E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Grolimund / Rietzler Ich liebe dich, so wie du bist
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-83111-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gefühle unserer Kinder verstehen, annehmen und liebevoll begleiten
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-451-83111-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kinder bedingungslos lieben
Die Überzeugung, dass wir unsere Kinder möglichst bedingungslos lieben und annehmen sollten, ist relativ neu und sorgt für hitzige Diskussionen. Manche Eltern vertreten den Standpunkt, dass damit jegliche Führung verloren ginge und sich die Kinder zu unsäglichen Tyrannen entwickeln würden. Das klingt dann oft so: »Ja schön und gut – aber soll ich etwa alles gutheißen, was mein Kind tut, und ihm alles durchgehen lassen? Und was, wenn es stiehlt, andere mobbt oder auf der faulen Haut liegt?« Für andere Mütter und Väter ist bedingungslose Liebe das Allheilmittel schlechthin, der Weg zu einer besseren und friedlicheren Menschheit. Sie sehen sie als Grundvoraussetzung, damit sich Kinder überhaupt positiv entwickeln können. Manchmal gipfelt dies in einer problematischen Ideologie: dann werden alle Probleme in anderen Familien auf die scheinbar mangelnde Liebe zurückgeführt. Oder man verurteilt und greift Eltern an, weil sie das Elternsein auch mal anstrengend finden, mit bestimmten Eigenschaften ihres Kindes hadern oder sich gewisser Erziehungspraktiken bedienen wie Konsequenzen, Belohnungen oder Lob. Doch was ist bedingungslose Liebe?
Das Konzept geht auf den US-amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers zurück. Dieser begründete in den 1960er-Jahren die Gesprächspsychotherapie und formulierte drei Bedingungen, die in Beziehungen gegeben sein sollten, damit sich Menschen entfalten können: Bedingungslose Wärme und Wertschätzung, Echtheit sowie Empathie. Als Humanist ging er davon aus, dass wir alle autonom und frei sind, dass wir wachsen, uns weiterentwickeln und verwirklichen möchten. Damit uns dies gelingt, benötigen wir andere Menschen, die sich in uns einfühlen, die Welt ein Stück weit aus unserer Sicht wahrnehmen, uns mit Wärme und Verständnis begegnen und dabei authentisch bleiben. Von solchen Erwachsenen lernen Kinder, Zugang zu den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen zu finden und zu entdecken, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Bleiben die Bezugspersonen auch bei unangenehmen Empfindungen zugewandt, wird es den Kindern leichterfallen, sich selbst und ihre Gefühlswelt anzunehmen. Das Gegenteil einer bedingungslosen Liebe wäre eine an Bedingungen geknüpfte Liebe: Ich liebe dich nur, wenn du so bist und dich so verhältst, wie ich das will. Dabei müssen wir uns die Zuneigung unseres Gegenübers verdienen, indem wir uns an seine Vorstellungen anpassen und zur Not bestimmte Anteile unserer Persönlichkeit verleugnen. Das kann in der Folge zur Empfindung führen, nicht richtig oder nicht gut genug zu sein und ständig an sich arbeiten zu müssen, um von anderen akzeptiert zu werden. Ist es möglich, bedingungslos zu lieben?
Die meisten von uns möchten ihren Kindern bedingungslose Liebe schenken. Das ist in engen Beziehungen jedoch schwierig und wird uns nie vollständig gelingen – und das muss es auch nicht. Carl Rogers definierte sein Konzept für die Therapiebeziehung. Dort ist es einfacher, bedingungslos wertschätzend zu bleiben, weil die Bedürfnisse und das Verhalten der Hilfesuchenden das Leben der Beratenden nicht betreffen. Um es plastisch auszudrücken: Der Satz »Ich bin fremdgegangen« hat eine ganz andere Wirkung, je nachdem, ob ihn eine Klientin oder der eigene Partner äußert. Als Eltern haben wir Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an und für unsere Kinder. Wir alle freuen uns, wenn unser Kind sich anderen gegenüber hilfsbereit zeigt, dem kleinen Geschwister liebevoll begegnet, im Spiel versinkt und sich auch einmal alleine beschäftigen kann, gerne zur Schule geht und sich für vieles interessiert. Und für viele von uns wäre es schwierig, wenn sich das eigene Kind aggressiv und gemein verhält, andere auslacht, das kleine Geschwister vor lauter Eifersucht heimlich quält, desinteressiert und passiv wirkt und nichts mit sich anzufangen weiß. Bedingungslose Liebe bedeutet nicht, dass wir sämtliche unangenehmen Gefühle in uns unterdrücken müssten, nie enttäuscht, verärgert oder beschämt über das Verhalten des Kindes sein dürfen. Es bedeutet auch nicht, alles zuzulassen. Vielmehr zeigt sich bedingungslose Liebe darin, dass wir auch in solchen Situationen interessiert und zugewandt bleiben und wissen möchten, weshalb sich unser Kind so fühlt und verhält. Maggie erzählt: Als unser Sohn geboren wurde, war die Ältere wie ausgewechselt. Alina war bis dahin so ein zufriedenes, fröhliches und hilfsbereites Kind! Aber sobald ich mit dem Kleinen nach Hause kam, ging das Drama los. Sie war so eifersüchtig