E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Hanstein Von Hirten und Schafen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8288-7262-2
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Missbrauch in der katholischen Kirche - Ein Seelsorger sagt Stopp
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-8288-7262-2
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Diakon und Referent in der Kirchenleitung kommt der promovierte Theologe Thomas Hanstein mit vielem bis dahin Ungeahntem in Kontakt und geht deshalb auf Abstand zum Kirchendienst. Im zweiten Jahr seiner Auszeit als Diakon erscheint dieses Buch.
Hanstein sieht im Missbrauch das Symptom einer speziellen Übergriffigkeit, die systemisch, amtstheologisch und kirchenrechtlich untermauert wird. Der Autor erklärt milieuspezifische Hintergründe von Machtmissbrauch und Übergriffigkeit in der katholischen Kirche auf verständliche Weise und regt zur Systemanalyse und Systemkorrektur der Amtskirche an.
Der Insider-Einblick in Strukturen, die Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigen, macht deutlich, warum es sich beim Missbrauchsskandal nicht bloß um eine Häufung von Einzelfällen handelt.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung Im zehnten Jahr „danach“ „Die Lüge ist wie ein Schneeball.
Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“ Martin Luther Missbrauchtes Vertrauen Sexueller Missbrauch war in jedem Einzelfall nur möglich, weil auf der sozialen Ebene zuvor Vertrauen missbraucht wurde. Unter jedem einzelnen konkreten Missbrauch liegt deshalb der Missbrauch eines Vertrauensverhältnisses. Dies ist verachtenswert, gänzlich unabhängig von der Funktion des Täters. Zusätzlich problematisch ist es, weil kirchliche Sprache und Verkündigung nicht ohne den Begriff des Vertrauens auskommen. Glaube und Vertrauen sind in der Bibel ein und dasselbe. Viele Bibelstellen sprechen von Vertrauen, vor allem auch, wenn es um Jesus und seine Jünger geht. So gesehen wurde durch den vielfachen Missbrauch und den darunterliegenden Vertrauensmissbrauch einer der basalen Pfeiler der Kirche zerstört – und damit nachhaltig ihre Glaubwürdigkeit. Die katholische Kirche ist zu einer sozialen Institution neben vielen anderen geworden. Sie mag nach wie vor mit einer deutlich höheren gesellschaftlichen Macht ausgestattet sein, ein besonderes Ethos und eine besondere Verpflichtung zu biblischem Handeln erwarten viele von ihr nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Die letzten Jahre haben gezeigt, dass man gegenüber der Kirche und ihren Vertretern einen gesunden Skeptizismus an den Tag legen sollte. So wie der Volksmund weiß: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Mit dem Hinweis, jemandem etwas anvertrauen zu können, verändert sich Beziehung. Der, der etwas erzählt, liefert sich aus, verlässt sich auf die Loyalität des Gegenübers. Berufe, in denen man viel von Menschen erfährt, benötigen daher Persönlichkeiten, die diese Qualität und ihre speziellen Anforderungen auch leisten können. Nicht jeder, der heutzutage zum Priester ordiniert wird, ist menschlich dazu in der Lage. Fraglich ist manches Mal, ob er in ähnlichen Berufen überhaupt eine Anstellung gefunden hätte. Kirchliche Arbeit an der Basis, also in Gemeinden und auch im Religionsunterricht des Elementarbereichs und der Sekundarstufe 1, nutzt Bibelgeschichten. Diese legitimieren Berührungen. Sie sind ein Zeichen für die Nähe Jesu zu den Menschen. Insofern ist das Verhältnis von Nähe und Distanz im System Kirche ein eigenes. Hier – als Kind und Jugendlicher – zu