E-Book, Deutsch, 173 Seiten
Griesbach Haller 12 - Das Staunen der Welt. Visionen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95765-993-4
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 173 Seiten
ISBN: 978-3-95765-993-4
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politische, gesellschaftliche, religiöse Visionen, die die Welt in Staunen versetzen, entzücken und entsetzen. Sonnentänze, Schamanenrituale und unsere nächtlichen Träume. Waren und sind es Wahnbilder, Fieberträume und Einbildungen, die den Lauf der Welt und das Schicksal des Einzelnen bestimmen? Geschichten über historische und futuristische Visionen und Visionen des Wahnsinns und der Angst. Die Vision einer Welt, in der alle Religionen gleichberechtigt und in Eintracht miteinander leben, der Traum von einer Welt ohne Hunger und Elend, in der es auch keine Krankheiten mehr gibt, Visionen von einer besseren Gesellschaft, von einem Leben ohne Plastik, der Traum vom besseren Menschen oder einer Erde ohne Menschen. Welche Erscheinung flüstert dem Wahnsinnigen seine nächsten Pläne ein? Welche Macht erscheint dem Einzelnen, von anderen ungehört und ungesehen und zu welchen Taten führt dieses Erleben? 'Das Staunen der Welt. Visionen' ist ein Thema, das dramatisch, melancholisch, humoristisch und zeitkritisch ist - über Genregrenzen hinweg.
Die 1967 in Marbella geborene Corinna Griesbach ist Autorin von Kurzgeschichten verschiedener Genres und legt hier ihren ersten Science-Fiction-Roman vor.
Autoren/Hrsg.
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Ansgar Poloczek Schwarzer Milan
15. Mai Es ist spät geworden. Tiefe Nacht mitten in den Wäldern. Das Lager liegt in schwarzer Kältestarre, aus der wir es anscheinend nur kurz aufgeschreckt haben, als wir gegen elf Uhr endlich ankamen. Wir fuhren ein sich verengendes Tal hoch, das von einem kleinen Bach durchzogen wurde. Auf der weiten, fast braunen Steppe, die sich zwischen den dunkelgrün bewaldeten Hügeln erstreckte, lagen in lockeren Grüppchen die strahlend weiß wirkenden Filzzelte eingestreut. Die bunt gescheckten Herden aus Schafen und Ziegen dazwischen sahen aus der Ferne wie eine Schicht von Laub auf trübem Wasser aus. Kleine Gruppen von Pferden suchten ängstlich unserer rumpelnd genommenen Straße zu entkommen. Die Berge an den Seiten rückten immer enger zusammen, und irgendwann hatte uns der Wald verschluckt. Ein lichter Wald, mit viel Strauch und Krautwerk am Boden. Und schmale Taleinschnitte mit feuchtem Grund, wo das Grün dann beinahe sprudelnd wucherte. Die Birken und Lärchen noch vollkommen kahl vom Winter, verstärkten mit ihren weißen und grauen Stämmen den trockenen Eindruck noch. Weil der Motor unseres Fahrzeugs sich überhitzt hatte, machten wir fast eine Stunde Pause auf einem Pass, wo die hiesigen Leute einen Haufen aus mit blauen Tüchern drapierten Steinen errichtet haben. Beschwörung von Geistern früher, Einladung zum Schnapsgelage heute. Über den mir sehr kurz vorkommenden Abend brach die Nacht herein, und mit ihr die Kälte. Schnell war die ganze Landschaft in eisige Dunkelheit gehüllt, und Wald und Berg standen nur noch als schwarzer Schattenriss vor dem sterngesprenkelten Himmel. Auch jetzt, wo ich aus dem holzgerahmten Fenster meines Kämmerchens gucke, sehe ich den funkelnden Himmel hinter Bäumen und dem spitzen Giebel des Schuppens hervorlugen. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Sterne gesehen. 