E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Hanselle / Marguier Im Demokratielabor
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83433-2
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ostdeutschland zwischen Freiheit und Populismus
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-451-83433-2
Verlag: Verlag Herder
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Bullshit und Unfreiheit Was die östlichen Bundesländer vom Westen wegtreibt
VON MATHIAS BRODKORB UND ALEXANDER MARGUIER
„Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört“, sagte Altkanzler Willy Brandt am 10. November 1989 in Berlin anlässlich des Mauerfalls auf die Frage eines Journalisten, was denn nun in ihm vorgehe. Zwar war allerorten bald von „Ossis“ und „Wessis“ die Rede. Aber es herrschte Zuversicht vor, dass alles nur eine Frage der Zeit sei. Der Wille zur Einigkeit scheint inzwischen aufgezehrt. Was eigentlich zusammenwachsen sollte, strebt mit Macht wieder auseinander. Am deutlichsten wird dies an den Zustimmungsraten der AfD: Im Westen erreicht die Rechtspartei bei Umfragen zwischen zehn und 15 Prozent, manchmal liegt sie auch etwas darüber. Im Osten dagegen ist sie auf dem Weg zur bestimmenden Volkspartei. In Sachsen und in Thüringen kam sie bei den Landtagswahlen vom 1. September 2024 auf 30,6 bzw. 32,8 Prozent. Und in den Umfragen zu den ostdeutschen Ländern liegt sie meistens auf Platz eins. Auch eine Erhebung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig aus dem vergangenen Jahr zeigt ein gespaltenes Land. Während sich mehr als 90 Prozent der Ostdeutschen zur Idee der Demokratie bekennen, sind mit ihrer Praxis nur knapp 40 Prozent zufrieden. Fast 80 Prozent leben in dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Vergessene Wendepersönlichkeiten
Um ein Gefühl für das Unbehagen gebürtiger Ostdeutscher mit den Verhältnissen im 34. Jahr nach der Wiedervereinigung zu bekommen, empfiehlt sich ein Treffen mit einem der Protagonisten der Wendezeit. Etwa mit Markus Meckel. Der Theologe war schon in den 1970er Jahren in der DDR-Opposition aktiv, im Herbst 1989 zählte er zu den Mitbegründern der Ost-SPD (SDP), für die er später mit am legendären Runden Tisch saß, wo über die Zukunft des sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staats verhandelt wurde. Meckel hat eine gewisse historische Berühmtheit erlangt als „letzter Außenminister der DDR“, dem Bundestag gehörte der heute 72-Jährige von 1990 bis 2009 an und spielte dort eine zentrale Rolle bei der DDR-Aufarbeitung. Es ist bezeichnend, dass Menschen wie Meckel in der offiziellen Erinnerungskultur kaum eine Rolle spielen. Im Gegensatz zu anderen Wendepersönlichkeiten – vornehmlich solchen aus dem Westen – wird man Meckel bei Einheitsfeierlichkeiten vergeblich suchen; dass er dorthin gar nicht erst eingeladen wird, nimmt er gelassen. Es gehe ihm nicht um seine Person, sagt er, wohl aber um den grundsätzlichen Respekt gegenüber seinen Landsleuten und Mitstreitern aus dem Osten. Bei öffentlichen Debatten über das innerdeutsche Verhältnis würden stets 80 Prozent der Bevölkerung über die restlichen 20 Prozent der Menschen im Osten des Landes reden: „Da tut sich ein gewaltiges Missverhältnis in puncto politischer Repräsentanz in der Öffentlichkeit auf.“ Die wenigen Monate auf Augenhöhe
Wenn Meckel auf die Wendezeit zurückblickt und Revue passieren lässt, was seither geschah, wirkt er kein bisschen verbittert – da entspricht er ganz dem Bild des optimistischen evangelischen Christenmenschen. Gleichwohl will er die Erzählung zur deutschen Wiedervereinigung, wie sie sich inzwischen schulbuchtauglich durchgesetzt hat, so nicht stehen lassen. Danach haben die mutigen Menschen auf den Straßen der DDR die Mauer zwar zu Fall gebracht – um hinterher aber wieder in der Anonymität zu verschwinden. „Und dann kam Helmut Kohl und hat die deutsche Einheit bewerkstelligt – das ist die übliche Wendegeschichte, um die herum noch ein paar Leute wie Gorbatschow oder der damalige US-Präsident George Bush gelobt werden.“ Fast vergessen ist heute, dass es nach dem 9. November 1989 noch vier Monate lang ebenjenen Runden Tisch gab, an dem er und andere DDR-Mitbürger auf der einen und Politiker aus der Bundesrepublik auf der anderen Seite den Einigungsvertrag ausgehandelt haben – strukturell also auf Augenhöhe. Meckels Fazit: „Der aufrechte Gang, mit dem wir damals selbstbestimmt in die deutsche Einheit gegangen sind, spielt in der offiziellen Erinnerungskultur so gut wie keine Rolle mehr.“ Das Handeln der Treuhand
