E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Gran Das Ende der Lügen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-22007-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-22007-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claire DeWitt ist zurück
Mit Claire DeWitt kehrt eine der überzeugendsten Ermittlerfiguren auf die Krimi-Bühne zurück. Von inneren Dämonen gepeinigt und den Rauschmitteln nicht abgeneigt, dafür aber mit fast schon überirdischem Spürsinn und Kampfgeist ausgestattet, löst sie ihre Fälle mit Bravour. Mal unkonventionell, mal gesetzwidrig, aber stets im Dienste der Wahrheit. In ihrem neuen Fall entgeht Claire DeWitt knapp einem Anschlag. Trotz zahlreicher Blessuren nimmt sie die Verfolgung des Attentäters auf. Nicht die beste Idee, wie sich zeigt.
Sara Gran schreibt Romane, Drehbücher und gelegentlich auch Essays. Sie lebt im kalifornischen Los Angeles. Bislang hat sie fünf Romane veröffentlicht, darunter mit »Die Stadt der Toten« und »Das Ende der Welt« zwei Romane um die Ermittlerin Claire DeWitt. »Die Stadt der Toten« wurde mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1 Der Fall des Unendlichen Asphalts Oakland, 2011 Mit einem plötzlichen, erschreckenden Ruck kam ich zu Bewusstsein. Meine Augen klappten auf, hinein fuhr ein Strahl aus weißem, gleißendem Schmerz. Ich konnte nichts sehen als blendendes Licht. Ich kniff die Augen wieder zu. Ich rang nach Luft … Erinnere dich, erinnere dich. Kann sein, dass ich schrie, denn ich hörte Schreie, und dann nahm ich wahr, wie jemand meine Hand drückte und sagte: »Alles okay. Alles okay.« Ich verstummte. Gedanken schlugen in meinem Kopf auf. Ein Unfall. Ich hatte einen Autounfall gehabt. Ich erinnerte mich an ein riesiges Stück Metall, das die Fahrertür meines Autos durchbohrt hatte, und fing wieder zu schreien an. »Okay, ganz ruhig«, sagte die Stimme. Sie gehörte einem Mann, ziemlich jung, vermutlich weiß. Andere Geräusche legten sich um die Stimme, ich spürte kühle Luft im Gesicht. Ich war irgendwo draußen. Wieder Geschrei, diesmal aber nicht von mir. »Bin gleich zurück«, sagte der junge Mann. »Alles okay. Bitte nicht bewegen.« Er ließ meine Hand los und verschwand. Ich wusste, wer ich war, konnte es aber nicht in Worte fassen. Mein Name steckte irgendwo in meiner Kehle und schaffte es nicht, in den Mund aufzusteigen. Ich versuchte, mich zu bewegen. Einige Körperteile gehorchten, andere nicht. Ich versuchte, den Arm zu heben. Mein Verstand brauchte mehrere Anläufe, um die richtigen Verbindungen zwischen Nerven, Muskeln und Gehirn herzustellen, aber nach einer Weile funktionierte es, und ich konnte mir eine Hand an die Augen heben. Ich versuchte wieder, sie zu öffnen. Es klappte, tat aber immer noch weh. Ich bemühte mich, nicht zu schreien. Meine Hand hob sich rot und schwarz von einem brutal hellen Hintergrund ab. Ein stechender Schmerz schoss in mein linkes Auge, ich kniff die Lider zu. Ganz langsam, als wollte ich einen Verband entfernen, öffnete ich die Augen wieder. Sie gewöhnten sich an das Licht, und ich gewöhnte mich an den Schmerz. Ich sah mich um. Ich war in Brooklyn. Nein, ich war in San Francisco. Nein, Oakland. Ja. Oakland. Alles in mir fing zu kreischen an, am lautesten das Adrenalin. Denk nach, denk nach. Wer war ich? Claire DeWitt. Ich bin Claire DeWitt, und ich bin … Eine weitere Erinnerung landete mit einem dumpfen Schlag: Ich war im Auto unterwegs gewesen, erst