Griesbach | Haller 11 - Lebensräume | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 93 Seiten

Griesbach Haller 11 - Lebensräume


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95765-994-1
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 93 Seiten

ISBN: 978-3-95765-994-1
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
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Mein Lebensraum - Flüchtlingslager, Slum, Villa, der Burj Khalifa, das Haus am See? Ein Zimmer, eine Zelle, ein Garten? Urwald oder Steppe? Eine Marskolonie? Lebensraum ist ein Begriff, der ebenso privat ist, wie gesellschaftlich relevant, der missbraucht wird für geopolitische Übergriffe. Der Angst macht, denn wo wir über ihn lesen, ist er meist 'bedroht'. Tiere und Pflanzen sind ihres Lebensraums beraubt worden oder wurden als blinde Passagiere in neue Lebensräume verpflanzt. Lebensräume - wo und wie leben wir morgen? Was ist unser Platz im Leben? Wo lebe ich? Wo will ich sein? Welches Biotop erschaffe oder zerstöre ich? Wo ist menschenwürdiges Wohnen möglich oder nicht mehr möglich? Welchen Raum beanspruchen mein Körper, meine Gedanken und Träume? Wo ist der Sitz meines Lebens? Zehn Autoren und eine Bildkünstlerin haben Antworten auf diese Fragen gefunden.

Die 1967 in Marbella geborene Corinna Griesbach ist Autorin von Kurzgeschichten verschiedener Genres.

