E-Book, Deutsch, Band 4, 995 Seiten, E-Book
Reihe: Finanz und Steuern
Große / Lotz / Ziegler Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung
23. vollständig überarbeitete Auflage 2024
ISBN: 978-3-7910-5730-9
Verlag: Schäffer-Poeschel Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 4, 995 Seiten, E-Book
Reihe: Finanz und Steuern
ISBN: 978-3-7910-5730-9
Verlag: Schäffer-Poeschel Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Band enthält gut strukturierte Antworten auf alle Fragen zum steuerlichen Verfahrensrecht in Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung. Verweise auf Verwaltungsanweisungen und Rechtsprechung ermöglichen eine weitergehende Recherche. Damit liefert der Band alles, was für die Ausbildung zum Diplom-Finanzwirt und zur Diplom-Finanzwirtin sowie zur Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung relevant ist.
In der Praxis ist es ein nützliches Nachschlagewerk, das in kompakter Form gezielte Informationen bietet. In der Neuauflage mit allen wichtigen Rechtsänderungen, u.a. durch MoPeG.
Rechtsstand: 1. April 2024
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10.6 Sonstige Grundprinzipien
Treu und Glauben 74 Der Grundsatz von Treu und Glauben wird abgeleitet aus §§ 157 und 242 BGB und gilt nach ganz h.?M. im gesamten Rechtsleben, also auch im Steuerrecht. Treue bedeutet hier ein auf Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Rücksichtnahme beruhendes Verhalten gegenüber einem anderen. Glauben ist das Vertrauen auf ein solches Verhalten. Ganz allgemein ausgedrückt folgt aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, dass im Rechtsverkehr jeder auf die berechtigten Interessen des anderen Rücksicht zu nehmen hat und sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten, auf das der andere berechtigterweise vertraut hat, nicht in Widerspruch setzen darf (vgl. BFH 09.08.1989, BStBl II 1989, 990 m. w.Nw.). Der Grundsatz gilt im konkreten Steuerrechtsverhältnis sowohl für das Verhalten der Finanzbehörde als auch für das Verhalten des Steuerpflichtigen (BFH 17.06.1992, BStBl II 1993, 174). Grundschema von Treu und Glauben Voraussetzungen: Ein bestimmtes Verhalten der einen Seite (FA oder Stpfl.), das einen Vertrauenstatbestand setzt und die Ursächlichkeit dieses Verhaltens für Dispositionen (Handlungen oder Unterlassungen) der anderen Seite (Stpfl. oder FA), die nicht mehr rückgängig gemacht werden können oder deren Rückgängigmachung nicht zuzumuten ist. Rechtsfolge: Ausschluss oder Begrenzung der Geltendmachung eines an sich bestehenden Rechts der einen Seite. 75 Allerdings ist der Anwendungsbereich von Treu und Glauben so unklar, dass über den Einzelfall hinaus kaum generelle Aussagen über die Voraussetzungen und Rechtsfolgen dieses Grundsatzes gemacht werden können. Der BFH benutzt den Grundsatz von Treu und Glauben, um in bestimmten Fallkonstellationen punktuell zu einem billigen (gerechten) Ergebnis zu kommen. Treu und Glauben führt in bestimmten Fällen z.?B. zu einem Verbot von widersprüchlichem Verhalten, zu einem Verbot der Geltendmachung von Rechten, die aus gesetz- oder pflichtwidrigem Verhalten entstanden sind (Rechtsmissbrauchsverbot) oder zum Verbot der rücksichtslosen und unangemessenen Verfolgung der eigenen Interessen. 