Ein ähnliches Phänomen lässt sich rückblickend für eine andere Ebene konstatieren, nämlich die ökonomische. Meckel erwähnt die Treuhandanstalt. Er wolle „überhaupt nicht bestreiten, dass es diese Einrichtung brauchte, um die Volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren“. Die Treuhandanstalt war ja tatsächlich eine bereits nach der ersten freien Volkskammerwahl vom demokratisch legitimierten Parlament in Ostdeutschland gegründete Institution – die damals dem Amt des Ministerpräsidenten der DDR zugeordnet war. „Nach der Einheit wurde sie dann dem Bundesfinanzministerium unterstellt, weil man durch die Privatisierungserlöse vor allem die Kosten der deutschen Einheit decken wollte.“ Die ursprünglich volkswirtschaftlich-strukturpolitische Dimension der Treuhandanstalt sei dann rein betriebswirtschaftlichen Kriterien gewichen; „nur selten wurde saniert, was an verschiedenen Stellen durchaus sinnvoll gewesen wäre“, sagt Meckel. Später dann, nach den großen Privatisierungen, kamen andere Enttäuschungen hinzu. Meckels früherer Wahlkreis etwa war in der Uckermark, wo auch die Stadt Schwedt liegt – bereits zu DDR-Zeiten ein bedeutendes Zentrum der petrochemischen Industrie. „Nach der Wende wurden dort Milliardensummen investiert, aber die Steuern haben die Firmen weiterhin an ihrem Unternehmenssitz gezahlt, nämlich im Westen.“ Die Gemeinden vor Ort seien also praktisch leer ausgegangen. Stattdessen hätte man festlegen sollen: Der Standort der Investition ist auch der Ort, an dem die Steuern fällig werden. „Hier ging es um klare finanzielle und strukturpolitische Eigeninteressen der alten Bundesrepublik“, konstatiert Meckel. Der „Ausverkauf“ der Heimat
Dass der Westen der Republik Milliarden und Abermilliarden aufbrachte, um den Brüdern und Schwestern im Osten unter die Arme zu greifen, führte im Osten nicht nur zu Begeisterung. Was im Westen vielfach als mangelnde Dankbarkeit interpretiert wird, hat allerdings einen nachvollziehbaren Grund: Dem Einkommenstransfer an der Oberfläche stand ein Eigentumstransfer in den Tiefen der Gesellschaft mit umgekehrter Fließrichtung gegenüber. Auch den organisierte die Treuhandanstalt. Schon bald gehörten zahlreiche ostdeutsche Immobilien in Bestlage und sonstige Ländereien westdeutschen Unternehmen oder Rechtsanwälten und Ärzten. Vielen Ostdeutschen erschien das wie der „Ausverkauf“ ihrer Heimat. Über die nötigen finanziellen Mittel, um beim großen Reibach mitzumachen, verfügten sie nicht. Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hat mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ genau auf diese Tatsache aufmerksam gemacht: „In Leipzig gehören 90 Prozent des Wohneigentums Menschen aus dem Westen. Da finde ich es nicht abwegig, den Vergleich zur Kolonisierung zu ziehen.“[1] Die PDS als „therapeutische Partei“
Markus Meckel nimmt bis heute regen Anteil am politischen Geschehen, aktiv setzt er sich unter anderem für die deutsch-polnische Verständigung ein. Aber natürlich blickt er auch mit Sorge auf die rapide steigenden Zustimmungswerte für die AfD und auch das BSW in ganz Deutschland – ganz besonders im Osten. Parteien hätten dort bis heute einen schlechten Ruf, was zum einen an den damaligen Erfahrungen mit der SED liege. Aber eben nicht nur. „Zu DDR-Zeiten war die CDU im Osten ja eine Blockpartei, aber kaum war die Mauer gefallen, wurden an der Spitze der DDR-CDU ein paar Leute ausgewechselt – und schon war eine ,demokratische‘ Partei daraus geworden.“ Viele Male habe er im Bundestag erlebt, dass frühere Mitglieder der alten Block-CDU, vormals Funktionäre an der Seite der SED, die Abgeordneten der PDS wegen ihrer Vergangenheit beschimpften – die teilweise sogar aus dem Westen kamen, mitunter schwierige Positionen vertraten, aber eben nicht selbst SED-Mitglieder gewesen waren, erinnert sich Meckel: „Ich habe die PDS immer eine ,therapeutische Partei‘ genannt, denn sie hat denjenigen, die sich mit der parlamentarischen Demokratie schwertaten, in ebendieser Demokratie einen legitimierten Ort gegeben und sie daran gewöhnt.“ Inzwischen würden sich die Protestwähler, die ihre Stimme einst der PDS gaben, eher bei der AfD und dem BSW wiederfinden – „obwohl sie nicht darauf reduziert werden sollten“. Man stelle sich vor, die ostdeutschen Bundesländer wären heute ein eigenständiger Staat: „Dann wäre die Lage vermutlich ähnlich wie im Ungarn von Viktor Orbán oder wie jüngst noch in Polen mit der PiS-Partei.“ Eine komplexe Gemengelage, für die es keine einfachen, keine eindimensionalen Erklärungen und erst recht keine einfachen Lösungen gibt. Die fundamentalen Ost-West-Unterschiede
Wahrscheinlich hat man es daher auch gar nicht bloß mit einem Problem Ostdeutschlands zu tun. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev etwa versucht seit Jahren vergeblich, dem europäischen Westen das Problem zu erklären. Die osteuropäischen Staaten unterscheiden sich Krastev zufolge von den westlichen insbesondere auch dadurch, dass...