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Frauke Buchholz Im Reservat
  Die edlen Vertreter der Rothäute sind erloschen und übrig ist nur ein Rudel heulender Köter, die die Hand lecken, die sie quält. (…) Ihr Ruhm ist dahin, ihr Mut gebrochen, ihre Männlichkeit ausgelöscht; sollen sie besser sterben als weiterleben als die erbärmlichen Kerle, die sie sind. (L. Frank Baum, Aberdeen Saturday Pioneer, später Autor von Der Zauberer von Oz)   Eingepfercht von einem grauen Maschendrahtzaun, liegen die Toten von Wounded Knee auf einer Anhöhe inmitten der weiten Prärielandschaft von South Dakota. Grabsteine und Holzkreuze, geschmückt mit Plastikblumen und US-Fähnchen, ragen aus dem schmutzig-gelben Präriegras. Eine graue Stele erinnert an Häuptling Big Foot. Die Inschrift verwittert, keine Jahreszahl, kein Hinweis auf ein Massaker. Vergessene Namen. Living Bear, Afraid of Bear, Young Afraid of Bear, White American, Red Fish. Der Himmel verwischtes Grau, passend zu Stele und Zaun und zu Louisas Stimmung. Lustlos trottet Louisa hinter Konrad zwischen den Gräbern umher. Sie findet, dass es eine Schnapsidee war, die Interstate 90, die sie direkt in die Black Hills und zum Mount Rushmore geführt hätte, zu verlassen, um die schlecht beschilderte Abzweigung zur Pine Ridge Indian Reservation zu nehmen, doch Konrad hat sich natürlich mal wieder durchgesetzt. Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, indianischer Widerstand, Solidarität mit unterdrückten Minderheiten, blablabla, Louisa könnte kotzen, wenn er den Gutmenschen raushängen lässt. Ausgerechnet Konrad. Unterdrückte Minderheiten kannst du dir auch in Berlin anschauen, Roma, Homos, Asylanten, dafür brauchen wir nicht in die USA zu fahren, hat Louisa geantwortet. Konrad hat nur mit den Schultern gezuckt und ihr einen dieser Blicke zugeworfen, die besagten, dass sie eine Idiotin war. Die Stimmung zwischen ihnen ist jetzt gereizt. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie trägt offene Sandalen, das Gras ist scharfkantig, und sie hofft inständig, dass es hier keine Klapperschlangen gibt. Konrad mimt den Interessierten, kneift die Augen zusammen, stiert angestrengt auf die Steine und lässt den Blick ab und an sinnierend in die Ferne schweifen. Stell dir vor, das war alles mal Sioux-Land, sagt er, sogar die Black Hills, solange die Sonne aufgeht, das Gras wächst und die Flüsse fließen, doch Louisa antwortet nicht. Ihr doch egal, sie will jetzt in ihr Hotel. Essen, duschen, Urlaub haben. Konrad zündet sich eine Zigarette an. Er nimmt einen tiefen Zug und hält sie ihr hin. Friedenspfeife gefällig?, sagt er grinsend. Genau das ist es, was sie an Konrad so nervt, diese Nonchalance, mit der er ihre Bedürfnisse und Wünsche einfach so beiseite wischt, doch natürlich nimmt sie die Zigarette und inhaliert bis in die tiefsten Verästelungen ihrer Lungenflügel. Besiegt, denkt sie. Durch den Fort-Laramie-Vertrag von 1868 schrumpfte der Lebensraum der Sioux auf das südwestliche Viertel ihres angestammten Territoriums. 1877 mussten sie dann auch noch die ihnen heiligen Black Hills abtreten. Die einst mächtigen und freien Stämme der Dakota lebten nun eingesperrt auf der Großen Sioux-Reservation. Das Abschlachten der riesigen Büffelherden führte nicht nur zum Verlust ihrer Lebensgrundlage und der völligen Abhängigkeit von oft korrupten Agenten, sondern auch zum Verlust der Identität der Männer als Jäger und Ernährer. Das Leben im Reservat wurde mehr und mehr von Apathie, Armut und Alkoholismus geprägt. Louisa hasst es, wenn Konrad mit seinem angelesenen Wissen brilliert. Sie hat den kurzen Artikel über Wounded Knee selber im Reiseführer gelesen. Konrad ist jetzt in seinem Element. Winnetou-Syndrom, nennt Louisa das insgeheim. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlen muss, seine Freiheit zu verlieren? Diese pathetische Konrad-Stimme. Ich weiß genau, wie sich das anfühlt, denkt Louisa. Ich habe Hunger, sagt sie. Und außerdem müsste ich mal aufs Klo. Jetzt ist Konrad stinksauer, sie sieht es an der Art, wie er die Zigarette wegschnippt und mit dem linken Fuß wippt, doch er reißt sich zusammen. Wir haben ja jetzt auch alles gesehen hier, oder?, fügt Louisa hinzu. Konrad schweigt einen Moment sein böses Schweigen, dann stapft er wortlos Richtung Auto. Louisa stapft hinterher. Der Leihwagen, ein silberner Ford Escape, hockt wie ein massiges Tier inmitten der Graseinöde. Konrad drückt auf die Fernbedienung, und die Türschlösser schnappen auf. Er setzt sich ans Steuer und lässt den Motor aufheulen. Für einen kurzen Moment denkt Louisa, dass er sie hier zurücklassen wird, und ein Gefühl