Griesbach | HIMMEL UND ERDE | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Griesbach HIMMEL UND ERDE

Die Bilder Tatjana Freys
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95765-891-3
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Bilder Tatjana Freys

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-95765-891-3
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In diesem Bildband sind fünfundzwanzig surreale Collagen der Künstlerin Tatjana Frey zusammengetragen. Für ihre Kunstwerke löst sie vorhandene Bilder aus ihrem Kontext und setzt sie neu zusammen. Frey: 'Meist gehe ich so vor, dass mir beim Blättern durch Zeitschriften bestimmte Teile der Bilder ins Auge springen (...). Wie bei einem Puzzle lege ich verschiedene Ausschnitte zueinander. Dabei entsteht intuitiv etwas Neues, das mit dem Ursprungsbild nichts mehr zu tun hat.' Die Autoren Manfred Lafrentz, Nele Sickel, Saza Schröder, Regina Schleheck, blume (michael johann bauer), Peter Zemla, Ruth Möbius-Hanssen, Anna Straetmanns, Jens-Philipp Gründler, Casjen Griesel, Peter Paul Wiplinger, Miriam Rieger, Karin Jacob, Oliver Henzler, C. H. Huber, Gerald Friese, Christian Gerhard, Carlo Maximilian Engeländer, Nadine Horn, Esther S. Schmidt, Peter Paul Wiplinger, Nele Sickel, Friedrich Bastian, Jens-Philipp Gründler haben sich von den Bildern inspirieren lassen: Sie nehmen Motive und Stimmungen der Collagen auf und erschaffen eigene Geschichten.

Tatjana Melanie (Meta) Frey wurde 1977 in Ulm an der Donau als Kind einer Gastarbeiterfamilie geboren und beschloss mit dreizehn Jahren, nach dem Besuch einer Ausstellung der Malerin Milena Pavlovic-Barilli, Künstlerin zu werden. Sie entschied sich dann allerdings für ein Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München und arbeitete am Theater. Das Fernweh zog Sie jedoch dann an verschiedene Ecken der Welt. So lebte sie eine Weile in Key West und Buenos Aires, um dann in Berlin ihre Heimat zu finden. Hier lebt sie nun mit Kind und Mann und findet in der Straßen der großen Stadt ihre Ideen. Es folgten Ausstellungen, lyrische Lesungen und Veröffentlichungen. 'Ihre Collagen stellt sie nach dem Gesichtspunkt der Synchronizität zusammen, gleichzeitige Abläufe werden als solche begriffen, ineinandergeschoben und fixiert. Im Zentrum steht das Dekonstruieren von idealen Bildvarianten, die in Hochglanzmagazinen zu finden sind. Das Resultat ihrer Arbeit sind fiktionale Chimären.' (A. W. Korsch, Ausstellungstext 'Neue Echtheit', 2018)

