E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Grisham Das Gesetz
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-11037-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stories
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-11037-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sein persönlichstes Buch!
Inez Graney scheut keine Mühe, um ihren Sohn zu besuchen. Seit elf Jahren sitzt Raymond im Todestrakt. Seine Brüder, die ihre Mutter stets begleiten, halten Raymond für einen schrägen Vogel. Oft muss Inez zwischen ihren Söhnen vermitteln. So auch diesmal, an diesem besonderen Besuchstag, an dem Raymond Graney hingerichtet wird. John Grisham erzählt Stories, die den Leser ins Herz treffen, und schafft Figuren, die man nie mehr vergisst. Ein Meisterwerk!
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
Weitere Infos & Material
RAYMONDS HEIMKEHR MR. MCBRIDE FÜHRTE SEINE POLSTEREI im alten Eiskeller in der Lee Street, nur ein paar Straßen entfernt vom zentralen Platz der Stadt Clanton. Zum Abholen und Liefern seiner Sofas und Sessel benutzte er einen weißen Ford-Transporter, auf dem in großen schwarzen Buchstaben der Schriftzug »McBride Upholstery« prangte, darunter eine Telefonnummer und die Adresse. Der Wagen, immer sauber geputzt und nie zu schnell unterwegs, war ein vertrauter Anblick in Clanton. Mr. McBride war ziemlich bekannt, weil er der einzige Polsterer in der Stadt war. Er verlieh sein Auto selten, obwohl er ständig Anfragen bekam. Üblicherweise antwortete er höflich: »Nein. Ich habe Liefertermine.« Zu Leon Graney allerdings sagte er Ja, und zwar aus zwei Gründen. Erstens waren die Umstände, die mit der Bitte zusammenhingen, einigermaßen ungewöhnlich, und zweitens war Leons Chef in der Lampenfabrik ein Cousin dritten Grades. Und da Kleinstadtbeziehungen nun eben so sind, wie sie sind, stand Leon Graney an einem heißen Mittwochnachmittag Ende Juli pünktlich um vier Uhr wie verabredet vor der Polsterei. Die meisten Bewohner von Ford County hörten regelmäßig Radio, und es war weitläufig bekannt, dass es bei den Graneys nicht gut lief. Mr. McBride ging mit Leon zum Wagen, übergab ihm die Schlüssel und sagte: »Pass gut darauf auf.« Leon nahm den Schlüssel. »Herzlichen Dank.« »Ich hab vollgetankt. Sollte für Hin- und Rückweg reichen.« »Was bin ich Ihnen schuldig?« Mr. McBride schüttelte den Kopf und spuckte auf den Kies neben dem Transporter. »Nichts. Das geht auf mich. Bring ihn vollgetankt wieder.« »Mir würde es bessergehen, wenn ich Ihnen was dafür geben könnte«, protestierte Leon. »Nein.« »Also dann, vielen Dank noch mal.« »Morgen gegen zwölf brauch ich ihn wieder.« »Dann wird er wieder da sein. Kann ich meinen Wagen hierlassen?« Leon nickte in Richtung eines alten japanischen Pick-ups, der auf dem Grundstück parkte, eng verkeilt zwischen zwei anderen Wagen. »Kein Problem.« Leon öffnete die Tür des Transporters und stieg ein. Er ließ den Motor an und justierte den Sitz und die Spiegel. Mr. McBride trat an die Fahrertür, zündete sich eine filterlose Zigarette an und musterte Leon von der Seite. »Manche von den Leuten hier finden es nicht in Ordnung, weißt du«, sagte er. »Danke. Aber den meisten ist es egal.« Leon war mit den Gedanken woanders und hatte keine Lust auf Smalltalk. »Ich persönlich finde es auch nicht in Ordnung.