16. Mai Wie eine Perlenkette reiht sich die Station am Flussufer auf. Fünf kleine Holzhäuschen insgesamt, dazu ein paar von den Filzzelten. Ich habe ein Zimmer im Dach des größeren Laborgebäudes bekommen, es ist ganz gemütlich. Der Fluss ist eiskalt und von extrem schneller Strömung. Am steinigen Ufer liegen große Eisblöcke als Überbleibsel des Winters. Es ist ein komisches Gefühl, bei heißem Wetter nur in Hemd und kurzen Hosen auf einem Eisblock zu stehen. Der Professor machte mit mir einen kurzen Rundgang über die Station. Zeigte mir die drei Labors und die Küche, in der wir gestern Nacht schon eine Suppe gegessen hatten. Heute wollte ich mich erst mal ein wenig umsehen. Die Wälder sind noch kahl und grau, hier unten am Fluss sind es größtenteils Lärchen und Birken, die noch auf ihren Sommer warten, obwohl es tagsüber schon richtig warm ist. Der Boden des Waldes ist mit strohartigen Gräsern bedeckt, zwischen denen hin und wieder etwas Grün hindurchschimmert. Aber die Hauptfarbe dieses Waldes ist ein graues Beige, in dem unvermittelt ein strahlend rosafarbener Fleck steht. Ein blühender Busch wilder Rhododendron. 19. Mai Ereignisreiche Tage. Versucht, Reiten zu lernen. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe, aber ich fange an zu glauben, dass mir die ganze Zeit etwas gefehlt hat. Gestern über den Fluss und weit, weit das hintere Tal hinaufgeritten. Einige Kilometer flussaufwärts, ein Zusammenfluss zweier Flussläufe. Ein weites, noch unberührteres Tal als das unsrige. Heute erste Flächen zur Probennahme angesehen. Es wird nicht leicht werden. Seit Mittag schwebt ein Schwarzer Milan hier über dem Lager, als warte er darauf, dass etwas für ihn abfällt. Auch dies Lager ist wie eine kleine Stadt, uneingeladen hat sie sich hineingedrängt, ungewollt verändert sie das Gefüge der Wälder und ihrer Bewohner. An den Müllkippen vor den Toren der ausufernden Hauptstadt kamen mir die Wolken von Milanen wie ein Haufen zerfledderter Krähen vor, hier in den Wiesen und Bergen muten ihre schön gezeichneten Flügel und ihre kantigen Schwänze majestätisch an und erinnern an mächtige Adler. 21. Mai Eine seltsame Gruppe ist es, die sich hier zusammengefunden hat. S. ist eine Forscherin von uns, ungefähr so alt wie ich. Ich mag sie nicht und weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass der Eindruck täuscht. D. gehört auch zu uns. Nie gesehen vorher. Laut und rechthaberisch. Aber irgendwie lustig, auf seine Art. Dann ist da noch T., ein dickliches, unscheinbares Mädchen, ziemlich jung und unbedarft. Eine Gruppe Forscher von der Universität in der Hauptstadt ist hier, drei Doktoren oder so etwas und einige Studenten. Sie wirken nett, auch wenn es sehr schwer ist, sich mit ihnen zu verständigen. 25. Mai Heute versucht, meine ersten Probengebiete festzulegen. Erst wenn man die Gegebenheiten vor Ort kennt, kann man einen richtigen Plan für die Arbeiten aufstellen. In den nächsten Tagen werde ich daran gehen, einen auszuarbeiten. Noch ist ja auch Zeit, trotz der hohen Temperaturen am Tage lässt der Sommer auf sich warten. Die Bäume sind noch komplett kahl, noch nicht einmal Knospen sind zu erkennen. Das Reiten geht schon recht gut. Je mehr andere Pferde dabei sind, umso schwerer kann ich meins im Zaum halten. 27. Mai Morgens lag Schnee. Gestern heißester Sonnenschein und heute Schnee. So ist das hier. Winterliche Hänge bei warmer Nachmittagssonne. Noch immer erscheinen die Wälder kahl, die Bäume als triste Winterskelette. Ich sehne täglich den Beginn der Blüte herbei. 