Haardt | Das Fenster nach Süden | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Haardt Das Fenster nach Süden

Spiritualität des Alltäglichen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-82698-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Spiritualität des Alltäglichen

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-451-82698-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Kapitel dieses Buches spiegeln die Suche nach Momenten göttlicher Präsenz mitten im alltäglichen Leben. Das Bild des Hauses bildet den roten Faden. Mehr als alles andere steht es als Symbol für das Alltägliche und Selbstverständliche: essen, trinken, schlafen. Aber das Haus ist auch der Ort für Liebe, Geburt und Tod, für Familie und Freunde, für erste Verletzungen und erste Zuneigung. Es ist der Ort, an den die Welt auf viele Arten hereinkommt und von dem aus die Welt entdeckt wird. Indem sie ihren Ausgang von den alltäglichen Orten nehmen – Wohnzimmer, Küche und Esszimmer, Garten, Studierzimmer, Schlafzimmer, aber auch der Stadt –, eröffnen de Haardts Reflexionen ungewohnt neue Perspektiven auf Religion und Spiritualität, voll Offenheit, Sehnsucht und Staunen, voll Weisheit und praktischer Nüchternheit, voll Energie und Kreativität.
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2. Zeit schafft Orte
To see a world in a grain of sand
And a heaven in a wild flower,
Hold infinity in the palm of your hand
And eternity in an hour. William Blake Das Leben von heute scheint beherrscht von der ‚Uhrzeit‘. Wir rennen von einem Termin zum anderen und versuchen, unsere Angelegenheiten und Aufgaben so effizient wie möglich zu erledigen. Am Ende des Tages, der Woche, des Monats hat man trotzdem oft das Gefühl, die Zeit vergehe im Flug, man habe noch immer nicht das getan, was man eigentlich tun wollte. Wer kennt nicht das Gefühl, das Leben werde vom Terminkalender beherrscht und man werde immer aufs Neue von der Zeit eingeholt? ‚Wir müssen für mehr Zeit sorgen‘ ist eine Empfehlung, die rundherum zu hören ist. Aber warum für Zeit sorgen? Die Zeit beherrscht uns … ‚Es gibt zu wenig Zeit. Oder gibt es nichts als Zeit?‘ Lineare und zyklische Zeit
Die erste Uhr mit einem Zeiger stammt aus dem 10. Jahrhundert. Davor gab es viele andere Arten der Zeitmessung, vor allem Sonnenuhren. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde eine Standardzeit eingeführt, die Greenwich Mean Time, auf der Grundlage dessen, was man als mittlere Sonnenzeit bezeichnet, und am Nullmeridian gemessen. Die GMT fing 1848 bei den britischen Eisenbahnen an und galt für das gesamte Eisenbahnnetz. 1870 wurde sie gesetzlich landesweit eingeführt und daraus folgten Standardisierungen für Europa und für das Britische Königreich. 1928 wurde die Weltzeit eingeführt, mit der Greenwichzeit als Bezugspunkt. Bis dahin galten örtliche Zeitstandards, örtliche mittlere Sonnenzeiten, die sich untereinander oft unterschieden. Der Einführung einer Standardzeit lagen praktische Motive zugrunde: beispielsweise dass Bahnreisende auf langen Fahrten ihre Uhr nicht mehr ständig verstellen mussten und die Eisenbahnen auf der Grundlage einer Standardzeit ein Verzeichnis der Abfahrts- und Ankunftszeiten erstellen konnten. Zeit, die Zeit auf unseren Uhren, Computern, Weckern und Terminkalendern, ist keine ‚natürliche‘ Gegebenheit, sondern ein Konstrukt, das auf örtlichen Absprachen und der Verfügbarkeit einer Messapparatur beruht. Seit der Einführung der Standardzeit blieb auch die Zeit nicht stehen. Immer weiter verfeinerte Messungen wurden möglich, etwa durch Quarzuhrwerke und die Atomuhr. Im normalen Leben scheinen wir nicht so viel davon zu merken, aber wer sich – aktiv oder passiv – für Geschwindigkeitssportarten interessiert, kennt den Einfluss dieser Messungen. Man denke an die zunehmende Präzisierung bei den Hundertmetersprints der Kurzstreckenläufer oder an die 500 Meter beim Eisschnelllauf! Zeit als Vorstellung ist weder statisch noch unveränderlich. Wie die Art der Zeitmessung geschichtlich und kulturell unterschiedlich ist, so ist es auch unsere Vorstellung von der Zeit als solcher. In einer agrarischen Gesellschaft verhalten sich Menschen anders zur Zeit als in unserer postindustriellen Gesellschaft. Und der Begriff von Zeit im heutigen Nordeuropa unterscheidet sich nicht nur von dem in Teilen des heutigen Afrika, sondern ebenso vom Begriff der Zeit im Mittelalter oder im alten Griechenland. Die Zeitvorstellungen sind verbunden mit den Bedürfnissen und dem Weltbild einer Gesellschaft oder von konkreten Individuen in einer solchen, und außerdem hängen sie vom Stand der Technologie und den Messapparaten ab. Im Westen kennen wir zwei Kategorien von Zeit: eine lineare und eine zyklische Zeit. Schematisch dargestellt ist die lineare Zeit die geltende Zeit, die sich in einer geraden, ununterbrochenen Linie entfaltet, auf einen unendlichen Horizont ausgerichtet. Diese Zeitvorstellung bestimmt unsere Uhrzeit, von Sekunden zu Minuten, Tagen und Jahren, die aufeinanderfolgen. Eine Zeit, in der die Vergangenheit auch wirklich vorbei ist und nur die Zukunft zählt. Symbolisiert als Väterchen Zeit, ein alter Mann mit dem Stundenglas und einer Sense als Attributen, der an den griechischen Gott Chronos erinnert. Dem steht die zyklische Zeit gegenüber, die Zeit der Jahreszeiten, die kommt, geht und wieder kommt. Eine Zeitvorstellung, die mit dem täglichen Leben verbunden ist, vor allem in Gesellschaften, die von der Landwirtschaft geprägt sind. Sie gilt als ‚primitiver‘, verbunden mit einem mythischen Bewusstsein, das ahistorisch ist und keine genauen Messungen braucht, weil es den Rhythmen der Natur folgt. Zukunft ist hier nur eine Wiederkehr des Heute. Diese Zeitvorstellung wird als nicht-christlich und nicht-westlich betrachtet, weil sie rein natürlich ist, nicht auf ein Ende der Zeiten ausgerichtet, und weil sie kein endgültiges und offenbarendes Eingreifen in die Geschichte kennt. Wenig überraschend wird diese Zeitvorstellung als ‚weiblich‘ gekennzeichnet und der linearen ‚männlichen‘ Zeit diametral entgegengesetzt. Chronozentrismus