spüren, was angenehm ist und was sich unangenehm anfühlt, ist eine wichtige soziale Kompetenz, deren Relevanz durch den Missbrauchsskandal noch deutlicher geworden ist. Hausgemachte Aufklärung Man stelle sich folgenden Fall vor: Jemand wird angezeigt, in seinem Keller eine Leiche versteckt zu haben. Es bleibt nicht bei der Anzeige, die Polizei steht mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür. Der Mann öffnet. Die Polizei erklärt geduldig den Vorfall. Der Beschuldigte verspricht, seinen Keller nach einer Leiche zu durchsuchen und sich bei nächster Gelegenheit wieder bei der Polizei zu melden, und verabschiedet die Polizisten mit einem freundlichen Grinsen. Als die Deutsche Bischofskonferenz den Kriminologen Christian Pfeiffer mit der Aufarbeitung der ersten aufgekommenen Missbrauchsfälle beauftragte, war sie einen guten ersten Schritt gegangen. Man bekam das Gefühl, dass den Bischöfen ernsthaft an einer Aufklärung gelegen sei. Es dauerte nicht lange, und man verzichtete auf den externen Fachmann. Warum? Aus purer Angst, dass er zu viel ans Licht gebracht hätte? Im letzten Herbst erschien dann eine neue Untersuchung über den Missbrauch, die sogenannte MHG-Studie.14 Mit erschreckenden Zahlen. Wobei für kirchliche Insider das Wenigste davon neu gewesen sein dürfte. Das Erschreckendste daran war, dass die Dunkelziffer um ein beachtliches Maß höher eingeschätzt werden muss. Die Kirche hat einmal mehr von ihrer Autonomie Gebrauch gemacht und nur die Fakten geliefert, die sie liefern wollte. Damit hat sie gezeigt, dass sie sich als Kirche nicht in die Karten schauen lassen muss – von wem auch immer, komme was wolle. Die Forscher hatten weder Originalakten in den Händen noch Zugang zu den Archiven der Kirche. In einer Vielzahl der Fälle liegen gar keine Angaben vor. Daher beziehen sich alle Befunde „ausnahmslos auf das Hellfeld des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen der katholischen Kirche. Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt. Damit unterschätzen alle Häufigkeitsangaben die tatsächlichen Verhältnisse.“15 Kritiker sehen in der MHG-Untersuchung aus diesem Grund ein Gefälligkeitsgutachten, im besten Fall eine gut vorsortierte Auftragsarbeit. An dieser Stelle soll sich aber weder der Kritik an der Studie angeschlossen werden, noch können ihre Zahlen als repräsentativ und innovativ herausgestellt werden. Wichtig ist, dass es sich aktuell um die einzige auch von der Kirche anerkannte Untersuchung handelt, die erste Daten und diverse Hinweise liefert. In diesem Sinne ist sie heranzuziehen, wobei das (Nicht-)Wissen über das Dunkelfeld immer mitzudenken ist. Denn ihr Makel bleibt, ist aber nicht der Forschungsgruppe, sondern der Kirche zuzuschreiben – neben dem Makel, sich an Kindern und Jugendlichen vergangen und viele Fälle einfach unter den Teppich gekehrt zu haben. So muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, die Chance für den Beginn einer Aufarbeitung von Anfang an so beeinflusst zu haben, dass am Ende nur das herauskam, was man schlichtweg nicht mehr leugnen konnte. Und so hält die MHG-Studie selbst fest, „dass für die Untersuchungen relevante Personalakten oder andere Dokumente zu früheren Zeiten vernichtet oder manipuliert worden waren. Die exakte Zahl vernichteter oder veränderter Akten konnte nicht ermittelt werden.