Hamburger | Die Fahrt aus der Haut | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Hamburger Die Fahrt aus der Haut

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85990-199-5
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-85990-199-5
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieter Lantmann, der Protagonist, fühlt sich als Aussätziger, weil das Schicksal ihn von Geburt an mit einem Gebrechen geschlagen hat. Schliesslich bricht er aus seinem geordneten Leben als Nachrichtensprecher aus, um mit einer nicht über jeden Verdacht erhabenen Frau unterzutauchen. Dieses Abenteuer führt ihn gesellschaftlich in den Ruin – und in eine skurrile Liebesgeschichte. Erst nach dem Sturz ins Nichts gelingt es ihm, sich nicht mehr von seinem Leiden bestimmen zu lassen.

Es geht aber auch um die Geschichte einer jüdischen Familie, die nicht jüdisch sein will und eines Tages von der Vergangenheit eingeholt wird.

Der Text hat autobiografische Züge, ist aber kein autobiografischer Roman. Die Handlung ist frei erfunden, doch wurden einzelne Personen ›nach der Natur‹ gezeichnet, und der Plot lässt sich zeitlich und örtlich lokalisieren: Der Roman spielt in Zürich und Prag ums Jahr 2000 und blickt zurück in die Ostschweiz der 1950er und 60er Jahre.

Ein Buch, prägnant geschrieben, packend zum Lesen, tragisch und komisch wie das Theater, das einst der Beruf des Ich-Erzählers war.

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Zielgruppe


alle


Autoren/Hrsg.


