Günther | Zeit der großen Worte | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Günther Zeit der großen Worte


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8369-9210-7
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-8369-9210-7
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sarajevo - ein Wort mit einem wunderbar weichen Klang. Der vierzehnjährige Paul schnappt es im Vorübergehen auf. Doch was in seinen Ohren wie eine Zauberformel klingt, kündigt die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts an. Pauls Alltag ist geprägt von ganz anderen, von pathetisch aufgeladenen Worten, die die Kriegsbegeisterung schüren. Pauls Vater und sein bewunderter großer Bruder melden sich als Freiwillige. "Weihnachten sind wir wieder zu Hause!" Mit diesen Worten verabschieden sie sich. Doch alles kommt ganz anders als erwartet und Pauls Familie zerbricht fast an diesem Krieg, der sich vier Jahre hinziehen wird. Immer dringlicher wächst in Paul die Frage danach, wie seine Zukunft aussehen wird, danach, was sich hinter den großen Worten verbirgt, und welches seine, Pauls Worte, sein könnten.
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1
»Wer Angst hat, der bleibt da.« Erich sah von einem zum anderen. Bei mir blieb sein Blick stehen. Vor zwei Jahren vom Dorf gekommen, war ich noch längst keiner von ihnen. Zum ersten Mal war ich bei einer Sache dabei, die nichts mit Schule zu tun hatte. Einer verbotenen Sache. Einer »jugendgefährdenden« Sache. Ich hielt Erichs Blick stand. »Angst?«, sagte Gottfried und pustete verächtlich die Luft aus den Backen. »Phh!« Der kleine Nickel verdrehte die Augen, spuckte aus. »Dann los«, sagte Erich. Wir gingen über den Hinterhof, eine Steintreppe hinunter. Erich zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Kellertür. »Noch was«, sagte er nun flüsternd und hielt die Tür einen Spalt auf. »Wenn einer erwischt wird, ich meine allein, dann kennt er die anderen nicht. Ist das klar?« »Klar«, sagte Gottfried. »Habe dich nie gesehen«, murmelte Nickel. Ich nickte. Wir folgten Erich durch einen muffigen, finsteren Kellergang zu einer Holztreppe. Von oben drang dämmriges Licht herunter, von weit weg hörten wir Stimmen. »Ihr bleibt hier«, bestimmte Erich. »Kommt erst, wenn ich euch ein Zeichen gebe.« Immer zwei Stufen auf einmal stieg Erich die Treppe hinauf. Sein athletischer Körper schwang sich wie schwerelos nach oben, seine Füße berührten die Holzstufen nur kurz, keine quietschte. Eine Weile standen Gottfried, Nickel und ich am Fuße der Treppe und schwiegen. »Hast du so was schon mal gesehen?«, flüsterte Gottfried schließlich. Ich schüttelte den Kopf. »Wie denn?«, sagte Nickel. »Sein Dorf, das liegt doch hinter dem Mond.« Ich antwortete nicht. Oben an der Treppe tauchte jetzt Erich auf und winkte. »Nicht so laut, ihr Affen!« Wir schlichen uns die Treppe hinauf, ich als Letzter. Jede Stufe knarrte. Gottfried schickte einen entrüsteten Blick über die Schulter, als sei ich allein schuld an dem Knarrkonzert. Erich presste den Finger auf die Lippen. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet. Räuspern, Husten, gedämpfte Stimmen waren zu hören. Erich sah uns bedeutungsvoll an. »Mir nach«, flüsterte er. Mit federnden Schritten ging er voran, erst durch einen langen Gang, dann zweimal um Ecken, bis wir schließlich vor einer schmalen Tür standen. Erich sah sich noch einmal nach allen Seiten um, dann drückte er die Klinke hinunter, schob die Tür auf und schlüpfte in das Dunkel dahinter. Wir anderen folgten ihm, und nachdem Gottfried die Tür zugezogen hatte, war es stockfinster. »Absolute Ruhe jetzt!«, zischte Erich. Als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten wir die schemenhaften Umrisse von Kisten und Regalen, offenbar waren wir in einer Art Abstellraum gelandet. In der Ecke ganz hinten lauerte ein großes, schlafendes Tier, wahrscheinlich ein Kanapee. Und dann fiel ein flackernder Lichtstreifen in den Raum. Wie gebannt starrten wir alle darauf. Erich, der sich auskannte, hatte eine Klappe in der Wand geöffnet. Durch die Öffnung konnte man direkt auf die Kinoleinwand sehen. Die anderen hatten die besten Plätze vor dem Lichtspalt schnell besetzt. Ich fand eine Kiste, stellte mich darauf und hatte nun wirklich und wahrhaftig vor Augen, wovon sie mir vorgeschwärmt hatten und was zurzeit in aller Munde war: die bewegten Bilder auf der großen Leinwand, Menschen fast so groß wie im richtigen Leben. Und da, das Mädchen, das auf Knien rutschend die Treppe putzte, das musste sie sein, die berühmte Asta Nielsen. Sie sah aus wie ein Mädchen aus der Nachbarschaft, gar nicht vornehm oder verrucht, wie man sich eine Filmschauspielerin vorstellte. Trotzdem waren die meisten ihrer Filme, auch dieser, für Jugendliche verboten – wegen der Liebesszenen und dem zwielichtigen Milieu. In einem der Filme sollte sogar ihr nacktes Bein bis zum Knie zu sehen sein. Die