« »Danke. Ich bin morgen vor zwölf wieder da«, sagte Leon leise, dann stieß er mit dem Wagen zurück und lenkte auf die Straße hinaus. Er rückte sich auf seinem Sitz zurecht, testete die Bremsen und beschleunigte vorsichtig, um zu sehen, was der Motor an Leistung brachte. Zwanzig Minuten später war er schon weit von Clanton entfernt, inmitten der Hügellandschaft im Norden von Ford County. Hinter der kleinen Siedlung Pleasant Ridge wechselte der Straßenbelag zu Schotter, und die Häuser wurden kleiner und lagen weiter auseinander. Leon bog in eine kurze Einfahrt ein. Sie führte zu einem würfelförmigen Häuschen, an dessen Türen Unkraut wucherte und dessen Bitumenschindeldach dringend erneuert gehörte: das Zuhause der Graneys. Hier war er mit seinen Brüdern zusammen aufgewachsen, es war die einzige Konstante in ihrem traurigen und chaotischen Leben. Eine klapprige Rampe aus Pressholz lag vor der Seitentür, damit seine Mutter, Inez Graney, mit dem Rollstuhl hinauf- und hinabfahren konnte. Als Leon den Motor abstellte, öffnete sich die Seitentür, und Inez rollte auf die Rampe heraus. Hinter ihr folgte die wuchtige Gestalt ihres mittleren Sohnes Butch, der immer noch bei seiner Mutter lebte, weil er nie woanders gelebt hatte, jedenfalls nicht in der freien Welt. Sechzehn von seinen sechsundvierzig Jahren hatte er hinter Gittern verbracht, und man sah ihm die kriminelle Karriere an – langer Pferdeschwanz, Ohrstecker, jede Menge Gesichtsbehaarung, massive Oberarme und eine Sammlung billiger Tätowierungen, die ihm ein Gefängniskünstler gegen Zigaretten gemacht hatte. Trotz seiner Vergangenheit ging Butch mit seiner Mutter und ihrem Rollstuhl liebevoll und sorgsam um. Er sprach leise mit ihr, während sie die Rampe passierten. Leon sah wartend zu, ehe er zur Rückseite des Transporters ging und die zweiflüglige Türe öffnete. Zusammen mit Butch hob er die Mutter vorsichtig hoch und setzte sie auf der Ladefläche ab. Butch schob sie bis zu der halbhohen Abtrennung, vor der die beiden Frontsitze im Boden verankert waren. Leon befestigte den Rollstuhl mit Packband, das jemand bei McBride im Wagen liegengelassen hatte, und als Inez sicher saß, stiegen ihre Söhne ein. Die Fahrt konnte beginnen. Innerhalb weniger Minuten waren sie wieder auf der Asphaltstraße und fuhren einer langen Nacht entgegen. Inez war zweiundsiebzig, dreifache Mutter, mindestens vierfache Großmutter, eine einsame, alte Frau mit nachlassender Gesundheit, die sich nicht erinnern konnte, wann es das Schicksal zuletzt gut mit ihr gemeint hatte. Obwohl sie sich selbst seit fast dreißig Jahren als alleinstehend betrachtete, war sie, zumindest soweit sie wusste, nie offiziell von dem miesen Kerl geschieden worden, der sie mit siebzehn praktisch vergewaltigt und mit achtzehn geheiratet hatte, dem Vater ihrer drei Söhne, der zum Glück recht schnell von der Bildfläche verschwunden war. Wenn sie hin und wieder betete, vergaß sie nie, die aufrichtige Bitte anzufügen, dass Ernie sich von ihr fernhalten möge und dort bleiben solle, wohin ihn sein erbärmliches Leben geführt habe, sofern dasselbe nicht schon auf irgendeine schmerzliche Weise geendet hatte. Davon träumte sie in Wahrheit, auch wenn sie den Herrn nicht zu bitten wagte, dafür Sorge zu tragen. Ernie war an allem