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1 Bevor mir Lina über den Weg gelaufen ist, habe ich mich nie mit Prostituierten eingelassen. Ein halbes Männerleben lang habe ich Nein gesagt, wenn sie mich auf der Strasse angeredet und angerempelt oder aus Fenstern mit Zischlauten abgelenkt haben. In welcher Stadt auch immer, und ich bin in vielen Städten gewesen, habe ich ihre Angebote freundlich, aber bestimmt abgelehnt, habe ihnen zugelächelt, Komplimente gemacht und sie dabei brennend begehrt, doch schliesslich bin ich erhobenen Hauptes weitergegangen. Nicht, weil ich nicht gewollt hätte. Nicht, weil ich keine Zeit oder kein Geld gehabt hätte. Nicht, weil ich feige gewesen wäre. Nicht aus sittlichen oder religiösen Gründen, sondern aus Stolz. Widerstehen zu können, gefiel mir. Indem ich Nein sagte, fühlte ich mich gut und bildete mir ein, ohne die käufliche Liebe auszukommen, denn ich sah die käufliche Liebe als letzte Zuflucht für Gescheiterte und Übriggebliebene. Darum ging es mir: nicht zu den Einsamen gezählt zu werden. Erst wenn man zu den Einsamen gezählt wird, sagte ich mir, ist die Einsamkeit ein Unglück. Ich habe mein Nein jedes Mal bereut und mir beim Weitergehen vorgestellt, in was für eine Absteige ich geführt worden wäre und was sich darin abgespielt hätte. Jedes Mal, wenn ich ein Angebot ablehnte, war ich tagelang beunruhigt. Später habe ich mir gesagt: Ich mag ein Krüppel sein, doch zu einer Hure gehe ich nicht. Seitdem ich mich erinnern kann, bezeichne ich mich, meines körperlichen Defektes wegen, als Krüppel, obwohl ich das Wort verabscheue. Es ist ein unmögliches Wort, aber ich gebrauche es, damit es andere nicht gebrauchen oder damit es, wenn es andere gebrauchen, mir nichts anhaben kann, als Impfung sozusagen, oder ich gebrauche es, um mit dem Schicksal zu hadern, um die Unebenheiten oder Unregelmässigkeiten meines Körpers masslos zu übertreiben, um mich bei den Göttern zu beschweren für das Leid, das sie mir zugefügt haben. Ich weiss, dass ich für meinen Körper dankbar sein sollte. Vielleicht müsste ich mich auserwählt fühlen als einer, der mit seiner Krüppelhaftigkeit auf die verkrüppelte Welt hinweist, auf die unsichtbaren Verkrüppelungen meiner Mitmenschen, aber es liegt mir fern, ein Heiliger zu sein. Mein Brustkorb sieht aus wie eine Burgruine oder eine umgekippte Achterbahn oder ein langgezogener Mondkrater. Die höchst seltene Kombination von Pectus carinatum und Pectus excavatum, in Begleitung einer subkutanen Hügellandschaft von kleineren und grösseren Geschwulsten, hat von meinem Arzt die Bezeichnung Pectus picassoensis bekommen – eine Anspielung auf die brutal zerhackten Figuren des Malers Pablo Picasso. Picassobrust. Mein Arzt liebt drastische Vergleiche. Er ist ein paar Jahre älter als ich und hat mir, als ich ihn einmal in einer Kneipe angetroffen und mit ihm ein Bier getrunken habe, das Du angeboten. Ich heisse Göpf, sagte er. In seinem Büro stehen und hängen die verschiedensten Grünpflanzen, die er manchmal giesst oder besprüht, während er mit mir spricht. Verdorrte Blüten und verkrüppelte Blätter entfernt er sorgfältig. Seit seiner Namensschöpfung laufe ich mit der Picassobrust herum. Sie hatte sich zwar in der Kindheit schon sanft angekündigt, aber erst in der Pubertät ausgeprägt. Während sich bei den Kameraden der knabenhafte Körper zu einem männlichen wandelte, begannen meine Rippen und mein Brustbein absonderliche Formen anzunehmen, Veränderungen, auf die ich lange nicht geachtet hatte, denn ich fühlte mich wohl dabei, hatte weder Atembeschwerden noch Gedächtnisstörungen noch Verdauungsschwierigkeiten. Erst als die andern mich darauf aufmerksam machten, ist mir etwas an meinem Körper aufgefallen, erst dann begann mich mein Aussehen zu stören. Du hast das jetzt einfach, wurde mir gesagt. Niemand kann etwas dafür. Mein Aussehen störte vor allem in der Badeanstalt, wo ich eine Kuriosität war und es auch heute wäre, wenn ich Badeanstalten aufsuchen würde. Heute jedoch meide ich Menschenansammlungen, wo keine Kleider getragen werden, meide ich zu meinem eigenen Vorteil Schwimmbäder, Hallenbäder, Heilbäder, Saunen, Solarien – jeden Ort, wo die Menschen in Schön und Hässlich eingeteilt werden. Nie werde ich an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen, nie an einer Mister-Wahl, nicht einmal zu einer Talk-Show wird man mich überreden können, und schon gar nicht werde ich mich mit einer Horde von Exhibitionisten in einen Container einsperren lassen und vor einer Fernsehkamera ins Bett gehen und schlafen und wieder aufstehen. Partnerwahl-Sendungen sind nichts für mich. Fernsehkameras kommen mir vor wie Raubvögel, die sich mit Nahaufnahmen