E-Book, Deutsch, Band 590, 358 Seiten
Guse Bewegungskonstruktionen des Deutschen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-381-11033-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Korpusstudien zur Versprachlichung von Bewegungsereignissen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive
E-Book, Deutsch, Band 590, 358 Seiten
Reihe: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
ISBN: 978-3-381-11033-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Band zeigt anhand zweier Korpusstudien erstmals eine Bandbreite von Verben, die in Bewegungskonstruktionen des Deutschen auftreten können und kontrastiert diese Daten zu Versprachlichungsstrategien des Englischen und Schwedischen. Der Fokus wird auf bislang wenig systematisch erhobene Versprachlichungsstrategien gerichtet, wie etwa reflexive Konstruktionen (Sie kichern sich frisch verliebt durch die Gegend) oder Modalkonstruktionen (Sie wollen nach Hamburg). Aus Perspektive der Konstruktionsgrammatik wird die theoretische Frage aufgeworfen, wie die verschiedenen Konstruktionen auf dem Kontinuum zwischen Kompositionalität und Idiomatik zu verorten sind.
Laura Guse ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hildesheim.
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1.1 Phänomen
Die vorliegende Dissertation versucht sich dem Faszinosum sprachlicher Norm einerseits und sprachlicher Kreativität andererseits aus einer sprachgebrauchsbasierten Perspektive anzunähern. Eine der theoretischen Linien der vorliegenden Arbeit geht auf Coserius 1952 publizierten Aufsatz „Sistema, norma y habla“ zurück. Coseriu (1952) betont in seinem Aufsatz den Stellenwert der Untersuchung des tatsächlichen Sprachgebrauchs durch die Sprachwissenschaft. Damit rüttelt er an der Dichotomie von langue und parole und bereitet den Weg für einen sprachgebrauchsbezogenen Ansatz. Es zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Coserius Ideen allerdings, dass die Begriffe Norm und System weniger trennscharf sind als man denken möchte: Was als sprachliche Norm gilt, variiert womöglich in Abhängigkeit von Zeit, Raum und Individuum. Einen Beitrag, der sich der Untersuchung des tatsächlich realisierten Sprachgebrauchs verschrieben hat, bringt Patrick Hanks knapp 60 Jahre nach Coserius Papier mit seiner Theory of Norms and Exploitations in den Diskurs ein (Hanks 2013). Hanks beschreibt die Rolle der Korpuslinguistik für die sprachwissenschaftliche Theoriebildung und unterbreitet Vorschläge zur Deskription prototypischer und weniger prototypischer Versprachlichungsmuster. Ausgehend von einer empirisch ermittelten Norm können potenzielle Exploitationen beschrieben werden. Die vorliegende Arbeit folgt der Definition von Hanks (2013: 92): “A norm is a pattern of ordinary usage in everyday language with a particular meaning or implicature associated”. Unter Exploitationen werden unübliche Verwendungsweisen verstanden, deren Bildung eigenen Regeln folgt (vgl. Hanks 2013). Die Vorschläge von Hanks (2013) bilden einen weiteren Pfeiler der vorliegenden Arbeit. Auch die Strömung der kognitiven Linguistik (Lakoff 1987; Langacker 1987b; Talmy 2000a) und der Usage-based linguistics (Bybee 1985; Bybee 2002b, 2003, 2006; Bybee & Scheibman 1999; Diessel 2013; Langacker 2006, 2010) verhandelt die Frage nach sprachlichen Normen. Tomasello beschreibt Sprache als soziales Werkzeug und sprachliche Normen als eine soziale Norm unter vielen (Tomasello 2003). Goldberg lotet die Anforderungen an Sprache aus und verortet die Frage nach sprachlicher Norm im Spannungsfeld von Expressivität und Ökonomie (Goldberg 2019). Sprachliche Formen zeigen sich verschieden flexibel, was die Kombination mit neuen, noch nicht gehörten Kombinationen angeht. Man bezeichnet diese Eigenschaft als die Produktivität sprachlicher Zeichen. Es sind verschiedene Verfahren vorgeschlagen worden, das Konzept der Produktivität zu operationalisieren (Baayen 1989, 1992; Barðdal 2008; Evert & Lüdeling 2001; Zeldes 2012). Auf diese Überlegungen werden in der Dissertation zurückgegriffen, um auszuloten, wie sich das Verhältnis von Normen und Exploitationen am Gegenstand der Versprachlichung von Bewegungsereignissen modellieren lässt. Werden Bewegungsereignisse versprachlicht, werden die genutzten sprachlichen Zeichen