1. Juni Regentage, grau, kühl und nass. So ganz allmählich werden die Birken grün, auf den Bergen ringsum erscheint ein matter Schimmer. Im Tal noch so gut wie nichts. Gestern Abend saßen wir in der Küche zusammen und tranken. Ich bin so viel Wodka nicht gewohnt, und konnte am Ende nur noch schwankend gehen, was mir S. heute Morgen auch noch mal deutlich sagen musste. Sie denkt wohl, es wäre mir peinlich. In ihrer Gegenwart fühlt sich alles unangenehm an. Man hat scheu zu sein, wie man ist, ständig ist man bedroht von ihrem Spott. Selbst wenn sie lacht, ist es distanziert, beinahe bösartig. Vielleicht geht es aber auch nur mir so, D. versteht sich anscheinend recht gut mit ihr, was mich irgendwie wundert, und der Professor scheint sehr große Stücke auf sie zu halten. Ein kleiner, untersetzter Mann von der hiesigen Universität, erzählte eine Geschichte: Es ging um die Familien, die hier zum Ende des Winters mit großen schweren Lastern in die Wälder fahren und dort die Früchte der Kiefern sammeln. Für mehrere Monate bleiben sie dann in ihren Lagern im Wald, bis sie genügend Kiefernnüsse gesammelt haben. Dann fahren sie zu Beginn des Sommers wieder aus den Bergen herunter, um sie auf den Märkten zu verkaufen. Vor einiger Zeit soll ein kleiner Junge aus einer solchen Familie hier in den Wäldern verschwunden sein. Sämtliches Suchen blieb ergebnislos. Zu weitläufig war das Gebiet, zu dicht der Wald. Wahrscheinlich ist er verhungert und seine Leiche wurde von Wölfen gefressen, die Knochen verstreut im moosigen Unterholz. Es gibt aber auch Berichte von Jägern, die beteuern, ihn gesehen zu haben. Wie ein Tier in der Wildnis hausend. Wie lange das her sei, wollte ich wissen, und wo der Junge angeblich gesehen wurde. Aber der kleine Dicke hat gelacht und sagte nur, das wären Geschichten. 3. Juni Es regnet immer noch. Der Fluss ist so gewaltig gestiegen über Nacht, dass sich das Gebüsch am Ufer in einen Auwald verwandelt hat. Die Berghänge werden jetzt ganz allmählich grün. 9. Juni Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, den heutigen Tag zu beschreiben. Ich weiß nicht, wie ich irgendwem davon erzählen soll, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hat. Ich war mit dem Pferd weit draußen, dort wo sich der nördliche Flussarm erneut aufteilt, an der Brückenruine vorbei, einen alten Fahrweg direkt am Berghang hochgeritten. Der Weg geht nach und nach in einen kleinen Pfad über, der wohl nur noch von Wildtieren genutzt wird. Ich überquerte den Fluss, der hier nur noch ein flacher Bach war, an einer seichten, sandigen Stelle und ritt eine Zeit lang über eine schmale, schotterige Flussinsel. Dann ritt ich ans andere Ufer. Der Weg war verschwunden. Manchmal glaubte ich erahnen zu können, dass hier einmal wenigstens ein Pfad gewesen sein muss, aber der Eindruck kann auch täuschen. An einer Lichtung band ich mein Pferd an, und schlug mich zu Fuß ein Stück am Ufer längs. Und dann, hinter einer kleinen Biegung, wo viele kleine Kiesbänke im Bachbett liegen, sah ich ihn: Ein nackter Junge, zehn, elf Jahre alt, höchstens. Er sprang im Wasser herum, dass die Kiesel fast rhythmisch knirschten. Es war eine Art Tanz, ein Spiel, das er mit sich selber spielte. Am Rande einer Kiesbank hatte er einen kleinen Haufen aus Steinen aufgeschüttet, und kleine Birken- und Erlenzweige mit frischen Blättern hineingesteckt. Ich glaubte, auch Federn zu erkennen. Und er sprang um sein Kunstwerk herum, ging in die Hocke und hüpfte dann hoch, dass das Wasser spritzte und die...