auf der Interstate 80 und dann auf der 880 und … Ich hatte einen Lincoln gesehen, Baujahr 1982. Der hatte sich durch die Fahrertür gebohrt. Wer hatte am Steuer gesessen? Und wie konnte ich das herausfinden? Die Erinnerung an den Crash stürzte auf mich ein und löschte alles andere aus. Mir wurde schwarz vor Augen. Denk nach, denk nach. Ich erinnerte mich: Ich bin Claire DeWitt. Wollte ich früher nicht Detektivin werden? Ja, wollte ich, und es hatte funktioniert. Ich war Claire DeWitt, und ich war die beste Detektivin der Welt. Denk nach, Claire, denk nach. An welchem Fall arbeitete ich gerade? Anscheinend lag ich auf einer Art Trage oder Pritsche. Ich setzte mich auf. Mein linkes Bein und fast alle Rippen heulten auf. Ich befand mich in einem Krankenwagen. Das grelle Licht kam von oben, die Türen standen offen. Ich schaute hinaus. Die Sonne war untergegangen, der Himmel dunkel. Von meinem Auto war nur noch ein Haufen Schrott und Glassplitter übrig. Die Schreie – nicht meine, die anderen – stammten von einer Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben einem Bündel stand, entweder ein Kleiderhaufen oder ein schwer verletzter Mensch. Ich sah, dass die Frau heftig aus einer Kopfwunde blutete. Ein Sanitäter – vermutlich derselbe, der eben noch meine Hand gehalten hatte – versuchte, ihre blutige Stirn zu untersuchen. Überall blinkten und zuckten die Lichter von Polizeiautos und Krankenwagen, auf dem schwarzen Asphalt funkelten Scherben und Metallsplitter. Um den Kreis aus Ersthelfern hatte sich ein zweiter, größerer Kreis aus Schaulustigen gebildet, etwa ein paar Dutzend Leute. Über der ganzen Szene hing der Nebel eines schweren Verkehrsunfalls, es roch nach Rauch, Blut und Chaos. Erinnere dich, erinnere dich. Ich war Claire DeWitt, die beste Detektivin der Welt, und jemand hatte versucht, mich umzubringen. Ich holte tief Luft. Die Frau kreischte und blutete. Ich hatte sie kurz vor dem Unfall gesehen, sie hatte beim Aufprall des Lincoln am Straßenrand gestanden. »Heilige Scheiße«, hatte sie gerufen, »der will sie umbringen!« Der. Mein erster Hinweis. Ich versuchte, mich auf den Lincoln zu konzentrieren, ohne von der Erinnerung überwältigt zu werden. Der Fahrer hatte einen Volltreffer gelandet. Der Wagen war direkt auf mich zugerast und hatte sich in die Fahrerseite meines Kia gebohrt. Nein, kein Unfall. Versuchter Mord. Mein zweiter Hinweis. Ich sah mich um. Wir befanden uns auf einer breiten Straße irgendwo in der Nähe von Fruitvale. Ich tastete meine Kleidung ab. Keine Waffen. Warum hatte ich den Revolver nicht dabei? Ich erinnerte mich: Er war in meinem Auto. Ich hatte ihn mit Klebeband unter dem Beifahrersitz fixiert, weil das beim Fahren sicherer ist. Keine Chance, jetzt irgendwie dranzukommen. Ich holte noch einmal tief Luft, sah mich um und erschrak: Der Lincoln war nicht mehr da. Das Auto war ein verdammtes Monster. Wahrscheinlich hatte es nach dem Crash nicht mal eine Delle in der Stoßstange. Wer immer versucht hatte, mich umzubringen, war vermutlich noch in der Nähe und wartete auf eine zweite Chance. Ich sprang von der Trage und sackte zusammen. Meine Knie gaben einfach nach. Denk nach, Claire. Ich konzentrierte mich auf meine Beine, die sich zu stehen weigerten. Das rechte schien in Ordnung zu sein, doch das linke wollte nirgendwohin. Ich verlagerte mein Gewicht auf das rechte Bein und stemmte mich hoch. Es klappte. Ich musterte die Unfallstelle. Eine Waffe