E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Gutmann WENDEWÖLFE
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95894-169-4
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-95894-169-4
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
November 1989. Die Mauern fallen. Viele sind euphorisch. Aber es sind alte Rechnungen offen. Plötzlich liegt ein Leichenteil im Garten von Lukas Bentorff, Dorfpastor im Salzgitter-Gebiet. Ein ortsbekannter Kopf – ohne seinen Körper. Der Pastor, dem Leben seiner Gemeinde zugewandt, wird selbst angegriffen. Die niemals schlafende dörfliche Gerüchteküche bringt ihn mit dem Mord in Verbindung. Als Lukas Bentorff versucht, eine geheimnisvolle Fremde zu finden, die ihn entlasten könnte, überschlagen sich die Ereignisse ... Bentorff findet sich am Ende in einem unheilvollen Netz von neuen und alten Nazis und gerät ins Fadenkreuz polnischer Gruppen, die Rache nehmen wollen. Die Grenzen sind offen …
Wohl einer der intelligentesten Thriller der letzten Jahre. Unbedingt empfehlenswert mit der liebenswürdigen Figur des Pastors, der in einer verschlafenen Region nach der „Wende“ plötzlich zum Helden eines Politkrimis zwischen Nazis und Polen wird. Jenseits aller Klischees verbindet Hans-Martin Gutmann Zeitfragen mit gelungenem Thrill.
Autoren/Hrsg.
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3.
Am nächsten Morgen komm ich schlecht aus den Federn.
Der Wecker klingelt um sieben.
Ich habe definitiv zu viel getrunken gestern, auch noch nach der Sitzung des Kirchenvorstandes.
War unproblematisch. Bis auf zwei Punkte.
Es bleibt dabei, dass wir für das riesige Pfarrgrundstück keinen neuen Gärtner einstellen.
Aus Kostengründen. Wir haben ein strukturelles Haushaltsdefizit. Ein Gärtner – viel zu teuer.
Ich werde bis zur nächsten Sitzung ein Dienstschaf beantragen. Oder zwei.
Ich habe nicht Theologie studiert, um den Rasen zu mähen.
Eingebildet? Vielleicht.
Diesen Satz würde ich nie erwähnen. Im Kirchengemeinderat nicht. Im Dorf auch nicht.
Und der eigentlich haarige Punkt: Die Restauration des Flügelaltars aus dem 16. Jahrhundert in der Schlosskirche. Der Altar stammt aus der Vorgängerkirche, die für den Barockbau aus Anfang des 18. Jahrhunderts abgerissen wurde, und wurde in den 1870ern bei einer Visitation zufällig auf dem Dachboden gefunden.
Wunderschön. Unschätzbar wertvoll. Und mittlerweile dringend restaurationsbedürftig.
Die Kirchengemeinde Groß Samtleben könnte das nie selbst und allein finanzieren. Die Landeskirche, der Bezirk Braunschweig, das Land Niedersachsen, die Klosterkammer und der Denkmalschutz geben Mittel dazu. Aber die Kirchengemeinde muss selbst mehr als zwei Jahreseinnahmen aufbringen.
Zum Glück – und zum Unglück – hat sich ein Großspender gemeldet. Wilhelm Scheinhaus. Der einzige Großgrundbesitzer im Dorf. Derselbe Jahrgang wie Hermann Moosbach, seit der Schulzeit miteinander verfeindet.
Hermann Moosbach ist nicht der einzige im Dorf, der mit Scheinhaus eine Rechnung offen hat.
Zusammengefasst: Das Glück ist, dass der Mann wirklich genügend Mittel für diese Spende hat. Und dass er dem Dorf und der Kirchengemeinde verbunden ist. Nicht zuletzt als Patron.
