E-Book, Deutsch, 410 Seiten
Griesbach Monster der Woche
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95765-963-7
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 410 Seiten
ISBN: 978-3-95765-963-7
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wir präsentieren das Monster der Woche. Frisch von der Stange, live aus der Hölle. Nur für Sie. Geschöpfe aus Mythen und Sagen. Und aus dem Hier und Heute. Monster, die sich gewaschen haben - aber Sie wollen nicht wissen, womit. Dreißig Autoren machen Ihnen klar, dass das, was Sie für Monster halten, noch lange nicht das Ende der Fahnenstange ist. Und nicht nur der Fahnenstange in Ihrem Allerwertesten. Unsere Monster der Woche begegnen Ihnen überall - in der Provinz, im Büro, im Krieg, im Untergrund, im Versuchslabor und natürlich auch im Kinderzimmer. Und sie verbreiten nicht nur Schrecken, sind ungeheuerlich, unmenschlich, hässlich, mutiert, schreckenerregend. Nein, wirklich nicht. Wann haben Sie Ihren Partner das letzte Mal näher angeschaut?
Die 1967 in Marbella geborene Corinna Griesbach ist Autorin von Kurzgeschichten verschiedener Genres und legt hier ihren ersten Science-Fiction-Roman vor.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Jan Seibert: Wendigo
Ein schönes Gefühl war es, den frischen, unberührten Schnee beim winterlichen Wandern unter den Stiefeln knirschen zu hören. Über mir leuchteten die kahlen Baumkronen des Waldes im Abendrot der untergehenden Sonne. Obgleich ich fror und mir der Kopf schmerzte, wurde mir bei diesem Anblick innerlich warm und wohl. Eigentlich hätte ich längst umkehren sollen. Es dämmerte bereits und zu Hause wartete meine Liebste in der warmen Stube auf mich. Doch das Schauspiel der Natur war so schön anzusehen, dass ich mich verleiten ließ, tiefer in den Wald zu laufen, als es für gewöhnlich üblich war. Ich wusste noch nicht viel über diese abgelegene Region, kannte mich noch nicht gut im Dorf und in der Umgebung aus und auch die meisten Einheimischen erschienen noch fremd und begegneten mir mit eigenartig reserviertem Mistrauen, weshalb ich sie im Gegenzug häufig zu meiden versuchte. Wir lebten noch nicht lange gemeinsam hier. Erst kürzlich, nach der Heirat, siedelten wir uns hier an. Es ist die Heimat meiner Frau. Es zog sie hierher zurück und ich folgte ihr bereitwillig. Man sah auf den verlassenen Straßen und Wegen des Ortes nur selten Menschen. In die unberührte, weite, seelenruhige Natur verliebte ich mich dafür sofort nach der Ankunft hier. Mir half die Einsamkeit, das Fürmichsein, das ich dort erleben konnte, sehr bei der Eingewöhnung. Bald schon spazierte ich jeden Nachmittag, bis in die Abendstunden hinein, am Waldrand entlang und wagte mich immer ein kleines Stück weiter hinein als zuvor. Meine Frau hatte mich jedoch davor gewarnt, zu leichtsinnig in die Wälder vorzudringen. Ich würde mich dabei nur verirren und unnötigen Gefahren aussetzen, immerhin sei die Natur hier weit und tief, und mancherorts dunkler, als wir Städter es heute noch wüssten. Tatsächlich, so viel konnte ich mit Sicherheit aus meinen anfänglichen Beobachtungen schließen, schien es ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, den Wald möglichst zu meiden. Ich sollte den Grund dafür erst nach einiger Zeit erfahren, als ich einmal selbst im Dorf bei Schnaps und Bier mit einem der wenigen mir freundlich geneigten Dorfbewohnern zusammensaß. Das Klima, das heute herrschte, war keine dumpfe, aggressive Kälte, sondern