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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Gutmann WENDEHÄLSE

Der zweite Fall von Pastor Lukas Bentorff
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95894-189-2
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Der zweite Fall von Pastor Lukas Bentorff

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-95894-189-2
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
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Karneval im Dorf. An der Sektbar umarmen sich gestandene Mannsbilder. Große Festversammlung. Wir haben schon einiges hinter uns. Nicht nur musikalisch. Nach dem Fest verwandeln sich Feiernde in einen hasserfüllten fremdenfeindlichen Mob. Ein junger Landwirt stellt sich ihnen entgegen. Wenige Tage später ist er verschwunden. Monate nach der Grenzöffnung warten neue Fälle auf den Groß Samtlebener Dorfpastor Lukas Bentorff. Ein unentwirrbar scheinendes Knäuel aus schrägen Geschäften und Fremdenhass, Zwangsprostitution und Liebe spinnt den sympathischen Seelsorger immer dichter ein – enger, als für sein Leben gut ist ...

Der zweite Fall von Dorfpastor Lukas Bentorff.

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1
„Da steht ein Pferd auf‘m Flur, ein echtes Pferd auf’m Flur, jaja ein Pferd auf’m Flur, das ist so niedlich. Da steht ein Pferd auf’m Flur, jaja ein Pferd auf’m Flur, oh ein Pferd auf’m Flur und schaut mich an ...“ Klaus und Klaus. Die Stimmung steigt. Ich sehe mich um. Manche schunkeln. An der Sektbar umarmen sich gestandene Mannsbilder. Große Festversammlung. Wir haben schon einiges hinter uns. Nicht nur musikalisch. Big-Band aus Südthüringen. Die Grenzöffnung vor einem Vierteljahr macht’s möglich. Damals habe ich diese Jungs und Mädels kennengelernt, und das hat mir damals das Leben gerettet. Kommt mir vor, als ob das schon länger her wäre. Als die Telefonleitungen in die DDR nach den ersten hektischen Tagen nach der Grenzöffnung endlich offen waren, habe ich den Einfall gehabt. Ich organisiere genau diese Big-Band für die Große Festversammlung. Karneval in Groß Samtleben. Ich habe im „Thüringer Hof“ in Kühndorf angerufen und den Kontakt zur Big-Band klargemacht. Die hat dort seit vielen Jahren ihren Probenraum. Und der Bandleader war sofort Feuer und Flamme. „Karneval in Westdeutschland! Noch dazu auf dem Dorf. Na klar kommen wir!“ Ich habe beiden Vorsitzenden der Samtlebener Karnevalsvereine klar gemacht, dass sie einiges springen lassen müssen. Klar gab es Einwände. Aber jetzt sind sie hier, und sie spielen. Besonders für einen Anlass wie diesen. „Einer geht noch, einer geht noch rein!“ Es wird geschunkelt. Verbrüderungsszenen an der Sektbar. Später werde ich auch noch meinen Auftritt haben. An der Tuba. Und als Büttenredner. Bis dahin: Nüchtern bleiben. Wir haben schon eine ganze Reihe von mehr oder weniger launigen Beiträgen überstanden. Je mehr Pils und Kölsch durch die Reihen gehen – es können immer Holzbretter mit jeweils zehn Gläsern geordert werden, das erhöht den Umsatz enorm – desto begeisterter wird die Resonanz des Publikums. Die Band orchestriert alles, was in diesen Jahren karnevalsmäßig auf dem Markt ist. „Niemals geht man so ganz“ von Trude Herr, „Der Eiermann“ von „Klaus und Klaus“, „Bier und nen Apfelkorn“ von den „3 Colonias“. Als unmittelbar vor „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ auch noch „Black Fööss“ angestimmt wird, „Dem Schmitz sing Frau es durchjebrannt“, da gibt es kein Halten mehr. Der ganze Saal grölt begeistert mit. Seltsamerweise steigt mit dem Grad der Alkoholseligkeit die Textsicherheit. Dabei hat die Festversammlung an diesem