“16 Was bereits beim Dieselskandal vonseiten der Industrie – mehr oder weniger – funktioniert hatte, probierte die katholische Kirche bei einem viel brisanteren Thema ebenfalls aus. Die Botschaft lautet: Wer Deutungshoheit hat, dem ist nur schwer beizukommen. Nicht die Wahrheit und die Fakten sind entscheidend, sondern die Wirklichkeit, die jeweils konstruiert wird. Frage am Rande: Wie weit ist da der Schritt zu Donald Trumps alternativen Fakten? Aus dem Krisenmanagement ist bekannt, dass in einer ernsten Krisenlage eine transparente Kommunikation die einzig zielführende Option ist. Wer intransparent berichtet, öffnet nicht nur Fantasien und Verdächtigungen Tor und Tür, sondern hinterlässt den Eindruck, dass es noch viel schlimmer sein muss. In einem Flugzeug, in dem ein Brand bemerkt wird, dürfte der Hinweis, es gebe gerade „kleine technische Störungen“, nur zu Panik führen – davon abgesehen, dass er die Passagiere zu Unmündigen degradieren würde. Auf der Ebene des Menschenbildes würde dies eine notwendige ethische Diskussion in Gang setzen, auf der rechtlichen Ebene den Bruch des – aus dem Grundgesetz abgeleiteten – Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Und so stellen sich, im Blick auf die katholische Kirche, hier zwei Fragen: Wie viel gab es eigentlich noch zu vertuschen? Sind die realen Zahlen drei Mal oder dreißig Mal so hoch? Und: Ist die – mittlerweile inflationär wirkende – Beteuerung, man nehme das „Thema wirklich ernst“, unter diesen Umständen überhaupt noch glaubwürdig? Denn ernst genommen wurde vor allem eines: die Wahrung des eigenen Rufs (so gut das noch möglich ist). Die meiste Arbeit – auch im Kontext der Prävention, so wichtig diese doch ist – war bisher Reaktion, Symptomarbeit. Glaubwürdig nachhaltig kann das Thema Missbrauch, das kein zurückliegendes, „kein abgeschlossenes Phänomen“ ist, aber erst sein und werden, wenn es zugelassen wird, „das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten“17. Angeordnete Veränderungsprozesse Nicht zufällig dieselbe Zeitspanne, seit fast einem Jahrzehnt, werden in den Bistümern Deutschlands – wenn auch durchaus auf unterschiedliche Weise – die Kirchengemeinden mit geistlichen, strukturellen und organisatorischen Erneuerungs- bzw. Wandlungsprozessen auf Trapp gehalten. Die Maßnahmen binden viel Energie und sind – was von den Bischöfen so auch gesagt wird und nicht selten zu Frustration führt – ohne klare Ziele. Wenn man sich alle diese Prozesse, die seitdem „durchs Dorf getrieben“ worden sind, auf einer Deutschlandkarte anschauen würde, wäre von Struktur und identifizierbaren Themen nicht mehr viel zu sehen. Doch nicht das ist das Problematischste daran, sondern die Tatsache, dass die seit dem Jahr 2010 ausgerufenen Programme als reaktive Maßnahmen auf die Kirchenkrise und als Öffentlichkeitsmaßnahmen angelegt waren. Anstatt die Themen zu priorisieren, sich unter allen Bischöfen auf die wichtigsten zu einigen und diese dann wirklich mit Tat und Herz anzugehen, hat man auf die Autonomie der einzelnen Ortskirchen – und ihrer Ortsbischöfe – verwiesen und ein bald schon inhaltlich unübersichtliches Potpourri geschaffen. Gläubige und pastorale Mitarbeiter wurden mit abendfüllenden Gemeindeveranstaltungen beschäftigt, das System und seine Verantwortlichen wähnten sich veränderungsbereit, und insgesamt wurde sehr viel Geld ausgegeben. Wenn es dann doch auf die „heißen Eisen“ hinauslief – wen konnte dies wundern? –, wurde auf das Kirchenrecht und den Papst verwiesen. Entsprechende Fragen – Zölibat, Frauenordination etc. – stünden außerhalb dessen, was ein Bischof entscheiden könne. So lauteten die üblichen Bemerkungen an diesen Stellen. Wenn doch wenigstens die Kirchenoberen ihre persönliche Meinung hören ließen, anstatt sich hinter dem „Das war schon immer so“ zu verstecken – diese Kritik war...