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Weitere Infos & Material


Kleiner Sohn folgt den Meistern der Zeit | Manfred Lafrentz
  1
  Schamlose Hexe weiß, dass sie auserwählt ist. In den Träumen der Wanderer darf sie eine betörend schöne Frau sein. Dafür liebt sie die Wanderer und bewahrt sorgfältig ihr Geheimnis. Niemand soll von ihnen erfahren, denn niemand sonst gibt Schamlose Hexe das Gefühl, begehrenswert zu sein, nicht einmal Kleiner Sohn, obwohl er sie liebt. Aber nur, weil er denkt, dass sie genauso wenig zu den anderen gehört wie er selbst. Kleiner Sohn ist ein schmächtiger kleiner Kerl. Die Leute im Dorf sagen, sein älterer Bruder habe alles abbekommen, was an einem Mann gut ist. Für Kleiner Sohn ist nur ein kümmerlicher Rest geblieben. Und sein Gesicht spricht auf eine seltsame Weise, die alle abstößt. Die Gestalt der Wanderer macht Schamlose Hexe keine Angst. Sie ähneln riesigen Spinnen, aber Lichter flimmern in ihnen auf und ab, ruhelos, endlos. Sie weben Netze zwischen den Bäumen des Waldes, in dem sie sich verstecken, so wie zwischen den Sternen, von denen sie gekommen sind. Es hat Schamlose Hexe nie etwas ausgemacht, sich zu ihnen zu legen. Die Lust, die die Wanderer ihr gewähren, ist gekoppelt an das Flüstern der Sterne. Wenn die Wanderer Schamlose Hexe lieben, ist es, als ob die Sterne selbst zu ihr sprächen. Die Wanderer tun etwas mit der Welt, und Schamlose Hexe hilft ihnen dabei, obwohl sie nicht weiß, was es ist. Es ist ihr egal. Es hat mit der Lust zu tun, und auf diese kann sie nicht verzichten. Sie sucht sie im Wald auf, verstohlen und heimlich wie immer, aber etwas ist anders. Nach der Vereinigung, als Schamlose Hexe ermattet und verträumt zwischen Farnen auf weichem Moos liegt, sagen die Wanderer: »Wir müssen fort.« »Warum?« Schamlose Hexe ist am Boden zerstört. Sie will nicht, dass die Wanderer weggehen. Sie kann nicht mehr ohne die Lust sein. »Die Meister der Zeit verfolgen uns, wohin wir auch gehen«, sagen die Wanderer. »Nun haben sie uns hier gefunden. Also müssen wir fort.« Schamlose Hexe weint. Die Meister der Zeit sind grausam. Jeder weiß es. Sie hasst sie. Alle hassen sie. »Wenn du willst, kannst du mit uns kommen«, sagen die Wanderer. »Wir lieben dich und wir brauchen dich.« Schamlose Hexe kann ihr Glück kaum glauben. Nichts wünscht sie sich mehr, als bei den Wanderern zu bleiben. »Wann werden wir gehen?«, fragt sie atemlos. »Wir gehen jetzt«, sagen die Wanderer. »Sieh her, wie wir unsere Netze weben!« Die Luft vibriert. Silberne Linien steigen zum Himmel auf. Schamlose Hexe folgt ihnen mit staunenden Blicken. Als sie von den Linien erfasst wird, schreit sie leise auf. Ihr Körper wird erfasst, sie schwebt an den Linien, die sie einhüllen wie ein Netz, aufwärts zu den Sternen.   2
  Kleiner Sohn kann Schamlose Hexe nicht finden. Er fragt jeden im Dorf, aber die Leute scheinen froh zu sein, dass Schamlose Hexe fort ist. »Man könnte genauso gut mit einem Zugvogel befreundet sein«, ist ein Sprichwort, das jeder auf den Lippen hat. »Die Meister der Zeit kennen kein Erbarmen«, ist ein anderes. Vielleicht denken sie, dass sie Kleiner Sohn damit trösten, aber es tröstet ihn nicht. Warum ist Schamlose Hexe fortgegangen? Er kann seine Gefühle nicht ordnen. Angst. Wut. Trauer. Alles durcheinander. Sie hat mich nie geliebt, denkt er. Aber als sie da war, konnte ich sie lieben. Ich werde vergessen, wie sie aussieht. Das ist ein Gedanke, den er nicht ertragen kann. Eine Weile überlässt er sich der Wut. Er träumt davon, die Entlaufene käme eines Tages zurück, und er würde sie fragen, nur um ihr wehzutun: Wer bist du? Er stellt sich die Enttäuschung in ihrem Gesicht vor und empfindet Genugtuung. Er wird sagen, die Meister der Zeit hätten sie entstellt, und ihr Kummer darüber wird ihn freuen. Aber das ist nur ein Traum. Er weiß: Wenn er sie wiedersehen will, muss er sie suchen. Aber niemand wird ihm helfen. Kleiner Sohn ist ein Einzelgänger in seinem Dorf, in seiner Familie, in seinem Elternhaus. Die Leute sagen, er sei ein Faulpelz, und seine Eltern und sein Bruder sagen es auch, denn er beteiligt sich nie an den Arbeiten, an denen sich alle im Dorf beteiligen. Er hilft nicht dabei, Feste vorzubereiten, und er geht nicht mit jenen in die Wälder, die Holz für das Dorf schlagen. Deshalb mag ihn niemand. Aber das hat auch andere Gründe. Die Muskeln in seinem Gesicht scheinen ständig wie von selbst zu arbeiten und verleihen ihm Ausdrücke, von denen er nichts weiß. Die Mädchen haben Angst vor ihm und gehen ihm aus dem Weg. Nur wenn sie zu mehreren sind, lachen sie ihn aus. »Warum zuckst du so mit deinen Augen und deinem Mund?