In den letzten Jahrzehnten ist der ‚Chronozentrismus‘, die Dominanz der linearen Zeit, immer stärker in die Kritik geraten. Nicht nur die Organisation der postindustriellen, sich globalisierenden Gesellschaft, sondern auch das normale Leben wird durch sie immer tiefgreifender strukturiert und sogar kontrolliert. Die lineare Zeit hat das tägliche Leben und die ganze Natur immer mehr in eine umfassende, weltweite Marktwirtschaft hineingezogen, in der Zeit Geld ist und alles, was Menschen tun, in diese Perspektive zu rücken scheint. Ein Film wie Spring, Summer, Fall, Winter and Spring … (2003), der auf einer einsamen Insel an einem unbekannten Ort in Ostasien spielt, auf der ein alter Mönch einen kleinen Jungen in ein Leben der ewigen Wiederkehr einweiht, hat nicht zufällig im Westen so viel Erfolg. Nach Auffassung vieler beherrscht die Uhrzeit das Leben so sehr, dass wir Zeit schaffen müssen. Zeit schaffen für die Dinge, die ‚wirklich zu tun sind‘. Es bleibt die Frage, was Menschen genau meinen, wenn sie das sagen. In jedem Fall scheint es um eine andere Art von Zeit zu gehen; derzeit fällt immer wieder das Wort slow. Andere Kritiker der linearen Zeitvorstellung bevorzugen eine stärker zyklische Konzeption von Zeit. Dennoch bin ich nicht davon überzeugt, dass ein solches Plädoyer für eine zyklische Zeitvorstellung eine Lösung bietet. Viele gegenwärtige spirituelle Bewegungen, besonders diejenigen, die unter Sammelnamen wie Neuheidentum, Göttinnenbewegung oder Wicca bekannt sind, plädieren für eine solche alternative Zeitvorstellung. Diesen Bewegungen sind bei aller Unterschiedlichkeit die Heiligung der Natur und die Anerkennung einer weiblichen göttlichen Kraft oder Göttin gemeinsam. Sie wenden sich vom patriarchalen jüdischen und christlichen Denken ab und nehmen in Anspruch, sich auf vorchristliche, heidnische religiöse Traditionen zu stützen, die eine zyklische Zeitvorstellung kennen. Mit diesen Optionen äußern sie deutliche Kritik an der auf die lineare Zeit hin orientierten westlichen Kultur und Religion. Dieser Typ von Spiritualität verlangt eine Art von Rückkehr zu einer ‚natürlichen‘ oder ‚ursprünglichen‘ und deshalb heilsameren Zeit. Die Gefahr der Idealisierung und Romantisierung liegt hier auf der Hand, allein schon deswegen, weil wir über diese früheren Kulturen so wenig wissen, aber auch, weil die spirituellen Bewegungen weniger alt, ursprünglich und historisch verwurzelt sind, als oft suggeriert wird. Außerdem wird dadurch die Bedeutung und auch die Bedeutsamkeit der ‚gewöhnlichen‘ linearen Zeit ganz und gar verkannt. Unabhängig von aller möglichen Kritik an der Dominanz der Uhrzeit und am wirtschaftlichen und technologischen System, das damit zusammenhängt, hat sich natürlich auch unendlich viel Gutes daraus entwickelt. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: durch das Gegeneinander-Ausspielen von linearer und zyklischer Zeit werden auch dualistische Konzeptionen von Gender bestärkt, die damit vermengt sind. Gibt es denn eine so monolithische Vorstellung von der linearen, männlichen Zeit gegenüber der zyklischen, weiblichen Zeit? Und ist wirklich diese moderne, lineare Zeit die einzige Vorstellung von Zeit, die wir kennen? Eine Vielfalt von Zeiterfahrungen
Auch beim Nachdenken über so komplizierte Dinge wie die Zeit beginne ich gern beim täglichen Leben und bei alltäglichen Verhaltensweisen. Und dann zeigt sich, dass die täglichen Zeiterfahrungen komplexer und mehrdeutiger sind, als es die genannten Gegensätze vermuten lassen. Im alltäglichen Leben gibt es eine Vielzahl von Konzepten und Erfahrungen der Zeit. Arbeitszeit, Emotionen, Beziehungen, Fürsorge, Freizeit und das, was gegenwärtig, in ökonomischer Begrifflichkeit, quality time heißt, haben alle ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Zeitmessung und Zeiterfahrung. Diese unterschiedlichen Konzeptionen und Erfahrungen von Zeit lassen sich nicht auf ein und dasselbe Modell zurückführen. Sie sind an den jeweiligen Kontext gebunden, gehen ineinander über und sind mit Sicherheit nicht immer in einem klaren, messbaren Schema unterzubringen und zu kennzeichnen. Die Vorstellung, das gehe doch, ist eine Illusion. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel konkretisieren. Eine Kollegin scheint ernsthaft erkrankt zu sein und muss operiert werden. Das beschäftigt mich, ich schreibe ein Kärtchen, rufe sie an und rede ausführlich mit ihr, als sie wieder ihrer Arbeit nachgehen kann. Ich spreche mit anderen darüber, während der Arbeit und auch sonst. Hier geht es um schwer quantifizierbare ‚Zeiteinsätze‘, die die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Zeit für Beziehungen auflösen. Das geschieht auch bei Erfahrungen in der Natur, bei der Aufmerksamkeit und Fürsorge für die Nächsten, für Familie,...