Abend ziemlich lahm begonnen. Ganz im Gegensatz zu den vergangenen Tagen. Der Festumzug am Rosenmontag war ein grandioser Erfolg. Von Groß Samtleben nach Klein Samtleben und zurück, mit Festwagen aus beiden Vereinen und Fanfarenzügen aus dem gesamten Gebiet von Salzgitter, Braunschweig und Peine. Hunderte säumten die Straßenränder. Die Polizei hatte das gesamte Gebiet weiträumig für den Straßenverkehr gesperrt. Zeitungen, Anzeigenblätter und selbst die Lokalberichterstattung des NDR hatten das große Ereignis angekündigt. Der Streit zwischen den „Lustigen Jecken“ und dem „Karnevalsverein“ Groß Samtleben – nach vielen Jahren beigelegt! Hunderte aus den umliegenden Dörfern und selbst Neugierige aus Braunschweig, Hannover und Hildesheim lassen es sich nicht nehmen dabei zu sein. Die Kinder sammeln Kamelle. Aus den Gesprächen am Tisch heute Abend weiß ich, dass einige in den Stunden nach dem Umzug neu entstanden sein werden. Nicht Kamelle. Bloß nicht zu albern werden vor meinem eigenen Auftritt. Nach dem lahmen Beginn ist das Fest erstaunlich gut in Gang gekommen. Sah in der ersten Stunde nicht danach aus. Offenbar ist es schwierig, an die Begeisterung der letzten Tage anzuknüpfen. Die Groß Samtlebener sind mit den Gästen aus Klein Samtleben unter sich. Auch so bevölkern mindestens zweihundert Leute den großen Festsaal. Um den hätte es wenige Wochen zuvor fast eine Schießerei zwischen beiden Vereinen gegeben. Alles vergessen. Oder??? Besinnliche Eröffnungsreden von Hugo Kleinhans. Bürgermeister der Gesamtgemeinde Samtleben. Feuerwehrhauptmann und Vorsitzender des „Karnevalsvereins“. Und von Otto Viersen, frisch gewählter Vorsitzender der „lustigen Jecken“. Thema in beiden Reden: Großer Versöhnungstag zwischen den „Lustigen Jecken“ und dem „Karnevalsverein“. Seit Menschengedenken verfeindet. Jetzt wieder vereint. Grund genug, ein paar tiefe Gedanken über das Elend des Unfriedens im Dorf zum Ausdruck zu bringen. Und ein paar tiefe Gedanken zum Tod von Wilhelm Scheinhaus, dem verstorbenen Großgrundbesitzer Groß Samtlebens und Förderer der „Lustigen Jecken“. Beide Redner sind gediegene Meister darin, tiefe Gedanken in gewundener Sprache zum Ausdruck zu bringen. Ich sehe in die Gesichter an meinem Tisch. Leere. Die Leute lassen das über sich ergehen. Mehr aber auch nicht. Zu Beginn der Feier fehlt außerdem der Alkohol. Trotzdem. Am Schluss dieser Reden sind die Leute dann hinreichend gerührt. Ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken abschweifen. Es sind ja nicht nur die großen Gefühle „für unser gemeinsames Groß Samtleben“, die beide Vereine zusammengetrieben haben. Sondern schlicht finanzielle Not bei den Jecken. Nachdem der Förderer weg ist, herrscht Ebbe in der Kasse. Die kommt in beiden Ansprachen nicht vor. Na klar. Alle Vereinsmitglieder der „Lustigen Jecken“ im Saal wissen sowieso genau, wo der Schuh drückt. Lieber unterbrechen sie Otto Viersen mit verhaltenem Beifall, als der seine launige Ansprache immer wieder mit zotigen Einlagen über doofe Hausfrauen (in seinem Erfahrungshorizont komplett hirntot) und faule Ausländer (nicht nur faul, sondern auch dumm und inkompetent) würzt. „Ich kenne keine ‚lustigen Jecken‘ und keine ‚Karnevalsvereiner‘ mehr („tätä, tätä“), ich kennen nur noch Groß-Samtlebener!