Das hat er mich schon spüren lassen. Er hat den jungen Pastor zum Kaffee einbestellt. Kühle Atmosphäre. Bibliothek nach Art eines Herrenhauses. Tausende alte Bände. Garantiert nicht gelesen, zumindest nicht von Wilhelm Scheinhaus. „Geld ist mein Gemüse. Das ist mein Leitspruch, Herr Pastor. Verstehen wir uns? Ich gebe gern etwas für die Gemeinde. Und für den Flügelaltar. Es ist mir eine Ehre. Und ich verlass mich darauf, dass Sie mir umgekehrt immer vorab mitteilen, wenn Sie Kirchenland neu verpachten. Und – ich möchte jährlich einen Bericht über die Haushaltssituation der Gemeinde, und zwar zu jedem Haushaltsabschluss.“
Unangenehm, dieser Mensch. „Ich werde mit dem Kirchenvorstand über Ihren Vorschlag beraten, Herr Scheinhaus.“
Ich habe dem Kirchenvorstand also gestern Abend den Wunsch des edlen Spenders auseinandergesetzt. Ich habe darum geworben, dass sich der Kirchengemeinderat darauf nicht einlässt. Wenn Wilhelm Scheinhaus einen ersten Zugriff bekommt, wenn Kirchenland neu verpachtet wird, macht sich die Kirchengemeinde die gesamte Landwirtschaft des Dorfes zum Feind. Dann hätten wir alle Bauern gegen uns – außer Wilhelm Scheinhaus. Die kleineren Höfe sind dringend auf zusätzliches Land angewiesen.
Außerdem: über die Kontrolle des Haushaltes kann dieser Krösus Einfluss auf die inhaltliche Arbeit der Gemeinde nehmen …
Es wurde lange debattiert, schließlich wurde die Sitzung gegen 23.30 Uhr vertagt. Nach 22 Uhr werden ohnehin keine Beschlüsse mehr gefasst.
Ich kann nicht einschätzen, ob ich mich mit meinen Argumenten durchsetzen konnte. Warten wir also auf die nächste Sitzung.
Ich war ziemlich groggy, als ich wieder oben in der Wohnung angekommen bin.
Ärger mit Kalle, er hat wieder in den Flur geschissen. Direkt neben die Tür zum Arbeitszimmer. Zum Glück nicht Parkett, sondern Linoleum.
Ich habe mir das Vieh geschnappt, er hat gezappelt, geschrien und sich gewehrt. Hat nichts geholfen, ich habe ihn mit der Schnauze in seinen Kackehaufen gedrückt und dann zum Katzenklo geschleppt. Lilo saß im Flur daneben, guckte sich die Szene an und schnurrte.
Wird nichts mit der Geschwisterliebe zwischen den beiden, fürchte ich.
Nach dieser Aktion hatte ich jedenfalls endgültig den Tank auf. Ich habe die Schweinerei beseitigt, hab mir die Wanne volllaufen lassen, mich ins heiße Wasser gelegt und den Rest von der Whiskeyflasche inhaliert. Irgendwann mitten in der Nacht bin ich wach geworden, weil das Badewasser kalt war. Ich bin schlotternd ins Bett umgezogen.
Ich habe Vera gegen fünf Uhr morgens aus dem Bett geklingelt. Ich war hacke. Und stinkesauer.
Als ich die Stimme von Egon in der Leitung hatte, habe ich sofort aufgelegt.
Okay, Frühstück.
Mal wieder kein Brot da, Brötchen auch nicht.
Ich gebe Katzenfutter in den Fressnapf, schütte neues Katzenstreu ins Katzenklo, öffne das Küchenfenster, damit die beiden nach ihrem Frühstück raus können, und mach mich auf den Weg zum Bäcker.
Sind bloß drei Minuten zu Fuß.
„Guten Morgen, Herr Pastor.“
Ich begrüße die Anwesenden, der Laden ist voller Leute. Nach dem Brötchenkauf bleiben die meisten noch ein Weilchen. „Von Hofs Brotladen“ ist die Nachrichtenbörse des Dorfes.
„Und das schon im November! Karneval ist erst in einem Vierteljahr!“
Allgemeine Empörung. Ich guck in die Runde. Die Anwesenden gehören alle zum „Karnevalsverein Groß Samtleben.“
Der andere Karnevalsverein: „Lustige Jecken Groß Samtleben“ hat sich offensichtlich schon die Scheune neben der Pizzeria für seine Karnevalssitzung gesichert.
Zwischen den beiden Vereinen herrscht keine Feindschaft. Das wäre untertrieben.
Es herrscht Krieg.
Es gibt hier oben im Norden nur wenig Karneval. Dann aber richtig. Mit Leib und Seele.
Du gehörst nicht zum Verein. Du gehörst dem Verein.
