkungen auf den Vergleich zwischen Europa und Amerika – sie verändert auch die hermeneutischen Voraussetzungen für die europäische Analyse des amerikanischen Verhältnisses zwischen Politik und Religion. Dies bedeutet, daß meine Aufgabe, nämlich vor allem für deutsche Leser eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses zwischen Religion und Politik in den Vereinigten Staaten zu liefern, ohne Berücksichtigung der europäischen Entwicklung gar nicht zu leisten ist (auch wenn ich selbst, was die Perspektive vielleicht nicht allein komplizierter, sondern auch angemessener macht, vor zwölf Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit abgelegt und die amerikanische angenommen habe). Wieviel sich tatsächlich (zumal aus intellektueller Perspektive) verändert hat und auf welchen Fluchtpunkt verschiedene Teilentwicklungen in dieser Bewegung hinauslaufen, wird durch einen Blick auf die «Politik» und «Religion» betreffenden Artikel in dem von Joachim Ritter begründeten Historischen Wörterbuch der Philosophie deutlich, dessen erster Band 1971 erschienen ist. Durchgehend unterstellten die Autoren dort noch die fortgesetzte Dynamik eines Prozesses der Modernisierung, zu dessen zentralen Wirkungen eine deutliche Spur der Säkularisierung gehörte. Säkularisierung aber bedeutete fortschreitende Ersetzung von Religion als Ausrichtung des Lebens an transzendenten Orientierungen durch «Politik», verstanden als Bestimmung des Lebens möglichst vieler durch möglichst viele andere Menschen. Die funktionale Beschreibung von Religion reduzierte sich daher vor dreißig oder vierzig Jahren weitgehend auf ihre damals sehr beliebte – und offenbar unmittelbar einleuchtende – Beschreibung als «Mechanismus der Kontingenzbewältigung». Schließlich wurden Philosophen, für deren Denken Religion eine substantiellere Rolle spielte, wie etwa Carl Schmitt oder Leo Strauss, in gegenüber heute gängigen Relevanzkriterien erstaunlich peripherer Position erwähnt. Daß sich gegenüber jenem vergangenen Status quo die Faszination der Religion unter europäischen Intellektuellen inzwischen intensiviert hat, steht außer Frage. Weniger deutlich ist vorerst, auf welche Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag die neue Faszination reagiert. Zentral innerhalb der einschlägigen Gemengelage ist der Eindruck, daß eine «schwach modellierte Vernunftmoral» im Sinne der Aufklärungstradition weniger Motivationskraft für Verhalten und Handeln entfaltet, als man es noch vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich unterstellt hatte. Der darauf reagierende Versuch, alternative religiöse Motivationsressourcen zugunsten staatsbürgerlichen Verhaltens freizusetzen und zu nutzen, ist keineswegs identisch, geht aber einher mit einer «freiflottierenden Sehnsucht nach Verbindlichkeit» – und vor allem in den jüngeren Generationen mit einer Sehnsucht nach Situationen...