Halter | Die Stimme des Atems | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Halter Die Stimme des Atems

Wörterbuch einer Kindheit
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-03855-083-9
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wörterbuch einer Kindheit

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-03855-083-9
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ernst Halter erinnert sich an seine Kindheit in der Kleinstadt Zofingen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind sehr genaue und stimmungsreiche Erinnerungen an Schule und Krieg, an Stadtbewohner, Vorfälle und Unfälle, Spiele und Krankheiten, Fabriken, Bücher, an Freiheiten und Zwänge. Eingeschoben sind Artikel aus dem "Zofinger Tagblatt", die den öffentlichen Raum spiegeln, in dem sich das Kind bewegt. Die Erinnerungen sind nicht eine nachträgliche Erzählung einer Identität, sondern bleiben als Wörterbuch fragmentarisch und offen. Durch das Verweissystem zwischen den Stichworten entsteht ein dichtes Netz an Bildern und Geschichten, die zur Geschichte eines Aufwachsens werden wie zur Chronik einer Epoche aus Kinderperspektive. Und gleichzeitig zur persönlichen Mitteilung über den Schmerz und das Glück zu leben. "Was ich gelernt habe: Wie viel mir erspart geblieben oder nicht zugemutet worden ist. Unverdient."
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I. Erste Bilder
Wegfahren
Kreisrunder Ausschnitt, der Grund dunkelbraun, weich im Gefühl, ein Teppich wohl; auf dem braunen eine gelbe Spielzeuglokomotive, Holz, hinter ihr zwei oder drei gelbe Eisenbahnwägelchen. Ich schiebe die Lok langsam über die braune Fläche, der Ausschnitt wandert mit, hinterher rollen gemächlich die Wägelchen. Ich schiebe, die Lok zieht, die Wagen gehorchen. Schieben ziehen, Gefühl von sanfter brauner Weite nach allen Seiten, Behagen, überallhin freie Fahrt. Weit, weit weg. (Lok und Wägelchen haben nie zu meinen Spielsachen gehört. Das Bild datiert aus dem zweiten Lebensjahr und ist anlässlich eines Besuchs eingelagert worden.) ?Eisenbahn ?Waldbahn Der Geruch Unter Bäumen im Ausgangswagen auf einem breiten Gehsteig, Sonne wechselt mit Schatten, auf der einen Seite eine asphaltierte Strasse, weit, leer, auf der andern Mauern, über sie, auf den Gehsteig hängend, blühende Büsche, Farben und Duft. Plötzlich geht das Licht aus, mir ist, die Sonne sei vom Himmel gefallen. Ein widriger, aufdringlich süsser, klebriger Gestank trübt die Luft und bedroht mich. Ich werde unruhig, will fort aus der Geruchsschwade, die mich verschluckt hat. Kann nicht. Doch schon scheint wieder die klare Sonne, Mutter, Vater, Geschwister spazieren heiter, friedlich, als ob wir nicht soeben einer grossen Gefahr entronnen wären. Sie heisst «Samengeruch». (Drittes Lebensjahr. Die Erinnerung schlummert während Jahren, wird eines heissen Sommertags aufgestört; diesmal dringt der Geruch aus dem weiten Garten einer Villa, wieder das Grauen, der Fluchtimpuls. Viel später finde ich heraus, dass er von den saftklebrigen, dampfend schlappen Johannistrieben der Pappeln verströmt wird. Meine Reaktion auf diese übermächtige, künstlich gesüsste Ausdünstung bleibt dieselbe. Warum «Samengeruch»? Ich weiss es nicht.) ?Abwässer ?Fabrikgerüche ?Gestank ?Tinte Holzbär Den rechten Arm weit vorgestreckt, in der Hand einen spannenlangen geschnitzten Holzbären, gehe ich durch die finstere Küche auf den Abort. Dort erledige ich das Geschäft, ergreife den Bären auf dem Fenstersims, ziehe am Holzgriff der Kette zum Spülkasten, ein bedrohlich tosender Wasserguss, ich reisse die Tür auf, schlage sie zu und taste mich, eine Armeslänge hinter dem Tier her, durchs Küchendunkel ins Wohnzimmer zurück. (Drittes Lebensjahr. Ich wurde meine Angst vor dem Dämmer in der Küche und der Wucht der Spülung aus dem hoch oben an der Wand angebrachten Kasten nicht los. Die Mutter, müde, mich zu begleiten und mir beim Herunterlassen des Hosenladens zuzusehen, drückte mir den Holzbären in die Hand: er werde mich vor dem schwarzen Mann in der Küche beschützen und dafür sorgen, dass das Wasser nicht über den Rand der WC-Schüssel steige und mich in die Kanalisation hinunterspüle. Ich glaubte ihr ohne Wanken. Ich wiederhole die Übung einige Male, dann ist die Furcht überwunden, und der Bär, seiner magischen Macht beraubt, verschwindet in einer Spielzeugschachtel; eine Brienzer Schnitzerei.) ?Abwässer ?Das Bärlein ?Erste Heimlichkeit Erwachen mit drei Jahren Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag. Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen. ?Der weisse Pullover ?Schneekönigin ?Waschtag Dr. med. Ginella Entdeckt er mich im Garten, ruft er, ich laufe zu ihm hin, er hebt mich vom Boden hoch, herzt und küsst mich, überschüttet mich mit Kosenamen. Hat er Zeit, führt er mich an der Hand zum Springbrunnen und zeigt mir die Goldfische, die aus dem Schatten in die Sonne, aus der Sonne in den Schatten zucken, aufblitzend, erlöschend, geheimnisfarben. Ich liebe ihn; er steckt voller Zärtlichkeiten und Kleinigkeiten: Bald kramt er ein leeres Fläschchen aus seiner Tasche, bald ein Tierlein oder ein Bildchen. Dass er Arzt ist, sagt mir sein Wagen; nur Ärzte dürfen Auto fahren. Über der Hinterachse ist ein Stehkessel montiert, Holzvergaser geheissen. Dr. Ginella lässt mich auf seinen runden Schultern zum Gartentor reiten, tritt hindurch. Linker Hand ist die Garage, rechter Hand hoch über mir sind die Nordfenster und die Terrassen der Wohnung im Obergeschoss, wo ich zu Hause bin. Ein verkrauteter Hof, Karrengleise und Kies. Dahinter ducken sich Herrn Aeschbachs Scheune und Stall. Drin steht Bobi, sein Pferd, das weisse Papierflocken frisst, «Zellulose», Ersatzheu, weiss ich; Pferdemägen können Zellulose verdauen. Diese Flocken werden von Maschinen hergestellt, aus Holz, um den Hafer zu strecken, denn es ist Krieg. Bobi frisst auch gelbes Heu; doch wenn der Bauer das Futter von hinten in den Trog schüttet, sticht mir im Halbdunkel des Stalls der Flockenschnee in die Augen. Dr. Ginella stellt mich auf den Kies; ein letzter Kosename, für mich allein erfunden: Häärzchäberli. Bereits sitzt er im Wagen. Im Wegfahren winkt er, und ich winke und lache zurück. Ich drehe mich um, trete durchs Törchen in den Garten und schlage mich irgendwo im Hintergrund, wo er, von Obstbäumen in hohem Gras verschattet, ans Bahnhofsgelände stösst, in die Büsche. Auf den Gleisen schnupft und pfupft ein Glettiiseli, eine der kleinen zweiachsigen Verschiebeloks. (Viertes Lebensjahr. Verschwunden der Garten, längst abgerissen Doktorhaus und Bauernhof. An ihrer Stelle stehen heute eine Bank und ein Supermarkt.) ?Alarmsirene und Schlachthaus ?Der Grossvater Zofinger Tagblatt, 1. Mai 1941 Fahrverbot für Automobile Besessenheit Ich bin vier oder fünf. Im Spiel fragt mich der Bruder: Was wosch lieber, es guldigs Nüüteli oder es silberigs Waarteli? Dabei hält er beide Hände hinter den Rücken. Ich will das goldene. Er holt die Rechte, zur Faust geschlossen, hervor, ich darf sie öffnen: nichts. Nun, so begnüge ich mich mit dem silbernen. Er holt die linke Hand hervor: wieder nichts. Betrogen! Der Schmerz lässt mich nicht ruhen, bis ich ihn im Traum wettmache. Meine Eltern haben mir zum Geburtstag ein kleines Beil geschenkt – aus purem Gold. Mich überschwemmt atemloses Glück. Ich trage das Beil im Gürtel. Ich spalte kein Holz damit, denn es ist Zeichen, Würde und Waffe, eine unantastbare Seligkeit. Wenn ich es betrachte oder schwinge, gehe ich in der matt glimmenden Makellosigkeit des Goldes auf. Am Abend lege ich das Wunderding auf den Nachttisch – und erwache. Ich taste im Morgenlicht danach und finde nichts, suche im Bett, unter dem Bett. Mir dämmert, dass ich geträumt habe. Die Trauer über diese Beraubung verschattet mich wochenlang. Mit sechs Jahren entdecke ich im Taschenkalender des Vaters die vier Mondphasensymbole: schwarze Scheibe mit eingezeichnetem Schlafgesicht für Neumond, senkrecht gestellter Türkenmond, nach links mit lachendem hellem, nach rechts mit griesgrämigem dunklem Gesicht für die zu- oder abnehmende Phase, heller Kreis mit lachendem Gesicht für Vollmond. Sogleich besetzen die Halbmonde meine Vorstellung in einem Mass, dass ich sie in jedem Gegenstand suche und das Bilderbuch vom Mond, der seine Fülle dem Wassermann verkauft, um jede Nacht dessen Gesang lauschen zu können, für kurze Zeit mein Liebling ist. Meine Zeichnungen von Wunderblumen bestücke ich mit Halbmonden; im Schlaf senken sich Monde golden leuchtend zu mir herab und umkreisen mich. Die kleine Welt meiner Erfahrungen tritt unter den Aspekt des Mondes; er steckt verborgen in allen Formen, ich versenke mich in den Lach- und den Greinmond, begegne dem Gestirn, das meinen Schlaf behütet, in meinen und andrer halbmondförmigen Augen, in Schatten und Sonnenkringeln, Mailänder Backwerk, Anisbrötchen, im Flug der Vögel. Wonne erfüllt mich bei jeder Entdeckung eines weiteren Mondverwandten, als hätt' ich plötzlich ein Rätsel, mir bisher unbewusst, gelöst. ?Astronomie ?Der Bruder ?Der weisse Pullover ?Statistik Lumpe legge Mitgefiebert habe ich, doch in lebhafter oder fröhlicher Erinnerung ist mir kein Kinderspiel. – Beim Lumpe legge stellte man sich im Kreis auf, blickte einwärts, jemand zählte an, und wen das letzte Wort traf, der lief aussen herum und liess im Rücken eines der im Kreis Stehenden ein Pfand, etwa sein Taschentuch, fallen. Merkte der Beschenkte dies nicht, bevor der Läufer seinen Platz im Kreis wieder eingenommen...



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