vielmehr listig und stechend subversiv. Kalter Wind kroch mir durch Kragen und Ärmel hindurch, in die Kleidung hinein und am Körper entlang. Mittlerweile war es stockfinster geworden. Und obwohl ich mir selbst sonst sehr gewissenhaft vorschrieb, mich niemals zu weit von den hinter mir rauchenden Schornsteinen und den sonst so deutlich durch die Baumreihen schimmernden Lichtern des Dorfes zu entfernen, das um diese Jahreszeit unter dichter Schneedecke lag, war jetzt, wenn ich mich umwandte, kein Fetzen des schützenden Siedlungsrandes mehr zu sehen. Schnee wirbelte vor meinen Augen umher. Der Wind pfiff kreischend zwischen den Ästen der Bäume und Büsche hindurch. Im schwachen Mondschein riss das Geäst bedrohliche Gesten und Fratzen, oder zumindest schien es mir in der Dunkelheit so. Der tiefste Winter hatte uns also selbst hier, am Rande der Welt, nun doch noch wahrhaftig erreicht und überzog die ganze Landschaft ohne Mühe. Seine Schneeböen fraßen den ganzen Wald um mich herum förmlich auf und nahmen mir bald die Sicht. Ein Schneesturm war aufgezogen und hatte jetzt auch mich mit eiskaltem Atem verschlungen. Ich war orientierungslos. Verirrt. Verwirrt. Verloren. Doch lief ich beständig weiter, schneller und schneller. Auch, um der Kälte zu entkommen. Immer weiter, mit jedem Schritt heftiger, stampfte ich durch den knöchelhohen Schnee, tiefer und noch tiefer in den Wald hinein. Den Waldweg musste ich schon vor einer Weile verlassen haben und irrte nun ohne den geringsten Anhaltspunkt quer durch die wachsenden Schneemassen umher. Mir kamen bald die alten Geschichten über den Wald in den Sinn, die man seit meiner Ankunft hier wieder und wieder im Dorf erzählte. Die Leute sprachen darüber nicht direkt zu mir, aber sie ließen wie unabsichtlich zu, dass ich ihre Worte belauschte, im Wirtshaus, auf dem Markt. »Es werden wieder Tiere gerissen. Heute früh erst wurde ein Kalb gefunden. Kopf und Schulterblatt herausgerissen.« »Man fand das Tier verstümmelt auf der Heide, der Schnee rot vom Blut des Angriffs.« »Vor ein paar Tagen ist schon ein Pferd im Stall des Bauern W. ausgeweidet worden. Es wurde mit offener Bauchdecke und herausgezerrten Innereien gefunden.« »Wir haben das doch schon einmal erlebt.« »Die Angriffe häufen sich …« »… es ist zu befürchten, dass die Vorfälle sich auch in Zukunft wiederholen.« »Und mit ihnen könnte das zurückkehren, was hier mittlerweile nur noch als der ›Leidenswinter‹ bezeichnet wird«, erklärte mir schließlich ein gealterter Prokurist der Dorfverwaltung, als wir eines Abends im Gasthof des Dorfes zusammensaßen. Er war einer der wenigen Freunde, die ich hier schon gefunden hatte. Ein weiterer Rechtsbeistand sei hier dringend von Nöten, sagte er. So begann ich, dem alten Prokuristen, der vorher ganz allein das Mindeste beisammengehalten hatte, in der Dorfverwaltung zur Hand zu gehen. Man musste endlich die Unmengen alter Akten und ungeklärter Rechtsangelegenheiten aufarbeiten. Eine Menge ungeordneter Akten, Papiere, Gerichtssachen wartete auf Sichtung und Archivierung. Man scherte sich hier normalerweise nicht viel um solche Dinge. Angefangen, so erzählte der Prokurist mir während unserer stundenlangen Sortierarbeiten, habe alles vor ungefähr einem Monat mit dem plötzlichen Verschwinden einer ganzen Schar von Lämmern über Nacht, von denen am darauffolgenden Tage nur noch die zerrissenen Knochen und Wollfetzen gefunden wurden. Nun wiederhole sich dieser nächtliche Angriffszyklus. Angeblich seien