76 Bei der Anwendung von Treu und Glauben im Steuerrecht ist höchste Zurückhaltung geboten: In keinem Fall darf dieser Grundsatz allgemein das Gesetz außer Kraft setzen und Gefühlsjurisprudenz an die Stelle des Gesetzes setzen. Das Prinzip von Treu und Glauben ist subsidiär. Bevor seine Anwendung geprüft wird, sind zunächst sämtliche in Betracht kommenden gesetzlichen Vorschriften daraufhin zu untersuchen, ob sie zu einer Lösung des Falles führen. Beispiele Der steuerlich unerfahrene A legt Einspruch gegen einen ESt-Bescheid ein, weil bestimmte von ihm geltend gemachte Aufwendungen nicht als Werbungskosten anerkannt worden sind. Der zuständige Sachbearbeiter teilt ihm mit, der Einspruch sei ohne jede Aussicht auf Erfolg, und bittet den A aus diesem Grund, den Einspruch zurückzunehmen. A tut dies. Vier Monate später erfährt er, dass die Aufwendungen nach der Rechtsprechung doch als Werbungskosten abzugsfähig sind. Daraufhin bittet er erneut um Berücksichtigung seiner Aufwendungen. Lösung: A hat hier auf die Mitteilung des Sachbearbeiters vertraut und insoweit Dispositionen getroffen. Er hat seinen Einspruch zurückgenommen (§ 362 Abs. 1 AO). Diese Rücknahme kann als prozessuale Handlung nicht angefochten werden. Allerdings ist es dem FA nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Rücknahme zu berufen. Der Einspruch ist also weiter anhängig. Das FA muss einen Abhilfebescheid zugunsten des A erlassen (§ 367 Abs. 2 Satz 3 AO). B stirbt in 04. Alleinerbe ist E. E teilt dem FA mit, dass B verstorben sei und dass die für B bestimmten Steuerbescheide an seine Adresse zu senden seien. In der Einkommensteuersache 01 des B ergeht in 06 ein Änderungsbescheid, der wie folgt adressiert wird: »An Herrn B, z. H. d. Herrn E«, Adresse des E. Die nachzuzahlende Steuer i.?H.?v. 9?000 € wird von E entrichtet. Wegen Unklarheiten hinsichtlich der Einkünfte des B in 01 legt E Einspruch ein. Im Einspruchsverfahren wird der ESt-Bescheid 01 mehrfach geändert und immer – wie oben dargestellt – adressiert. Auch E benutze in seinen Schreiben die Formulierung »in der Einkommensteuersache des verstorbenen Herrn B«. Erst im Jahre 16 macht E geltend, dass die Änderungsbescheide aufgrund der falschen Adressierung unwirksam seien und fordert die Erstattung der gezahlten 9?000 €. Lösung: E hat einen Anspruch auf Erstattung der 9?000 € aus § 37 Abs. 2 AO. Der Änderungsbescheid ist aufgrund der falschen Adressierung mangels inhaltlicher Bestimmtheit nichtig (unwirksam). Siehe dazu BFH 17.06.1992, BStBl II 1993, 174, 176. Allerdings ist E nach Treu und Glauben daran gehindert, den aus der Nichtigkeit des Änderungsbescheides abgeleiteten Erstattungsanspruch geltend zu machen (vgl. BFH 17.06.1992, BStBl II 1993, 174, 177). E hat den Adressierungsfehler mitverursacht, sich jahrelang damit abgefunden und ihn in seiner Korrespondenz mit dem FA auch aufrechterhalten. Wenn sich E nach einer solch langen Zeit des Rechtsfriedens allein zu Erstattungszwecken auf einen von ihm mitzuverantwortenden Bestimmtheitsmangel beruft, handelt er nach Auffassung des BFH rechtsmissbräuchlich. In den Jahren 16–20 hat das FA von C (Deutschlehrer) geltend gemachte Aufwendungen für belletristische Literatur als Werbungskosten anerkannt. Bei der Bearbeitung der Einkommensteuererklärung 21 wird der Fehler erkannt. Die von C erneut vorgebrachten Aufwendungen für Belletristik werden wegen § 12 Nr. 1 EStG in 21 nicht berücksichtigt. Lösung: Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt nicht vor. Nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung (§ 2 Abs. 7 EStG) sind die Grundlagen der Einkommensteuerfestsetzung jedes Jahr neu zu ermitteln. Das FA kann also von der (gesetzeswidrigen) Anerkennung der Aufwendungen des C als Werbungskosten ab 06 abweichen, ohne gegen Treu und Glauben zu verstoßen. 