«, fragen sie. Er antwortet mit schwarzen Worten, die wie Kohlenstaub aus seinem Mund sprühen und ihn in einer Wolke verbergen. Er sehnt sich nach Schamlose Hexe, an die er niemals schwarze Worte gerichtet hätte. Wenn er ihr begegnete, sprach seine Gesicht für ihn, aber er wusste nicht, was es sagte. Er glaubt, seine Gesichtsmuskeln werden von den Sternen beeinflusst. Keiner kann die Botschaften lesen, auch Schamlose Hexe nicht. Seit er ein Kind war, sehnt sich Kleiner Sohn nach den Sternen. Die Sterne scheinen ihm ewig gleich und nicht den Machenschaften der Meister der Zeit unterworfen, die alles verändern und Menschen dazu bringen, fortzugehen. Daher wagte er es, den Sternen seine Freundschaft anzubieten und sie zu lieben, wie er sonst nur Schamlose Hexe lieben sollte, und er glaubt, die Sterne lieben ihn zurück und sprechen zu ihm, indem sie sein Gesicht Worte formen lassen, die niemand versteht. Kleiner Sohn sucht und sucht Schamlose Hexe. Er kann sie nicht finden. Er nennt sich einen Narren, als er die Leere spürt, die sie in ihm hinterlässt. Ich hätte es wissen müssen, denkt er. Die Meister der Zeit zerstören alle Bindungen und Hoffnungen. Nichts dauert an. Er hebt die Fäuste zum Himmel und droht und flucht den Meistern der Zeit und fordert sie heraus, aber sie antworten nicht. In seinem Unglück glaubt er, dass alle anderen Menschen glücklich sind. Mühsam malt er sich aus, was ihr Leben beschweren könnte, und denkt dann, dass dies durch etwas anderes ausgeglichen wird, das er selbst entbehrt.   3
  In einer sternenklaren Vollmondnacht, nicht lange, nachdem Kleiner Sohn die Meister der Zeit verflucht hat, erscheinen sie ihm. Sie sind wie schwarzer Nebel. »Du bist den Sternen lieb, Kleiner Sohn«, sagen sie, »weil du sie lieb hast. Wir werden dich zu den Sternen bringen, denn das ist ihr Wunsch.« »Wer seid ihr?«, fragt Kleiner Sohn. »Wir sind die Meister der Zeit«, sagen die Nebel. »Du bist böse auf uns, wie die meisten böse auf uns sind, weil sie denken, dass wir hart und gehässig sind. Aber das sind wir nicht. Wir erfüllen einen Auftrag.« »Aber es tut weh, was ihr macht«, sagt Kleiner Sohn. »Wer vergibt einen solchen Auftrag?« »Das wissen wir nicht. Tröste dich, auch wir werden eines Tages verschwinden, wenn der Auftrag endet. Willst du zu den Sternen?« Kleiner Sohn schaut zu den Sternen auf. Sie sind wie Diamanten, die gepflückt werden wollen. »Ich will«, sagt er. »Denn ich will Schamlose Hexe suchen.« »Auch wir suchen nach ihr«, sagen die Meister der Zeit. »Du wirst sie für uns finden.« Sternenkaltes Eis beginnt in Kleiner Sohns Augen zu funkeln, und in seiner Brust schlägt kein Herz mehr, sondern ein Licht pulsiert in ihr, das ihn aufwärts trägt, sodass er mühelos den Meistern der Zeit zu den Sternen folgen kann, die auf ihn warten.   4
  Die Welt hat sich verändert, denkt Kleiner Sohn, als er zurückkehrt. Aber es überrascht ihn nicht. Er hat Schamlose Hexe nicht gefunden, nur ein seltsames, nebelhaftes Gebilde, das zwischen den Welten schwebte. Als er es berührte, spürte er die überwältigende Lust, die darin gespeichert war, so konzentriert, dass es ihm die Sinne raubte. Die Meister der Zeit erklärten ihm, dass dieses Gebilde Schamlose Hexe sei, oder vielmehr das, was aus ihr geworden war. Über lange Zeit hinweg hat sie die Samen der Wanderer aufgenommen und sie auf die Welten regnen lassen, die durch die Samen so verändert wurden, wie die Wanderer es wollten. All die Lust, die Schamlose Hexe von den Wanderern empfing, hat ihre menschliche Gestalt und ihre Seele verbrannt, bis nicht mehr übrig war als eine samenregnende Wolke. Kleiner Sohn war traurig, als er erkannte, dass er Schamlose Hexe zu spät gefunden hatte. Auch die Meister der Zeit bedauerten es. Sie konnten nicht mehr verhindern, was die Wanderer taten. »Kehre zurück auf deine Welt, Kleiner Sohn«, sagten sie. »Erzähle den Menschen, was Schamlose Hexe getan hat.« Er ist ein Fremder in seinem Dorf, und die Menschen sehen ihn scheu an. Er weiß, dass Sternenlicht in seinen Augen flackert und kosmischer Staub tiefe Furchen in sein Gesicht...



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