schuld – an ihrem schlechten Gesundheitszustand, ihrer Armut, ihrem primitiven Leben, daran, dass sie in völliger Abgeschiedenheit lebte, keine Freunde hatte und von ihrer eigenen Familie verachtet wurde. Was sie ihm jedoch am meisten verübelte, war die verabscheuungswürdige Art und Weise, wie er seine Söhne behandelt hatte. Sie im Stich zu lassen, war eine Gnade gewesen nach den jahrelangen Misshandlungen. Als sie den Highway erreicht hatten, brauchten alle eine Zigarette. »Ob das McBride was ausmacht, wenn wir hier drin rauchen?«, fragte Butch. Er konsumierte drei Päckchen am Tag und nestelte schon die ganze Zeit an seiner Hosentasche herum. »Hier ist schon mal geraucht worden«, sagte Inez. »Es muffelt wie in einem Teerloch. Ist die Klimaanlage an, Leon?« »Ja, aber man merkt nichts davon, wenn die Fenster offen sind.« Ohne weitere Rücksicht darauf, ob Mr. McBride das Rauchen in seinem Wagen gestattete oder nicht, pafften sie alsbald bei geöffneten Fenstern, während der warme Wind hereinfuhr und im Inneren herumwirbelte. Sobald er im Wagen war, konnte er nirgends mehr hinaus, es gab keine anderen Öffnungen, keine Lüftungsschlitze, und so fegte er hin und her und umtoste die drei Graneys, die stur auf die Straße blickten und rauchten, als wäre alles andere unbedeutend, während der Transporter über den Highway holperte. Butch und Leon hielten gelegentlich ihre Kippen nach draußen, damit der Wind die Asche wegblies. Inez klopfte sie vorsichtig in ihre gekrümmte linke Hand. »Wie viel wollte McBride für das Ausleihen?«, fragte Butch, der auf der Beifahrerseite saß. Leon schüttelte den Kopf. »Nichts. Er hat sogar vollgetankt. Meinte, dass er es nicht in Ordnung findet. Und dass andere es auch nicht in Ordnung finden.« »Weiß nicht, ob ich das glaube.« »Ich glaub’s nicht.« Als die drei Zigaretten geraucht waren, kurbelten Leon und Butch die Fenster hoch und drehten an Klimaanlage und Lüftung herum. Zunächst blies nur heiße Luft heraus, und es vergingen Minuten, bis es kühler wurde. Alle drei schwitzten. »Geht’s dir gut da hinten?«, fragte Leon mit einem Blick über die Schulter und lächelte seiner Mutter zu. »Mir geht’s bestens. Danke. Funktioniert die Klimaanlage?« »Ja, es wird schon kühler.« »Ich merke nichts.« »Sollen wir halten und Wasser trinken oder so?« »Nein. Nur schnell weiter.« »Ich könnte ein Bier vertragen«, sagte Butch. Als hätten sie schon mit so etwas gerechnet, schüttelte Leon sofort den Kopf, und Inez stieß ein nachdrückliches Nein aus. »Es wird nicht getrunken«, sagte sie, und damit war der Fall erledigt. Als Ernie die Familie vor Jahren verlassen hatte, hatte er nichts mitgenommen außer seiner Flinte, ein paar Klamotten und sämtlichen Schnaps aus seinem persönlichen Vorrat. Er war gewalttätig gewesen, wenn er betrunken war. Seine Söhne hatten schwere Narben davongetragen, körperlich und seelisch. Leon, der Älteste, hatte die Brutalität stärker mitbekommen als seine jüngeren Brüder, und als kleiner Junge hatte er Alkohol mit den Schrecken eines hemmungslosen Vaters gleichgesetzt. Er hatte sein Leben lang keinen Tropfen angerührt, später allerdings andere Laster für sich entdeckt. Butch dagegen trank schon seit seiner frühen Teenagerzeit, wobei er sich nie hatte hinreißen lassen, Alkohol ins Haus seiner Mutter zu schleusen....