77 Nach ganz h.?M. entfalten sog. tatsächliche Verständigungen über schwierig zu ermittelnde Sachverhalte nach Treu und Glauben Bindungswirkung gegenüber dem FA und dem Stpfl., die sie getroffen haben (siehe dazu ausführlich Rz. 994 ff. und BMF-Schreiben vom 30.07.2008, BStBl I 2008, 831). Zwar sind Steuervereinbarungen (Steuerverträge, Steuervergleiche, Steuerabsprachen) nach einhelliger Auffassung unzulässig (Ausnahme öffentlich-rechtliche Verträge über die Hingabe von Kunstgegenständen an Zahlungs Statt, § 224a AO). Sie verstoßen gegen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO) und gegen die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung (§ 38 AO) und sind nichtig (vgl. BFH 05.10.1990, BStBl II 1991, 45, 46 m. w.Nw.). Für die tatsächlichen Verständigungen (also Verträge über Sachverhalte) besteht aber in der Besteuerungspraxis ein erhebliches Bedürfnis. Sie dienen der Effektivität der Besteuerung und dem Rechtsfrieden (vgl. BFH, BStBl II 1991, 673, 674). 78 Der Grundsatz von Treu und Glauben verbietet es dem FA, einen Bescheid gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten des Stpfl. zu ändern, wenn das FA die steuererhöhende Tatsache bei ordnungsgemäßer Ermittlung hätte kennen können bzw. kennen müssen. Siehe dazu ausführlich Rz. 2060 ff. und AEAO zu § 173 Nr. 4. Dadurch wird das Vertrauen des Stpfl. geschützt und verhindert, dass das FA Ermittlungsfehler nachträglich durch § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO heilt 79 Ein besonderer Anwendungsbereich von Treu und Glauben ist die Verwirkung von Rechten. Es handelt sich dabei um einen Fall des Verbots von widersprüchlichem Verhalten. Das die Verwirkung auslösende Verhalten ist ein Unterlassen oder Untätigsein. Macht der Steuerpflichtige oder das FA ein ihm zustehendes Recht über einen gewissen Zeitraum hin nicht geltend und kann der andere Teil berechtigterweise davon ausgehen, dass er nicht mehr in Anspruch genommen wird, verwirkt das Recht. Das Recht kann nicht mehr ausgeübt werden, obwohl es eigentlich noch nicht erloschen ist. Beispiele X legt Einspruch gegen den ESt-Bescheid 01 ein und erhält AdV i.?H. von 8 000 €. Der Einspruch wird vom FA nicht bearbeitet. X rührt sich im Kj 10 und meint die 8 000 € seien durch Zeitablauf verwirkt. Lösung: Dies ist vom BFH zutreffend verneint worden: Die Nichtbearbeitung eines Einspruchs über 9 Jahre führt für sich allein nicht zur Verwirkung (vgl. BFH 08.10.1986, BStBl II 1987, 12). Hinweis: Aufgrund der gewährten AdV ist der Zahlungsanspruch des FA nicht verjährt (vgl. § 231 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 AO). Nach § 171 Abs. 5 AO läuft die Festsetzungsfrist im Anschluss an Fahndungsmaßnahmen nicht ab, bevor die aufgrund der Ermittlungen zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind. Die Vorschrift regelt jedoch nicht, wie lang das FA Zeit hat, die Änderungsbescheide zu erlassen. Hat das FA dazu unbegrenzt Zeit? Lösung: Nein. Hier wendet der BFH nicht (wie die h.?M. in der Literatur) § 171 Abs. 4 Satz 3 AO analog an, sondern stellt auf den Eintritt der...