Viktoria-Lichtspiele gehörten Erichs Onkel. Seit Wochen hatte Erich damit geprahlt, dass er alle Asta-Nielsen-Filme gesehen habe, die verbotenen sowieso. Gottfried und Nickel hatten das bezweifelt, und jetzt wollte Erich beweisen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Der Film an diesem Sonntagnachmittag hieß Die arme Jenny, und natürlich war Asta Nielsen die Jenny, das Mädchen, das die Treppe putzte. Ich war vom ersten Blick an von ihr gefesselt. Ihre großen Augen sahen mich an – Treppenputzen war bestimmt nicht das, was sie sich für ihr Leben gewünscht hatte. Aber der Mann, der um sie herumscharwenzelte, der meinte es nicht ehrlich, das brauchte mir niemand zu sagen. Der war ein Städter, ein Filou, ein Lebemann. Fast hätte ich ihr zugerufen: »Glaub ihm nicht, bitte, glaub ihm bloß nicht!« Aber die Bilder auf der Leinwand und die Schrift dazu liefen unerbittlich weiter. Dramatische Klaviermusik erfüllte den Raum. Der Filou gab der armen Jenny seine Visitenkarte, auf die er Ort und Zeit für ein Rendezvous geschrieben hatte. Und Jenny, die dumme Jenny, setzte alles daran, um sich mit dem losen Vogel zu treffen. Ihre Schwester Trude half ihr, sich aus dem Haus zu stehlen. Eduard Reinhold, so hieß der Lebemann, machte ihr schöne Augen und falsche Versprechungen. Zu Hause hatte der Vater längst alles erfahren. Er war ein harter, unerbittlicher Mann. Er verstieß seine Tochter. Jenny musste ihr Elternhaus verlassen, und Eduard Reinhold, der Lackaffe, dachte nicht daran, Jenny zu heiraten. Ratlos, voller Verzweiflung irrte sie durch die Stadt. Dunkle Klaviertöne deuteten an, dass die Sache ein böses Ende nehmen würde. Dann kicherte eine Frauenstimme, und eine tiefe Männerstimme sang: »Püppchen, du bist mein Augenstern. Püppchen, hab dich zum Fressen gern …« Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Stimmen Wirklichkeit waren und dass sie nicht aus dem Kinosaal, sondern vom Gang direkt vor dem Abstellraum kamen. Erschrocken fuhren wir herum und starrten auf die Tür. »Psst!«, machte die Männerstimme. »Nicht so laut!« Dann erstickten die Stimmen in Schmatz- und Grunzlauten. Erich hatte die Hand vor den Mund gepresst. Aus dem Kinosaal hörten wir aufgeregte Klaviertöne. »Grüne Neune!«, stöhnte Erich. »August. Mein Vetter. Der will hier rein. Das ist sicher.« »Los, verstecken!«, flüsterte Nickel. Aber wo? Die Kisten waren viel zu niedrig. »Hinter dem Kanapee!«, raunte Nickel. Aber Erich schüttelte den Kopf. »Zwecklos«, sagte er. »Kein Platz für vier.« Wir standen da und erwarteten das Unheil. Unten im Kinosaal waren alle Köpfe der armen Jenny zugewandt, die immer noch durch die Straßen der Stadt irrte. Leise wurde die Tür geöffnet. Vom Gang her schob sich ein fahler Lichtschein in den Raum herein, tuschelnde Stimmen näherten sich, ein großer schlanker Mann in der Uniform der Leibhusaren zog ein Mädchen in hellem Kleid und verrutschtem Pfauenfederhut hinter sich her. »Hier herein, mein süßes Püppchen …«, säuselte der Husar. Erich stieß Gottfried und Nickel mit den Ellenbogen in die Rippen. »Jetzt!«, zischte er. »Nichts wie raus!« Unvermittelt schnellte er nach vorn, sein langer Körper prallte gegen das überraschte Paar, der Husar stolperte über die Füße des Mädchens und Erich rannte an ihm vorbei zur Tür hinaus. Gottfried, Nickel und ich hinter ihm her. Wir rannten den langen Gang hinunter und waren schon um die Ecke, da hörten wir die dröhnende Stimme des Vetters hinter uns: »Erich, du verflixter Bengel! Na warte, das wird ein Nachspiel haben!« Wir rannten weiter, die knarrende Treppe hinunter, blieben einen Moment mit fliegendem Atem stehen und lauschten. Vetter August war uns nicht gefolgt. Wir grinsten und pusteten erleichtert Luft aus den Backen. »Der Windhund!«, sagte Erich. »Jetzt weiter. Sonst schnappt er uns doch noch.« »Erst mal hat der was Besseres zu tun«, lachte Gottfried. In meinem Kopf drehte sich alles. Stundenlang hätte ich Asta Nielsen noch zuschauen wollen. Ich war enttäuscht. Jetzt wusste ich nicht, wie die Geschichte ausging. Obwohl … es war vorauszusehen, dass sie traurig enden würde. In einem anderen Film, hatte Erich erzählt, sah man Asta Nielsen am Ende als Leiche in einem Kahn auf dem Wasser treiben. Über den Hinterhof rannten wir auf die Straße. Gottfried und Nickel stießen mit den Schultern gegeneinander. Die Angst war abgefallen. Das Abenteuer war bestanden. »Es war einmal ein treuer Husar, der liebt’ sein Mädchen ein ganzes Jahr …«, fing Nickel übermütig zu singen an. »Hör auf!«, sagte...


Günther, Herbert
Herbert Günther, geb. 1947, lebt in Friedland bei Göttingen. Nach einer Buchhandelslehre arbeitete er als Lektor sowie als Leiter einer Kinderbuchhandlung. Seit 1988 ist er freier Schriftsteller. Zusammen mit seiner Frau Ulli übersetzt er auch Kinder- und Jugendbücher aus dem Englischen ins Deutsche.
www.herbertguenther.de



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