Egal, ab die Dorfleute in der Feuerwehr, im Kirchenchor, im Männergesangverein oder im 1. FC Groß Samtleben miteinander verbunden sind – die Grenze zwischen den beiden Karnevalsvereinen markiert die radikale Teilung des Dorfes. „Seit zwanzig Jahren hat kein Liebespaar mehr über die Grenze zwischen den Karnevalsvereinen hinweg geheiratet.“ Das hat mir Frau Sassnitz schon am zweiten Tag meines Dienstes in Groß Samtleben klipp und klar erklärt, als ich in ihrem Kuhstall stand, um meiner neuen Vorsitzenden des Kirchenvorstandes guten Tag zu sagen.
Heute morgen bin ich zu müde, um im Bäckerladen für einen Plausch und den neuesten Dorftratsch stehen zu bleiben. „Tschüs, die Damen!“ Ich klemme mir Brötchen und Kuchen unter den Arm und bewege mich wieder Richtung Pfarrhaus.
Gleich halb zehn. In einer Stunde muss ich sowieso schon beim Seniorengeburtstag aufschlagen. Da werde ich zu hören bekommen, was ich jetzt beim Bäcker verpasse.
„Und dann haben wir es den Tommys so richtig gezeigt. Und den Amis erst recht.“
Siebenundachtzigster Geburtstag. Martha Grobschmalz. Sie gehört zu den zehn ältesten Samtleberinnen. Entsprechend sind alle Honoratioren des Dorfes versammelt. Hugo Kleinhans, Bürgermeister der Gesamtgemeinde Samtleben und Feuerwehrhauptmann. Und führendes Mitglied bei den „Lustigen Jecken Groß Samtleben“. Dann Hans Herbert Offheim, pensionierter Schulleiter und Leiter des Männergesangvereins.
Eine ganze Reihe unter den Gästen gehört zum Männergesangverein. Und wollen was singen. Sie bauen sich gerade auf, um ihr Ständchen zu bringen.
Sodann: Hubert Schlohberg, mein seit zwei Jahren pensionierter Vorgänger im Pastorat von Groß und Klein Samtleben, achtzehn Jahre hier im Dienst. Er lässt es sich nicht nehmen, immer mindestens zehn Minuten vor mir bei den Geburtstagsbesuchen im Dorf aufzutauchen. Damit alle mitbekommen, dass er der eigentlich wichtige Seelsorger vor Ort ist, der sich immer noch trotz Ruhestand um seine Schäfchen kümmert.
Genauso wie Heribert Altdorf, mittlerweile selbst in den Achtzigern, mein Vorvorgänger. Der war noch vor Kollege Schlohberg fünfunddreißig Jahre lang Gemeindepastor vor Ort und lebt seinerseits in der Gewissheit, dass er selbst und niemand anders Seelsorger der Schäfchen von Groß und Klein Samtleben ist und bleiben wird. Und das lässt er auch jeden wissen, der es hören oder nicht hören will. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er hört so gut wie nichts mehr, aber das tut seiner Freunde keinen Abbruch, weil er ohnehin lieber selber spricht.
Die übrigen Gäste kenne ich nicht. Wahrscheinlich Familie der Jubilarin.
Die Klingel an der Wohnungstür geht los. Auftritt Wilhelm Scheinhaus.
Riesiger Blumenstrauß. Das lässt er sich also nicht nehmen. Er will gerade zu einer längeren Rede ansetzen.
Aber erstmal ist der Männergesangsverein dran.
„Wieder einmal ausgeflogen, wieder einmal heimgekehrt …“ Schwache Besetzung heute morgen, der Tenor ist fast nicht zu hören.
Ich setze mich neben das Geburtstagskind. Die alte Dame hört nicht mehr gut, ist aber noch recht rüstig. Und, wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten bemerkt habe, noch sehr gut beieinander.
„Liebe Martha Grobschmalz!“ Das ist jetzt Wilhelm Scheinhaus. „Ich gratuliere dir im Namen aller Bewohner von Groß Samtleben recht herzlich zum Geburtstag!“
Ich werfe einen raschen Blick auf den Bürgermeister. Der tut aber so, als hätte er nicht zugehört.
„Du als unsere fünftälteste Mitbewohnerin – ja-ja, ich habe genau nachgesehen! – bist für mich in jedem Jahr eine große Erleichterung: Wir müssen am 9. November nicht wie sonst überall über die sogenannte Reichskristallnacht reden. Sondern wir können dich hochleben lassen. Auf gute Gesundheit und noch viele Jahre!“
Wilhelm Scheinhaus hebt sein...