könnte ich jetzt gut gebrauchen, und den dazugehörigen Officer. Ich zählte acht Verkehrspolizisten. In Oakland kannte ich jede Menge Cops, aber diese hier hatte ich noch nie gesehen. Sieben Männer, eine Frau. Denk nach, denk nach. Mein Atem ging schnell und flach, eigentlich mehr ein Keuchen. Ich zwang mich, langsamer zu atmen. Mein linkes Auge brannte, das linke Bein jaulte bei jeder Bewegung. Aber das Adrenalin dämpfte alle Empfindungen und sorgte dafür, dass der stechende Schmerz mich nach oben und vorn schob, statt mich nach unten und innen zu ziehen. Ich wusste nicht genau, wo ich war und was ich wollte, aber plötzlich übernahm eine andere Macht. Sie war clever und gerissen und brauchte keine Worte. Ich wusste, sie würde mich am Leben halten, wenn ich sie nur machen ließ. Ich sah mich nach einer Gehhilfe um. Da war keine. Ich versuchte, mich ohne fortzubewegen. Der Schmerz schoss durch das linke Bein in meine Hüfte, ich erstarrte. Ich hob die Arme an, beide schienen unverletzt. Ich wagte einen zweiten Schritt, der sich kaum besser anfühlte. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Willst du leben?, fragte ich mich. Oder willst du hier bleiben und sterben? Ich schluckte den Schmerz hinunter, kniff das verletzte Auge zu, sah mich um und zwang mich zum Nachdenken. Neben der Trage lag eine große blaue Regenjacke, wahrscheinlich gehörte sie einem der Sanitäter. Ich schaute mich nach den Cops um. Die Frau stand in meiner Nähe. Sie bewachte die Unfallstelle und passte auf, dass sich niemand am Wrack meines gemieteten Kia zu schaffen machte. Alle anderen waren beschäftigt, hauptsächlich mit der schreienden Frau. Ich bewegte die Arme noch ein paar Mal, schüttelte das rechte Bein aus, knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. Losgehen oder sterben, sagte ich mir. Der Spruch war alt, und ich hatte ihn schon zu oft benutzt, aber es würde trotzdem funktionieren, denn er ist wahr. Ich setzte mich wieder auf die Trage. Ich sah mich um, meine Gedanken rasten. An der Wand hing eine Taschenlampe. Ich zog sie aus der Halterung. Rotes, blaues und weißes Licht zuckte durch den Krankenwagen. Ich schüttelte mir die Jacke von den Schultern, sie landete halb auf der Regenjacke. Auf der Trage lag ein dünnes, weißes Tuch, das ich über die Jacken breitete. Aus der Entfernung könnte es täuschend echt wirken. Ich starrte die Polizistin an und zwang sie, sich zu mir umzudrehen. Hier wartet dein Schicksal, rief ich lautlos. Dies ist der Punkt, auf den dein Blick sich richten soll! Nach einer Minute drehte sie den Kopf. Als sie sah, dass ich mich aufgerichtet hatte, öffnete sie den Mund, um ihre Kollegen zu rufen, aber ich legte mir einen Finger an die Lippen – Pssst – und zog ein zu Tode verängstigtes Gesicht. Das fiel mir leicht, weil ich wirklich Todesangst hatte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. Die Schlacht war halb gewonnen. Ich zeigte hinter mir auf den Boden, wo die Jacken und das Tuch lagen. Die Lichter blinkten, sie konnte unmöglich sehen, ob das ein Haufen Kleidung war oder ein Mensch. Er ist hier, formte ich lautlos mit den Lippen, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen. Ich nahm den Finger vom Mund und zog ihn mir einmal quer über den Hals. Er wird mich umbringen, bedeutete ich ihr. Sie legte eine Hand an ihre Dienstwaffe, setzte sich in Bewegung und wagte sich Schritt für Schritt durch die Dunkelheit. Ihre Haut war glatt...