die Bauern dieser Gegend vor Jahren, mehreren Jahrzehnten schon, Opfer ähnlicher Übergriffe geworden. Über viele Jahre hinweg hätte »irgendetwas« oder »irgendjemand« die Viehbestände dezimiert. Ganze Familien und Höfe seien daran zugrunde gegangen. Dann plötzlich hätten die Angriffe aufgehört. Bis heute könne sich niemand die Geschehnisse von damals erklären. Ebenso wenig, wieso sie endeten und wieso sich gerade nun, nach etlichen Jahren, erneut vergleichbare Vorfälle häuften. Es sei zudem nicht bekannt, um welche Art von Angreifer es sich damals gehandelt habe und heute wieder handeln müsse. »Die Spuren passen zu keinem hier heimischen Tier und sind sogar zu groß für einen herkömmlichen Luchs oder Wolf. Man kann nicht davon ausgehen, dass das Tier nur zum Überleben jagt«, hieß es in einem alten Bericht, den ich bei meiner Arbeit unter den staubigen Akten eines hohen, wankenden Stapels fand. Dazu, hieß es in den Papieren weiter, ginge es, was es auch sein mochte, viel zu verschwenderisch vor, zu lustgetrieben. Die Kampfspuren seien zu brutal, die Bisse zu gezielt. Auch das wahllose Beuteschema deute eher darauf hin, als töte das Tier gänzlich nur aus Spaß oder Genuss am Töten. Mir konnte niemand sagen, wer den besagten Bericht verfasst hatte, oder wie er unter dem staubigen Stapel vergessen werden konnte. »Die Stallungen sind nachts immer verschlossen, sogar Wachposten stellten wir bald nach dem ersten Angriff auf, also haben wir es hier mit einem durchtriebenen Biest zu tun. Ja, ihr Großstadtmenschen glaubt an so was nicht mehr, ihr habt den Sinn für diese Zeichen verloren, aber etwas Böses weidet sich dort vor unseren Fenstern«, warnte mich der Prokurist mit seinen müden, alten, aber jetzt weit aufgerissenen Augen. Die Kadaver befanden sich zu dieser Zeit gerade zur pathologischen Untersuchung in einer entfernten städtischen Universität. »Es bleibt doch erst einmal abzuwarten, was die Untersuchungen zutage fördern«, sagte ich ihm, als ich mich verabschiedete und meinen Mantel und Hut nahm. »Nichts! Nichts werden die finden, die elenden Quacksalber und Städter!«, polterte er hinter mir her. Ich stieß die schwere Holztür auf, der Schneewind schlug mit entgegen. Bevor ich hinaustrat, wandte ich mich noch einmal zu ihm um und richtete mir den Kragen möglichst eng und warm: »Wir werden sehen. Noch bin ich wohl keiner von euch. Behaltet euren starren Aberglauben noch einen Moment. Haltet ihn fern von mir. Er taugt mir noch zu nichts, als zur schauerhaften Belustigung am Kaminfeuer!« Eine unheimliche Geschichte war es wirklich, schoss es mir jetzt durch den Kopf. Ein böses Wesen, ein dämonisches Tier, das angeblich schon seit Jahrzehnten in den Tiefen der dunklen Wälder lebte. Das Böse habe das Dorf niemals aus den Klauen gelassen, sich immerzu im Wald versteckt und dort überdauert, hieß es. Nur deshalb meide jeder Dorfbewohner den Wald so furchtsam. Damit aber nicht genug, denn nicht nur Tiere seien dem Wesen damals zum Opfer gefallen, auch ganze Familien habe man mit süßesten Stimmen, den Sirenengesängen ihrer Liebsten, damals in die Dunkelheit der Nacht gelockt. Daraufhin hatten die Dorfbewohner provisorische Barrikaden am Rande des Dorfes aufgezogen. Viehwägen, Pflüge und dergleichen zu einem Wall angehäuft. Sie stellten Wachposten auf, ließen Fackeln die Nacht hindurch brennen, verhängten Ausgangssperren, doch half es nichts. Man sah viele vertraute Gesichter nie wieder. So ging es, bis die Angriffe dann...