“ Wilhelm II. hätte seine Freunde gehabt. Beide Redner geben sich alle Mühe. Trotzdem. Lachen und Beifall bleiben zurückhaltend. Das ist jetzt fast vier Stunden her. Ich sehe verstohlen auf die Uhr. Es geht auf Mitternacht zu. Höchstens drei Flaschen Bier heute Abend. Ich bin stocknüchtern. Ich finde es spannend mitzuerleben, wie dieser große Versöhnungstag verläuft. In den vergangenen Wochen habe ich manchen Gesprächen im „Brotladen“ gelauscht, der Bäckerei von Groß Samtleben. Nachrichtenbörse des Dorfes. Ehefrauen aus beiden Vereinen sind fest überzeugt. Dieser Versöhnungstag wird Frieden ins Dorf bringen. Frieden bis ins nächste Jahrtausend. Ich konzentriere mich auf das Bühnen-Geschehen. Klaus Senghaus tritt in die Bütt. Schulleiter von Groß Samtleben, Organist in der Samtgemeinde. Außerdem Chorleiter und damit im Zentrum eines beide Vereine und beide Dörfer überspannenden Begegnungsraums. Und, das weiß auch jeder im Dorf: Der Kirchenchor ist eine Beziehungsschleuder. Nicht selten ehegefährdend. Darüber müsste es mal eine Untersuchung geben. Warum animieren Kirchenchöre ihre sangeslustigen Mitglieder, sich auf Liebesabenteuer mit anderen Sängern – und meistens Sängerinnen – einzulassen? Gut. Das wird später mal seine Zeit haben. Jetzt ist Klaus Senghaus an der Reihe, die Stimmung im Saal zum Kochen zu bringen. Und dann komm ich. Ich möchte wirklich mal wissen, was die Veranstaltungsplaner dazu gebracht hat, ausgerechnet die beiden intellektuellen Beiträger an den Schluss des offiziellen Programms zu setzen. Bevor der Schwof beginnt. Aber offenkundig macht es nichts aus. Die Leute im Saal bejubeln alles, was von der Bühne kommt. Ich bin mir nicht sicher, ob noch alle mitbekommen, worum es geht. Dabei lohnt es jetzt wirklich, Klaus Senghaus zuzuhören. „Im Norden Deutschlands braust die See, im Süden sind die Berge. Ganz wie im Märchen: Vorn die Fee, und hinten steh’n die Zwerge.“ Das ist wirklich komisch. Ich finde es entlastend, dass ich lachen muss, ohne mir Mühe zu geben, etwas komisch zu finden. „Wie alles anfing: Die Welt entstand aus einem Knall: Das Kn flog fort. Es blieb das All.“ Fassungslose Ruhe nach diesem Zweizeiler. Die Band springt ein und bringt einen Tusch. Und das Volk? Jubelt!!! „Bruchverletzungen am Zeh heilt der Lindenblütentee. Sitzt der Bruch jedoch im Nacken, ist er nicht so leicht zu packen. Freilich fördert das Gelingen ein Korsett aus Zwiebelringen. Injektionen blauer Bohnen schützen schnell vor Depressionen. Knöchelbruch und Raucherbein weicht man in Koriander ein ...“ Tätä tätä. Ich kann mich plötzlich nicht mehr konzentrieren. Merke, dass mein Mäppchen verschwunden ist, in dem ich meine eigenen Texte mitgebracht habe. Hektisch gucke ich nach links und rechts. Auf dem Tisch nur Bierlachen und Reste von Mettbrötchen. Ich krabbele unter die Tafel. Sie besteht aus einer langen Reihe ineinandergestellter Platten auf Holzböcken. Unterm Tisch sehe ich imposante Männer- und Frauenbeine, teilweise kreuz und quer ineineinander verhakt. Hier werden offenbar für die Nacht vielversprechende Liebesabenteuer ausgehandelt. Das geht mich jetzt nichts an. Ein Glück. Meine Mappe liegt drei Plätze weiter. Jemand hat seine Schuhe daraufgestellt. Ich versuche, den Fuß hochzuheben. Ist nicht ganz einfach, aber schließlich gelingt es. Außer Atem und mit puterrotem Kopf krabbele ich wieder auf meinen Sitz. Ich bekomme gerade den beifallumtosten letzten Beitrag von Klaus Senghaus mit: „Aus dem weiten Feld des Liebeslebens der Tiere. Der Igel...


Gutmann, Hans-Martin
Hans-Martin Gutmann, in den fünfziger Jahren in einem Dorf im Vorharz aufgewachen, bis 2017 Theologieprofessor und Universitätsprediger in Hamburg, lebt als Schriftsteller und Jazzmusiker mit seiner Familie in Eimsbüttel.

Hans-Martin Gutmann, in den fünfziger Jahren in einem Dorf im Vorharz aufgewachen, bis 2017 Theologieprofessor und Universitätsprediger in Hamburg, lebt als Schriftsteller und Jazzmusiker mit seiner Familie in Eimsbüttel.



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