auf die Studiogäste stürzen und diese entsetzlich blossstellen. Am besten gäbe es überhaupt kein Fernsehen und die Menschen wären blind. Dabei habe ich selber einmal fürs Fernsehen gearbeitet – als Off-Sprecher. Als Unsichtbarer. Ich gehe nicht einmal auf eine hundsgewöhnliche Geburtstagsparty, aus Angst, es könnte zur vorgerückten Stunde ein Pfänderspiel gespielt werden, bei dem man sich am Schluss bis auf die Unterhosen ausziehen muss. Ich würde allen den Spass verderben, und das will ich nicht. So bleibe ich zu Hause und bereue es, nicht hingegangen zu sein. Als ich Badeanstalten noch aufsuchte, weil ich Lust zu schwimmen hatte oder weil ich in der Badeanstalt Freunde treffen wollte, war es für mich immer eine Tortur. Verstohlen begaffte man mich, schaute weg oder wich mir aus; und einmal, ein einziges Mal, ist es vorgekommen, dass die Badenden, als ich ins Wasser sprang, das Bassin verliessen und ich das ganze Becken für mich alleine hatte. Mehrere Dutzend Leute, vor allem Kinder, standen um das Bassin herum und schauten mir beim Schwimmen zu, liessen mit ihren Blicken nicht von mir ab. Für diese Leute war ich ein Aussätziger, der das Wasser ihres schönen Schwimmbads verseuchte. Ich kam mir vor wie ein Tier im Zoo, wie ein böses Tier, und wäre nicht überrascht gewesen, wenn jemand mit dem Jagdgewehr auf mich geschossen hätte. Ich schwamm zweimal der Länge nach durch das Becken, hin und zurück – dies gönnte ich mir, weil ich gerne schwimme – und stieg aus dem Wasser heraus. Der herbeigerufene Bademeister kam mir entgegen und stellte mich zur Rede. Umringt von neugierigen Leuten, wohlgestalteten Männern und Frauen in Badehosen und Bikinis, fragte er mich, ob ich eine Geschlechtskrankheit hätte, und ich erklärte ihm, was ich in meinem Leben schon tausend Mal habe erklären müssen, dass es sich bei meinen Unebenheiten weder um Syphilis noch um Aids handle, sondern lediglich um wuchernde Bindegewebe, welche harmlos und schmerzlos und in keiner Weise ansteckend seien. So, nichts Ansteckendes, erwiderte der Bademeister misstrauisch, dann sei es ja gut, und liess mich stehen, und die Leute, nachdem sie mich noch eine Weile angestarrt hatten, entfernten sich ebenfalls. Als ich wenige Minuten später die Badeanstalt verliess – ich war schon fünfzig Schritte vom Ausgang weg –, lief der Bademeister hinter mir her, rief nach mir und sagte, als er mich eingeholt hatte, es wäre ihm lieber, wenn ich diese Badeanstalt nicht mehr beträte. Dabei schaute er an mir vorbei, und ich versicherte ihm, dass ich mich nie mehr blicken lassen würde. Ich wollte in ein Kloster gehen. Ich wollte mich in eine Irrenanstalt einweisen lassen. Einer meiner Bekannten war ein Jahr lang in einem buddhistischen Kloster in Tibet gewesen und hatte mir davon erzählt, aber ich wollte nicht nur für ein Jahr, sondern für immer verschwinden. An Selbstmord habe ich aber nie gedacht, nie wirklich und ernsthaft, doch habe ich eine makabre Lebensfreude entwickelt, indem ich mich, wenn andere starben, im Stillen freute. Der Anblick einer Zeitungsseite voller Todesanzeigen beruhigte mich, ohne dass ich sie las, und ich stellte mir vor, dass die Menschheit ausgestorben wäre und ich als Einziger überlebt hätte. Es ist nicht so, dass mich mein Aussehen dazu gebracht hat, das Angebot der Prostituierten abzulehnen. Der Moment der Entblössung wäre zu überwinden oder zu umgehen gewesen. Ich lehnte die Angebote der Prostituierten ab, weil ich nicht zu jenen gehören wollte, die es nötig haben, zu den Huren zu gehen, und schongar nicht zu jenen, die wegen eines körperlichen Defektes dazu gezwungen sind. Also sagte ich »Nein« oder »Nein danke« oder »Heute nicht« oder »Schön wärs«. Ich stellte mir vor, dass es mit einer Hure vielleicht nicht peinlich, sondern ein sensationelles Erlebnis sein könnte, und dass ich dann anfinge, ihre Angebote anzunehmen und schliesslich danach süchtig würde. Die Angst, bei den Huren hängenzubleiben, ist wahrscheinlich der wichtigere Grund gewesen, weshalb ich so lange, ein halbes Männerleben lang, gewartet habe, ein Angebot anzunehmen. Ich habe mich selbst erziehen und mir das Herumhuren verbieten wollen, mich lehren wollen, eine echte Liebesbeziehung zu einer Frau, die ich wahnsinnig begehren würde,...


Martin Hamburger, 1951 in St. Gallen geboren, gelernter Buchhändler, dann Schauspieler und Regieassistent. 1982 gründete er das Kabarett ›Duck Dich‹: Auftritte in der Schweiz, Deutschland und Österreich bis Ende 1990er Jahre. Heute arbeitet Martin Hamburger als Sprecher und Sprechausbildner.
Frühere Veröffentlichungen: Mut. Anfälle. New. York. Erzählungen (1999).



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