Maaike de Haardt, geb. 1954, PhD, studierte (feministische) Theologie und Philosophie. 30 Jahre lang wirkte sie als Dozentin für feministische Theologie sowie Religion und Kultur an der Universität Tilburg, von 1999–2018 außerdem als Catharina Halkes Professorin für feministische Theorie sowie Religion und Gender an der Radboud Universität Nimwegen. Sie war langjähriges Mitglied und zuletzt auch Präsidentin der European Society of Women in Theological Research. In zahlreichen Veröffentlichungen befasst sie sich mit der Frage und Bedeutung göttlicher Präsenz im alltäglichen Leben, in der Kultur und in der Stadt.

Saskia Wendel, geb. 1964, Dr. phil., 2003-2006 Univ.-Prof. für Philosophie und Fundamentaltheologie Universität Tilburg/NL. Gastprofessuren in Innsbruck und Wien, 2007-2008 Fellow am Max-Weber-Kolleg Universität Erfurt. Seit 2008 Univ.-Prof. für Systematische Theologie an der Universität zu Köln. Seit 2013 stellv. Direktorin der a.r.te.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Zahlreiche Publikationen im Themenfeld der Fundamentaltheologie und der Religionsphilosophie.

Ulrich Ruh, geboren 1950, Dr. theol. Dr. h.c., studierte katholische Theologie und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Eberhard Karls Universität Tübingen. Von 1974 bis 1979 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie der Theologischen Fakultät Freiburg (Professur Karl Lehmann). 1979 wechselte er als Redakteur zur "Herder Korrespondenz", die er von 1991 bis 2014 als Chefredakteur wesentlich prägte. 2005 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz als "Würdigung für seine Verdienste in Kirche und Gesellschaft" verliehen. Seit 2015 ist Ruh Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.



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