und wollte ihren Bruder am liebsten »zurückgeben«. Ich konnte sie keine Minute mit dem Säugling alleine lassen: Ich hatte echt Angst, dass sie ihm etwas antut. Ein paar Mal habe ich sie erwischt, wie sie ihn richtig fest gezwickt oder gehauen hat, wenn sie dachte, ich merke es nicht. Ich musste ständig gegen meine Gefühle ankämpfen! Aber manchmal kam ich einfach an meine Grenzen. Ein paar Mal war ich so sauer, dass ich meinen Sohn demonstrativ auf den Arm genommen und die Größere ignoriert habe, sogar als sie geweint und um Aufmerksamkeit gebettelt hat. Wie gelingt es uns, in solchen Momenten zugewandt zu bleiben? Der Schlüssel zu bedingungsloser Liebe ist Empathie: sie ermöglicht es uns, uns wieder mit dem Kind zu verbinden. Nicht, weil man alles gutheißen würde, was geschieht, sondern weil wir wissen wollen, welche Bedürfnisse und Gefühle hinter diesem herausfordernden Verhalten stecken. Beginne bei dir
Wenn es uns nicht gelingt, unser Kind anzunehmen, wenn wir es trotz guter Vorsätze ausgeschimpft, unter Druck gesetzt, abgewertet, bestraft oder ihm zumindest mit Konsequenzen gedroht haben, ist das schlechte Gewissen nicht weit. In diesen Situationen können wir bei uns beginnen und lernen, uns selbst Empathie und unbedingte Wertschätzung entgegenzubringen. Anstatt uns Vorwürfe zu machen und uns als schlechte Mutter oder unfähigen Vater zu verurteilen, können wir uns selbst mit mehr Verständnis begegnen: »Wenn ich unter Zeitdruck und gestresst bin, dann ärgere ich mich sehr, wenn mein Kind so lange braucht, bis es angezogen ist. Manchmal lasse ich mich dann zu Äußerungen hinreißen, die ich hinterher bereue.« »Ich habe es mir so schön und harmonisch vorgestellt, wenn das zweite Kind da ist, und darauf gehofft, dass sich Alina auf ihr Geschwisterchen freut. Aber jetzt ist sie so eifersüchtig! Ich bin richtig enttäuscht.« »Ich war heute oft wütend und habe viel geschimpft. Ich fühle mich im Moment überfordert und alleine gelassen.« »Ich hätte nicht gleich den Teufel an die Wand malen müssen, als Carlo mir diese schlechte Deutschnote gezeigt hat. Ich glaube, ich habe einfach Angst bekommen und mir so viele Sorgen um seine Zukunft gemacht. Deswegen habe ich so heftig reagiert.« Mit der Zeit bemerken wir immer schneller, welche eigenen Gefühle, Sorgen, manchmal auch Verletzungen aus der Kindheit hinter unseren Reaktionen stecken. Wir registrieren öfter, wo wir überreagieren und wo es hilfreicher wäre, eigene Erwartungen zu hinterfragen, anstatt vom Kind einzufordern, dass es sich anpasst. Damit uns die Forderung nach bedingungsloser Liebe nicht unter Druck setzt, dürfen wir sie als Geschenk sehen, das wir unseren Kindern immer wieder machen können. An manchen Tagen gelingt uns das besser, an anderen schlechter. Wichtig ist, dass unsere Kinder merken, dass wir uns immer wieder darum bemühen. Übung: Nimm das Beste an! Wir möchten dir an dieser Stelle eine kleine, aber wirksame Übung vorstellen. Sie hilft dir dabei, dich mit deinem Kind zu verbinden und auch in anspruchsvollen Situationen mit ihm in Beziehung zu bleiben. Vielleicht ist dir bereits aufgefallen, dass wir dann besonders wütend oder enttäuscht auf unsere Kinder reagieren, wenn wir ihnen negative oder böswillige Absichten unterstellen. Unser Kind hat einen Wutanfall und wir denken – weil wir selbst gestresst sind –, dass es uns damit provozieren oder einen Machtkampf ausfechten will. Es trödelt morgens und wir unterstellen ihm, dass es sich »querstellt« und uns auf die Palme bringen möchte. Es mäkelt am Essen herum und wir denken: »Wie verwöhnt und undankbar! Ich stehe eine Stunde in der Küche und achte auf eine gesunde Ernährung und das ist nun der Dank?!« Es ist ganz normal, dass sich solche Gedanken aufdrängen, wenn uns der Gefühlsstrudel der Kinder mitreißt. Rückwirkend, wenn wir ruhiger und entspannter sind, kann es uns aber gelingen, solche Situationen anders zu betrachten. Dazu setzen wir eine andere Brille auf und gehen – versuchsweise – davon aus, dass unser Kind nicht böswillig handelt, sondern es einen guten Grund für sein Verhalten gibt. Vielleicht wurde ein wichtiges Grundbedürfnis des Kindes übergangen oder frustriert? Möglicherweise war es müde oder hungrig und deswegen so gereizt? Alinas Mutter machte sich die folgenden Gedanken über die Eifersucht ihrer Tochter: Ich bin ziemlich enttäuscht, dass Alina so eifersüchtig ist. Aber ehrlicherweise habe ich jetzt viel weniger Zeit für sie und sie muss oft warten. Wahrscheinlich hat sie wirklich Angst, dass ich sie nun nicht mehr so sehr liebe oder mir ihr kleiner Bruder wichtiger ist. Ich bin tatsächlich ungeduldiger mit ihr und schimpfe häufiger. Bestimmt sehnt sie sich zurück nach der Zeit, in der sie mich ganz für sich allein hatte. Diese Übung kann uns auf drei verschiedene Arten dabei unterstützen, unseren Kindern näherzukommen: Vielleicht sprechen wir im Nachhinein mit unserem Kind und teilen ihm unsere Überlegungen mit. Kindern tut es oft auch hinterher...