im Rahmen der Konstruktionsgrammatik als Bewegungskonstruktionen bezeichnet, die dabei unterschiedliche Komplexitätsgrade aufweisen können. Bewegungsereignisse sind als Untersuchungsgegenstand besonders geeignet, da sie zentrale Komponenten der menschlichen Kognition darstellen (vgl. Zacks & Swallow 2007). Die Ereigniskonstruktion ist ein Mechanismus der Kognition höherer Lebewesen, den beständig auf sie einströmenden Informationsfluss zu reduzieren und ökonomisch zu verarbeiten. Für die Sprachwissenschaft stellt die Versprachlichung von Bewegungsereignissen ein hoch relevantes Feld dar, da man sich durch intra- wie intersprachliche Vergleiche der Versprachlichungsstrategien Rückschlüsse auf das Verhältnis von Sprache und Kognition erhofft (vgl. u. a. Slobin 1987). Das Forschungsfeld zur Versprachlichung von Bewegungsereignissen hat der Typologe Leonard Talmy (1985, 2000, 2017) begründet. Talmy postuliert vier grundlegende Komponenten, um ein Bewegungsereignis zu konstituieren: FIGURE, GROUND, PATH und MOTION. Hierbei bewegt sich (MOTION) ein Objekt (FIGURE) im Verhältnis (PATH) zu einem anderen Objekt (GROUND). Talmy klassifiziert die Sprachen der Welt in zwei unterschiedliche Typen. Das entscheidende Kriterium ist dabei, welches sprachliche Element die Komponente PATH versprachlicht. Das Deutsche realisiert PATH in einem Verb-externen Element, zum Beispiel in Form einer Adposition. Sprachen, die diesem Muster folgen, werden satellite-framed (S-framed) genannt. Andere, wie viele romanische Sprachen, realisieren PATH Verb-intern. Man nennt diese Sprachen verb-framed Sprachen (V-framed). Möchte man etwa im Spanischen etwas darüber aussagen, wie die Bewegung der FIGURE aussieht, muss man diese Information außerhalb des Verbs platzieren. (1) Joan entra al cuatro corriendo. FIGURE MOTION + PATH GOAL MANNER ‘Joan betritt das Zimmer rennend’ Im Deutschen und anderen S-framed Sprachen ist es hingegen üblich, im Verbslot neben der Bewegung an sich weitere Informationen zu geben, zum Beispiel über die Art und Weise der Bewegung (MANNER) oder aber über kausale Relationen (CAUSE). (2) Sie rannte über die Straße. FIGURE MOTION + MANNER PATH (3) Sie trägt das Kind über die Straße. FIGURE MOTION + CAUSE PATH Durch die unterschiedlich stark konventionalisierten Bedeutungs-Form-Paare der jeweiligen Sprachgemeinschaften kann das Bewegungsereignis im Zuge der Versprachlichung unterschiedlich perspektiviert werden. In Beispiel (4) wird durch die verwendete Konstruktion beispielsweise die Geschwindigkeit und die Zeitnot der FIGURE fokussiert. (4) Sie hetzte mit dem Kind über die Straße. Auch in Beispiel (5) liegt die Versprachlichung eines Bewegungsereignisses vor. (5) Sie winkte das Kind über die Straße. Das Ereignis ist dabei ein komplexes: Die FIGURE bewegt sich aufgrund der Tatsache über die Straße, dass eine weitere Person sie mittels gestischer Mittel dazu auffordert. Ein solches komprimiertes Versprachlichen komplexer Ereignisketten bezeichnet man als nesting (Talmy 2017). S-framed Sprachen wie das Deutsche, das Schwedische und das Englische zeigen bei der Versprachlichung von Bewegungsereignissen eine unterschiedlich hohe Variabilität. Studien aus dem Schwedischen weisen darauf hin, dass neben MANNER und CAUSE auch weitere Relationen realisiert werden. Olofsson (u. a. 2014, 2017) hat Bewegungskonstruktionen des Schwedischen erhoben und dabei festgestellt, dass auch prädikative oder modale Relationen möglich sind. Modale Relationen sind auch für das Deutsche zu beobachten. So dürfte Beispiel (6) von den wenigsten Sprachnutzern als eine Normverletzung aufgefasst werden, auch wenn der Infinitivslot der Konstruktion nicht besetzt ist. (6) Sie musste mit dem Kind über die Straße. Es liegen keine empirischen Studien für das Deutsche vor, die das Phänomen modaler Relationen für Bewegungskonstruktionen beschreiben. Was aber ist mit Ausdrücken wie unter (7)? (7) ? Sie lachte mit dem Kind über die Straße. Für das Deutsche scheint eine solche Perspektivierung über eine Bewegungskonstruktion tendenziell nicht der Norm zu entsprechen. Olofsson (2017) zeigt, dass im Schwedischen eine derartige Versprachlichung durchaus möglich ist (vgl. Beleg (8)). (8) Mannen skrattade iväg till posten Mann-DEF Lach-PST zu Postamt-DEF ‘Der Mann lacht zum...