von Panik erfasst sie. Sie beschleunigt ihren Schritt und springt ein wenig atemlos auf den Beifahrersitz. Konrad gibt Gas. Der Escape rollt die schlecht geteerte Straße entlang, rechts und links Prärie, zerbrochene Glasflaschen, leere Bierdosen, Müll. Regen fällt in dünnen grauen Strichen gegen die Windschutzscheibe, ab und an ein Holzkreuz am Straßenrand, armselige Hütten oder ein Trailer Home mit ausgeschlachteten Autowracks, kaputten Kühlschränken und angeketteten kläffenden Hunden davor. Louisa fühlt sich wie im Zoo, nur dass es keine wilden Tiere zu sehen gibt. Im Jahr 1889, als das Große Reservat aufgeteilt wurde und das Land der Sioux erneut zusammenschrumpfte, war der moralische Zustand der Präriestämme derart von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt, dass eine Sonnenfinsternis im selben Jahr sie glauben ließ, nach dem Büffel verschwinde nun auch das Licht der Sonne für immer. Als der Paiute-Medizinmann Wovoka prophezeite, dass im nächsten Frühjahr, wenn das Gras kniehoch sei, die alte Erde gleich einem Teppich weggerollt würde, und mit ihr die Eisenbahn und die Bergwerke, die BIA-Agenturen, die Zäune, die Städte und die Weißen, und die Büffelherden, die gefallenen Krieger und die durch Hunger und Kälte gestorbenen Frauen und Kinder zurückkehren würden, griff der Geistertanzkult um sich wie ein Fieber. Konrad tritt plötzlich auf die Bremse, Louisa macht einen Ruck nach vorne, bevor sie der Gurt auf den Sitz zurückschnellen lässt. Der Reiseführer fällt auf den Boden und erschrocken blickt Louisa auf. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass jemand am Straßenrand steht. Ein Anhalter. Konrad ist bereits ein Stück an ihm vorbei gefahren, bevor er es sich anscheinend anders überlegt hat. Der Mann hat jetzt den Escape erreicht und klopft gegen Louisas Fenster. Louisa lässt die Scheibe herunter und der Anhalter beugt sich ein wenig hinein. Sein langes schwarzes Haar klebt strähnig und nass am Kopf. Sein Gesicht ist flächig, die braune Haut unrein und auf den Wangen etwas blatternnarbig. Er trägt einen dünnen Oberlippenbart, unter dem sich jetzt die Lippen öffnen und eine Frage stellen, die Louisa nicht richtig versteht. Tiefe Stimme, breiter amerikanischer Akzent. Konrad nickt, und der Anhalter klettert auf den Rücksitz. Er setzt sich hinter sie, und Louisa meint, seinen Atem im Nacken zu spüren, doch vielleicht bildet sie sich das ja auch nur ein. Im Seitenspiegel sieht sie einen tätowierten kräftigen Oberarm und ein Stück von einem bedruckten T-Shirt. Sie hätte ihn gerne ein wenig näher ins Visier genommen, aber sie will sich nicht umdrehen und blickt starr geradeaus. Where you guys from? Germany, antwortet Konrad. Sie hört an seiner Stimme, wie aufgeregt er ist. You guys on holiday? Yes, sagt Konrad. We wanted to see an Indian reservation, fügt er hinzu. Du wolltest das, denkt Louisa. Not much to see, sagt der Indianer auf dem Rücksitz. Er lacht ein kehliges Lachen. We were at Wounded Knee, sagt Konrad. Wie er sich einschleimt. Doch von hinten ertönt nur ein unbestimmtes Grunzen. Louisa würde Konrad gerne fragen, was er sich dabei gedacht hat, den Fremden mitzunehmen, doch sie findet es unhöflich, deutsch zu sprechen und wirft Konrad nur einen bösen Seitenblick zu. Got a smoke? Eigentlich rauchen Konrad und Louisa im Auto nicht, aber Konrad hält die Schachtel Marlboro nach hinten und Louisa dreht sich zum ersten Mal um, um dem Indianer das Feuerzeug zu reichen. Thanks, sagt er. Seine Augen sind sehr dunkel, unergründlich, findet Louisa, der Gesichtsausdruck stumpf. Er ist etwa Mitte bis Ende dreißig und macht einen abgerissenen Eindruck. Schnell dreht sich Louisa wieder nach vorne. Das Feuerzeug klickt und Rauch nebelt den Innenraum des Escape ein. Louisa fühlt eine leichte Übelkeit. You live here?, fragt Konrad. Yep, sagt der Indianer. I’m Oglala-Sioux. Louisa meint, einen gewissen Stolz in seiner Stimme zu hören. Konrad legt jetzt los. I love the Sioux, sagt er. In seinem Schulenglisch beginnt er, von Sitting Bull und Crazy Horse zu schwärmen. Büffeljagd, Mustangs, Tipis, Powwows. Der mit dem Wolf tanzt. Great movie, meint Konrad. Das American Indian Movement. Die Wounded-Knee-Besetzung von 1973. Indianische Spiritualität. Mutter Erde. Konrad kommt jetzt richtig in Fahrt. Sein Kopf ist hochrot, und unter den Achseln breitet sich ein Schwitzfleck aus. I love the Sioux, wiederholt Konrad. A free people, sagt Konrad. A free people with a free spirit. Louisa muss ein wenig grinsen. Gleich wird er ihm Blutsbrüderschaft anbieten, denkt sie. I was twelve...



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